Der sprach- und seitengewaltige Roman Die Kinder der Finsternis war das letzte Werk, das zu den Lebzeiten des Schriftstellers erschien. Der Roman erzielte eine Vielzahl von Neuauflagen und wurde unter dem Titel The Badger of Ghissi ins Englische übersetzt. Nach dem Tod von Niebelschütz erschien noch eine Vielzahl von Büchern, da seine Witwe Ilse von Niebelschütz unermüdlich dabei war, den Ruhm ihres Ehemanns zu mehren. So erschienen Freies Spiel des Geistes (1961), Gedichte und Dramen (1962), Die schönen Bücher (1970), Über Dichtung (1979), Über Barock und Rokoko (1981), Barbadoro (1982) und Auch ich in Arkadien (1987). Und als letztes kam 2024 der Band Ein Geisterfrühstück: Impressionen & Divertimenti heraus. Ich habe hier ein ausführliches →Verzeichnis aller Schriften. Der Germanist Detlef Haberland hat 1990 in der Zeitschrift Philobiblon eine Bibliographie der Schriften von Niebelschütz veröffentlicht.
Und da heute der 22. Juli ist, der ja ein Samstag, der 19. Juli 2025 ist, habe ich von Niebelschütz noch ein Gedicht. Er hat viele Gedichte geschrieben, aber ich habe mit denen meine Schwierigkeiten. Nicht mit Auch ich in Arkadien, mit den anderen Gedichten. Mein Exemplar von Sternen-Musik: Gedichte 1942 - 1951 hat eine beigelegte Mitteilung der Bibliophilen Gesellschaft in Köln, in der der Leser erfährt, dass Ilse von Niebelschütz die ganze Restauflage des Suhrkamp Verlags aufgekauft und verschenkt hat. Viele Werke von Niebelschütz sind als Privatdruck oder in kleinen Auflagen erschienen. Mein Exemplar von Die schönen Bücher war 1970 eine Jahresgabe der Buchhandlung Walter G. Mühlau. Irgendwo in dem Buch, das ich im Augenblick nicht finden kann, findet sich der Satz Dichten heißt schön lügen, den habe ich mir gemerkt. Ich weiß jetzt nicht, wieviel Lüge in dem Gedicht Vergangene Liebe ist:
Vormals, eh ich noch liebte, sah ich dich wahrer,
Später machte dein Duft mich blind –
Da er mir wehte, um wieviel glaubt ich ihn klarer,
Reiner als Nacht, als Schnee und Wind.
Aber vorzeiten – da sah ich uns schon zusammen,
So wie wir heut beieinander gehn:
So auf der Asche von ganz erloschenen Flammen,
Einsam entfremdet und ohne Verstehn.
Seh ich ins Auge dir, seh ich in deinen Grund,
Keine Flammen glühten dort je für mich,
Ach, und die meinen vergehn, die dir nichts galten.
Aber so rein und stille verzehrten sie sich
Daß ich dich nie in Armen gehalten,
Nie deinen Atem gespürt, deinen Mund.
Das Gedicht stammt aus dem Band Die Musik macht Gott allein, der 1942 bei Suhrkamp erschien. Damals saß der Feldwebel Niebelschütz in der Schreibstube in Paris und schreibt an seinem Barockroman Der blaue Kammerherr. Eine Flucht aus dem Krieg in eine ganz andere Zeit. Eine Flucht aus der Behördensprache in eine ganz andere Sprache. Dank einer Sehbehinderung ist er vom Frontdienst befreit, er hat einen schönen Krieg, er kann als Flaneur durch Paris wandern, das können wir in Ein Geisterfrühstück lesen. Das wieder zuerst so ein Privatdruck bei der Bear Press in einer Auflage von 150 Exemplaren erscheint, von denen zwölf Luxusausgaben sind.
Heute sehen Liebesgedichte anders aus als das Vormals, eh ich noch liebte, sah ich dich wahrer, ich habe da noch etwas Schrilles bei Alban Nicolai Herbst gefunden. Der ist in meinem Blog schon in dem Post der blaue Koffer erwähnt worden. Er hat einen bewundernswerten Blog, in dem er auch über Niebelschütz schreibt. Bisweilen lese ich gern in Wolf v. Niebelschützens als feudalistisch verpönten Schriften, – mit den gemischten Gefühlen, selbstverständlich, eines durch die Demokratie Geprägten, beginnt er 1992 seinen →Essay über Niebelschütz. Über den er auch das Hörstück →Der Blauen Blume lieblichster Spott geschrieben hat. Ich las mich in seinem Blog fest und fand Teile des →Gedichtbandes →Die Brüste der Béart. Davon muss ich unbedingt etwas zitieren. Und Emmanuelle Béart (hier mit Photos aus ✺La Belle noiseuse) gibt es auch noch dazu:
Oh Verführung ohne Berührung, bis wir berühren,
bis wir es packen
Oh Berührung ohne Fleisch, Inkarnation ist das Fleisch:
Rück-Auferstehung in Schlamm, daß wir drin wühlen –
Rück-Auferstehung in Schlamm, daß wir drin wühlen –
Tausende macht sie begehren, immer dieselbe, die sein kann,
weil sie nie ist:
Ich sah sie bei Penny,
Marlboro Light
Coca Cola
Tampons,
sie schritt, beschaute die Regale,
eine griechische Göttin, allein der Kinderwagen störte, durch
Ich sah sie bei Penny,
Marlboro Light
Coca Cola
Tampons,
sie schritt, beschaute die Regale,
eine griechische Göttin, allein der Kinderwagen störte, durch
mein Gesicht.
Ich sah sie in der Bar, sie strahlte vor Dummheit und
Ich sah sie in der Bar, sie strahlte vor Dummheit und
Kauflust.
Ich sah sie hinterm Schalter der Bank, besonnt von der
Ich sah sie hinterm Schalter der Bank, besonnt von der
Nacht.
Ich sah sie am Pariser Platz Baustellen fotografieren;
topless lag sie am Ufer der Spree, die wie sie ganz Idee war
(Ich rede, ein für alle Male, nicht von der Liebe.
Ich rede von Orpheus, Béart):
der Fluß wie die Regnitz, Nil in der Donau von Linz,
das Krokodil und der Tiger; wir hinter Gittern,
durch die uns Helena ansieht: annunziata,
wir und die Stäbe zwischen dem Engel und ihr –
Ich sah sie Ticketts kontrollieren, sah im Konzert ihren Körper,
die Augen geschlossen, lauschen; auf ihrem Kleid lag die Hand;
auf der Hand eine andere, männliche, Venen wie Vipern,
wenn sie sich lieben, in Knäueln, die beißen;
– sah sie sich bücken, als ihrer Ferse das Nylon riß;
momentlang, als sie sich bückte, der Schimmer von Fleisch
zwischen Gummi und String, ihr Finger strich an der Masche;
sah sie zu Hunderten, Eine, in jeder Haut und Ethnie,
sah dich in alleden meinen, Béart, mir verlorenen Frauen,
die dich verloren, denn hundertköpfig has your house
many mansions, die du hingehst, uns vorzubereiten.
Über den Duft deines Nackens schreitet uns die Zeit ab
unter dem Landvermesser, der mit dem Zirkel einsticht;
die Mannvermesserin probte das Gen wie den Wein,
den sie in der rasant ausgeworfenen Netzhaut kaute:
das war bei Hertie; testosteronale Lage und Traube;
zog schon das Netz wieder ein, legte die Beute aufs Band
und bezahlte Marlboro Light, Coca Cola, die Tampons –
Ich sah sie am Pariser Platz Baustellen fotografieren;
topless lag sie am Ufer der Spree, die wie sie ganz Idee war
(Ich rede, ein für alle Male, nicht von der Liebe.
Ich rede von Orpheus, Béart):
der Fluß wie die Regnitz, Nil in der Donau von Linz,
das Krokodil und der Tiger; wir hinter Gittern,
durch die uns Helena ansieht: annunziata,
wir und die Stäbe zwischen dem Engel und ihr –
Ich sah sie Ticketts kontrollieren, sah im Konzert ihren Körper,
die Augen geschlossen, lauschen; auf ihrem Kleid lag die Hand;
auf der Hand eine andere, männliche, Venen wie Vipern,
wenn sie sich lieben, in Knäueln, die beißen;
– sah sie sich bücken, als ihrer Ferse das Nylon riß;
momentlang, als sie sich bückte, der Schimmer von Fleisch
zwischen Gummi und String, ihr Finger strich an der Masche;
sah sie zu Hunderten, Eine, in jeder Haut und Ethnie,
sah dich in alleden meinen, Béart, mir verlorenen Frauen,
die dich verloren, denn hundertköpfig has your house
many mansions, die du hingehst, uns vorzubereiten.
Über den Duft deines Nackens schreitet uns die Zeit ab
unter dem Landvermesser, der mit dem Zirkel einsticht;
die Mannvermesserin probte das Gen wie den Wein,
den sie in der rasant ausgeworfenen Netzhaut kaute:
das war bei Hertie; testosteronale Lage und Traube;
zog schon das Netz wieder ein, legte die Beute aufs Band
und bezahlte Marlboro Light, Coca Cola, die Tampons –
Zwei deutsche Dichter durch ein halbes Jahrhundert getrennt, beide aus deutschem Adel, zwei Liebesgedichte, die kaum lyrische Gemeinsamkeiten haben. Niebelschütz schreibt ein wenig wie Hugo von Hofmannsthal; ein Autor, den er mag, das kann man dem Vortrag entnehmen, der in Freies Spiel des Geistes abgedruckt ist. Und Alban Nikolai Herbst (der bürgerlich Alexander Michael von Ribbentrop ist) schreibt so, wie er schreibt: unnachahmlich.
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