Montag, 25. April 2016

Am Erker


So sieht sie aus, die Literaturzeitschrift Am Erker Heft 35, mit einer gelborangenen Bauchbinde, die uns versichert, dass man 1998 den Hermann Hesse Preis für deutschsprachige Zeitschriften bekommen hatte. Normalerweise lasse ich diese Literaturzeitschriften ja liegen, ich habe sie Jahrzehnte lang gekauft, gelesen, sogar für manche geschrieben - ich will das nicht mehr. Meistens enthalten sie nur zwei, drei gute Sachen. Und liegen dann nur herum. Es sei denn, es ist eine Sondernummer wie die Nummer 199 von Die Horen, die ➱Albert Vigoleis Thelen gewidmet ist. Die gibt man natürlich nicht aus der Hand.

Dies ist der Band 54, erschienen zum 30-jährigen Jubiläum der Zeitschrift. Als man im Im Dezember 1977 anfing, kriegte man mal gerade ein 28-seitiges DIN-A5-Heftchen hin, jetzt ist es schon eine respektable Zeitschrift. Der Herausgeber heißt übrigens Fiktiver Alltag und ist ein Verein zur Förderung von Literatur. Am Erker Nummer 35 ist ein Themenheft, das der Musik gewidmet ist. 1998 kostete es zwölf Mark, jetzt kostete es bei meinem Hinterhofhöker einen Euro. Ich blätterte in dem Heft. Und fand Katja Setzers Geschichte Der Klavierunterricht. Die mit den Sätzen beginnt:

Mittwochs, immer pünktlich um sechs Uhr, kam der Klavierlehrer ins Haus. Pünktlich um Viertel vor sechs forderte meine Mutter mich auf, etwas Nettes anzuziehen. Wenn man elf Jahre alt ist, heißt das in etwa die Lieblingslatzhose mit dem Nilpferdchen auf der rechten Pobacke gegen ein Hängerkleidchen ohne Nilpferdflicken, dafür aber mit dunklem Karomuster, und eine weiße Bluse, die am Hals kratzt, einzutauschen. Ich habe nie widersprochen, nicht weil ich meiner Mutter nie widersprach, sondern weil pünktlich Viertel vor sechs bereits die Angst einsetzte... Es ist eine kurze Geschichte. Eine böse Geschichte. Die mit den Sätzen endet: Aber irgendwie gingen die Stunden immer zu Ende. Bis zu jenem Mittwoch, als meine Mutter mit dem Kaffee in dem Moment in die Stunde platzte, als Herr Bechtel wieder einmal meine Haltung korrigierte.

Wenn Sie hinter dem Haltung korrigierte etwas Schlimmes vermuten, dann haben Sie recht. Sie müssen sich das Heft 35 schon kaufen, der Text ist nicht im Internet. Über die Autorin Katja Setzer aus Hamburg ist auch so gut wie nichts im Internet. Sie hat 1999 in Hattingen einen Literaturpreis gewonnen, das ist alles. Eine hervorragend geschriebene Geschichte wie Der Klavierunterricht hätte das Sprungbrett für eine Karriere sein können, aber was ist? Das Schwimmbecken der Nachwuchsliteratur scheint verwaist, Katja Setzer klettert offenbar nicht ein zweites Mal auf den Sprungturm. Dabei hatte sie die Badeordnung doch gelesen:

Ihr, die ihr schreiben wollt, vor allen Dingen,
wählt einen Stoff, dem ihr gewachsen seid
und wäget wohl vorher, was eure Schultern
vermögen oder nicht, eh' ihr die Last
zu tragen übernehmt. Wer seinen Stoff
so wählte, dem wird’s an Gedanken
und Klarheit nie, auch nie an Ordnung fehlen;
und unter manchem Vorteil, der durch Ordnung
gewonnen wird, ist sicher keiner von
den kleinsten: daß man immer wisse, was
zu sagen ist, doch vieles, was sich auch
noch sagen ließe, jetzt zurückbehalte,
und für den Platz, wo man's bedarf, verspare.


Junge Schriftsteller sollten eine Seite im Internet haben, damit sie bekannt werden. Ihre Kollegin Viktoria Lösche, die auch in dem Band 35 ist, macht das richtig, die hat eine ➱Seite. Zum Thema Klavierunterricht hätte ich ja das Gedicht nehmen können, das in dem Post ➱C.K. Stead steht (warum liest eigentlich niemand diesen Post über einen der wichtigsten Dichter Neuseelands?), aber das ist schon Vergangenheit. Das ist das Blöde bei Blogs, nur das Neueste steht vorne, nicht das Wichtigste oder das Schönste. Ach, ich zitiere die Strophen mit dem Klavier von C.K. Stead noch einmal:

'Third finger! Third finger!'
That was the voice
from two rooms away.
I'd used second finger
or fourth.

That's how it was
having your teacher in the house
while you practised.

Not that the note was wrong,
just the finger.
How could she tell?

I was her worst pupil,
her biggest disappointment -
perfect pitch
and some failure of hand and eye.

Never mind, Mum,
you trained my ears.

They're listening still.

Und aus dem Heft Am Erker Nummer 35 wähle ich mir das Gedicht von Viktoria Lösche Musik für Obertonstimme, zwei Saxophone und Percussionsinstrumente, das ist ein schöner Titel:

es ist samt der uns hüllt
mit den farben des nachthimmels
über den dächern

es ist das rollen des aufgehenden
gongs ein sanftes gewitter
blitzschnell die zunge am ohr

während es klopft tropft
rennt und rinnt reden
die schnabelmenschen sich

in die nähe der Stille
ein trigespräch im gehen im regen
es handelt von dir und dir

und es ist samt der uns hüllt
mit den farben des nachthimmels
über den dächern

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