Sonntag, 27. Juli 2025

Gassenvenus


Heute vor 195 Jahren begann die Pariser Julirevolution, sie dauerte drei Tage, die man später Les Trois Glorieuses nannte. Der Marschall Marmont soll seinen König retten, aber es gelingt ihm nicht. Der König flieht nach England und Louis Philippe von Orléans, der einmal unter dem Namen Ludwig Philippe de Vries Tanzlehrer in Friedrichstadt war, wird Bürgerkönig, roi citoyen. Delacroix, der das riesige Gemälde La liberté guidant le peuple im Herbst des Jahres malte, war nicht bei den Straßenkämpfen dabei. Aber er will seinen Beitrag zur Revolution leisten, das schreibt er im Oktober 1830 seinem Bruder: Pour le spleen, il s'en va grâce au travail. J'ai entrepris un sujet moderne, une barricade, et si je n’ai pas vaincu pour la patrie, au moins peindrai-je pour elle. Cela m'a remis en belle humeur

Das englische Wort spleen, das Verärgerung, Schwermut und Melancholie bedeuten kann (Melvilles Ishmael bekämpft seinen spleen, indem er zur See fährt), ist noch nicht so gebräuchlich in der französischen Sprache. Erst wenn Baudelaire von dem spleen redet, gelangt es in die Sprache. Delacroix konnte Englisch, er war in England gewesen und bewunderte die Bilder von Turner und Constable, von daher ist es nicht verwunderlich, dass er das Wort spleen benutzt. Auch die englischen Dandies bewunderte Delacroix, sein Modeideal wird so ausgesehen haben wie der Baron Schwiter, den er ganz in Schwarz malte.
Erstaunlicherweise hat Delacroix in diesem Blog noch keinen Post, aber er wird in vielen Posts erwähnt. Zum Beispiel in dem Post Richard Parkes Bonington, in dem Sie lesen können, dass er in England das Reiten erlernt hatte und von da an Pferde in seinen Gemälden eine Rolle spielen. Wie zum Beispiel das Pferd des König Rodrigo auf dem Cover des Katalogs der Bremer Kunsthalle. Die Ausstellung konnte man 1964 zu einem großen Teil aus eigenen Beständen gestalten, wer außer Paris konnte das schon? Es war aber außer den acht Gemälden, die die Kunsthalle besaß, nur sehr viel  Graphik zu sehen, La liberté guidant le peuple lieh Paris nicht aus. Mein bleibender Eindruck von der Ausstellungseröffnung war ein hanseatischer Gentleman, der zu seinem grauen Flanellanzug ein rot-weiß gestreiftes Hemd mit einem weißen Kragen trug. Das hätte dem Dandy Delacroix gefallen, der sich über das schlechte Schuhzeug von William Turner furchtbar aufregen konnte.

Das Bild, das Delacroix im Herbst 1830 malte, wurde im Mai 1831 im Palais du Luxembourg ausgestellt, tausende von Franzosen werden es sehen. Auch Heinrich Heine ist unter den Zuschauern, er wird über das Bild schreiben: Auf keinem von allen Gemälden des Salons ist so sehr die Farbe eingeschlagen, wie auf Delacroix' Julirevolution. Indessen, eben diese Abwesenheit von Firnis und Schimmer, dabei der Pulverdampf und Staub, der die Figuren wie graues Spinnweb bedeckt, das sonnengetrocknete Kolorit, das gleichsam nach einem Wassertropfen lechzt, alles dieses gibt dem Bilde eine Wahrheit, eine Wesenheit, eine Ursprünglichkeit, und man ahnt darin die wirkliche Physiognomie der Julitage.

Aber die barbusige →Freiheitsgöttin, die sich umwendet, damit wir ihr klassisches Profil sehen können, weckt bei ihm auch noch ganz andere Gedanken: Ich kann nicht umhin, zu gestehen, diese Figur erinnert mich an jene peripatetischen Philosophinnen, an jene Schnelläuferinnen der Liebe oder Schnelliebende, die des Abends auf den Boulevards umherschwärmen; ich gestehe, daß der kleine Schornsteincupido, der, mit einer Pistole in jeder Hand, neben dieser Gassenvenus steht, vielleicht nicht allein von Ruß beschmutzt ist. Die Marianne als Gassenvenus, damit sind wir bei den Frauen, die schon in den Posts les grandes horizontales und Demimonde vorkommen. Heine ist nicht der einzige, der ein wenig Schmutz in dem Bild sieht. Es finden sich auch französische Stimmen, die ähnliches sagen: Dieu qu'elle est sale!, Dévergondée, La plus ignoble courtisane des plus sales rues de Paris! oder Est-ce qu'il n'y avait que de la canaille à ces fameuses journées-là? 

Carola Dorner hat diese Gedanken unter der Überschrift Liberté: Göttin, Hure, Mädchen aus dem Volk aufgegriffen: Wer aber ist diese zentrale Figur, die dem Bild so viel Kraft und Bewegung gibt? In der Liberté, der Allegorie der Freiheit, verdichtet sich vieles, was für das ganze Bild gilt. Als Göttin der Freiheit müsste sie eigentlich ein Ideal sein. Doch schon Heinrich Heine, der das Gemälde auf dem Pariser Salon 1831 ausgestellt sah, brachte es auf den Punkt: Er sieht sie gleichermaßen als Freiheitsgöttin und Gassenvenus, sie ist die personifizierte 'wilde Volkskraft', das Mädchen aus dem Volk und die griechische Göttin. Ihr Profil gleicht dem auf einer antiken Münze, das Kleid ist verrutscht und lässt ihren Oberkörper frei, wir sehen die staubbedeckten Brüste und die behaarte Achselhöhle. Es war ein Skandal. Und ein Triumph. Diese Göttin der Freiheit war nicht abgehoben, sauber, marmorsteril, sondern kraftstrotzend, natürlich und entschlossen. Deshalb bietet sie so viele Identifikationsmöglichkeiten. Deshalb dient sie als Abziehbild der Freiheit. Weil ihr Profil an alte Münzen erinnert, wirkt es schlüssig, dass sie ab 1978 auf dem 100-Franc-Schein abgebildet war. Die Freiheit für den Geldbeutel, das Bild der halbnackten Heldin im ständigen Umlauf.

Auf dieser Ölskizze von Delacroix sieht das Ganze noch nicht so großartig aus. Die Skizze wurde 2017 bei Christie's zur Auktion angeboten, sie wurde auf einen Preis von 700.000 Pfund bis zu einer Million geschätzt. Der französische Staat kaufte sie für 3,1 Millionen englische Pfund. Delacroix hatte für sein Bild 1831 klägliche dreitausend Franc vom Innenminister bekommen. La liberté guidant le peuple wird nicht lange im  Palais du Luxembourg bleiben, auch dem Bürgerkönig, der durch die Les Trois Glorieuses an die Macht gekommen war, ist es zu politisch. Das Bild wird zwar manchmal wieder gezeigt, verschwindet aber immer wieder im Depot. Erst seit 1874 hat es seinen festen Platz im Louvre.

Die Marianne des Jahres 1968 ist nicht barbusig, sie schwenkt die Flagge Vietnams, nicht die Frankreichs. Und sie ist auch keine Französin, sie kommt aus der englischen High Society. Als ihr Großvater das Bild sieht, enterbt er sie. Sie verliert den Anspruch auf einige Millionen Pfund Sterling. Die Analogie des gestellten Photos zu Delacroix' Bild hat jeder gesehen, auch Caroline de Bendern, die über Mademoiselle Liberté gesagt hat: I should have bared my breast. She had such awesome breasts. Caroline (zu der ich hier einen interessanten Artikel habe) lebt heute in Frankreich.

Ein Jahr nach den Maiunruhen 1968 beschlossen Frankreichs Bürgermeister, dass die Symbolfigur das Gesicht einer real existierenden Französin bekommen sollte. Die erste Marianne wurde Brigitte Bardot,, die zweite Mireille Mathieu, hier können wir die beiden nebeneinander sehen. Catherine Deneuve war dann die nächste, dann kamen Laetitia Casta, das Mannequin Inès de la Fressange und Evelyne Thomas, und ich weiß nicht wer noch alles. Wenn Sie alle sehen wollen, dann klicken Sie diese Seite an.

Die Verkörperung der Freiheit ist heller geworden, man hat Ende 2023 das Bild aufwendig restauriert. Acht Schichten von Firnis und Restaurationen hat man abgetragen. Restaurer le patrimoine que nous conservons pour le transmettre au plus grand nombre est l’une de nos missions les plus fondamentales. Grâce au patient travail accompli par Bénédicte Trémolières et Laurence Mugniot, 'La Liberté guidant le peuple' a aujourd’hui retrouvé l’éclat, la fraîcheur et la merveilleuse harmonie de couleur si propre à Delacroix. Je me réjouis que nos visiteurs puissent découvrir ou redécouvrir cet immense chef-d’œuvre de la peinture du XIXe siècle, tout à la fois icône universelle, symbole de notre pays et ambassadrice de sa culture et de son histoire, hat Laurence des Cars, der Direktor des Louvre, im April 2024. gesagt. Wir wollen mal hoffen, dass das die nächsten zweihundert Jahre so bleibt.

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