Sonntag, 29. August 2021

Picquigny


Das ist die Somme bei Picquigny, gemalt von Camille Corot. Irgendwann in den 1860er Jahren, es ist noch kein Krieg, die Deutschen sind noch nicht da. Die kommen erst 1871. Und 1916, dann wird es hier an der Somme die verlustreichste Schlacht des Ersten Weltkriegs geben. Davon kann man auf dem idyllischen Bild von Corot nichts sehen. Wenn man genau hinschaut, kann man in der Bildmitte im Hintergrund die Reste des Schlosses von Picquigny sehen, das hatte auch einmal eine Bedeutung in der französischen Geschichte. Weil hier in Picquigny die Könige von Frankreich und England am 29. August 1475 einen Krieg beendeten, der hundert Jahre gedauert hatte. Allerdings nicht im Schloss, das jetzt gerade zum Verkauf steht, sondern auf einer Brücke über die Somme.

Ich weiß, wo Picquigny ist, ich war da schon mal. Das war im Sommer 1959, es war ein heißer Sommer, beinahe jeden Tag dreißig Grad. Das Wasser der Somme lud zum Schwimmen ein. Ich war mit der Jugendgruppe meiner Kirchengemeinde in einem kleinen Ort namens Ailly-sur-Somme, fünf Kilometer von Picquigny entfernt. Wir räumten den deutschen Soldatenfriedhof auf, das Programm hieß Versöhnung über Gräbern. Die Franzosen mochten uns. Die hatten hier nichts gegen die Deutschen, die hassten die Amerikaner. An jeder kahlen Mauerwand, an der keine Dubonnet Reklame klebt, steht: Ami go home! Das habe ich schon in dem Post Notre Dame d'Amiens geschrieben. Unsere Gruppe wurde geleitet von unserem Diakon Klaus Nebelung und dem Gemeindehelfer Detlev Schark aus der Lesumer Nachbargemeinde. Der war im Zweiten Weltkrieg Feldwebel in Frankreich, hier in der Picardie. Er kann Französisch. Er mag die Franzosen, die Franzosen mögen ihn und uns. Ich stelle hier einmal etwas ein, was schon 2014 in dem Post Gräber stand:

Kurz vor Picquigny, in Belloy-sur-Somme, machen wir unter einem Baum vor einem kleinen Chateau Rast. Der Gemeindehelfer Schark geht zum Chateau. Er kommt nach einer halben Stunde mit einem livrierten Diener wieder, sie tragen Körbe voll Weißbrot, Schinken und Wein. Der Diener mit der rot-schwarz gestreiften Weste hat sogar an weiße Tischdecken gedacht, die er vor uns auf dem Boden ausbreitet. Es wird mir klar, warum das Organisationsgenie Schark im Zweiten Weltkrieg so gut mit den Franzosen ausgekommen ist. Das Chateau von Belloy, das wir hinter den Bäumen des Parks nur schemenhaft sehen, hat für mich etwas Unwirkliches, wie auf einem Bild von Magritte. Später wird man da einen Film mit Klaus Kinski drehen, heute ist es ein Hotel. Alle magischen Orte der Jugend bekommen mit der Zeit in der Realität etwas Profanes, in der Erinnerung bleiben sie märchenhaft....

Bei einem unserer längeren Märsche werde ich in Picquigny auf der Geestkante sitzen und in das Sommetal hinunterblicken. Vielleicht ist es die gleiche Stelle, die Laurence Sterne in Sentimental Journey beschreibt. Eine Million Soldaten sind an der Somme gestorben. Die Niederung der Somme leuchtet in sattem Grün, auf den langsam vergilbenden Photographien meines Opas ist alles chamois-bräunlich. In Deutschland ist gerade die Bundeswehr gegründet worden. 12.900 Offiziere werden im Jahre 1958 noch aus der Wehrmacht stammen. Mein Großvater war hier in Frankreich im Ersten Weltkrieg, mein Vater im Zweiten. Jetzt bin ich hier: Versöhnung über Gräbern. Ich komme nicht auf die Idee, dass ich fünf Jahre später als junger Fähnrich in Frankreich sein werde, einer der ersten deutschen Soldaten nach 1945. Das ist eine seltsame Sache. 

Der englische Soldatenfriedhof von Picquigny war sauber und gepflegt, an dem kleinen deutschen Friedhof in Ailly fünf Kilometer weiter war seit 1945 nichts getan. Die Engländer ehren ihre Toten, pflegen ihre Friedhöfe. Alle haben den schönen grünen Rasen, den gleichen weißen Stein; der Generalmajor, der hier in Picquigny liegt, ebenso wie der einfache Soldat. Die Engländer machen das wahr, was Rupert Graves gedichtet hat: If I should die, think only this of me: That there’s some corner of a foreign field That is for ever England.

Aber es hat hier an der Somme auch schon einmal einen Krieg gegeben, der kaum Menschenleben gefordert hat. Dafür müssen wir allerdings bis ins Jahr 1475 zurückgehen, als es den Frieden von Picquigny gab. Der englische König Edward IV (hier mit einem schwarzen Barett) ist mit zehntausend Soldaten nach Frankreich gekommen. Weil er auch König von Frankreich ist, so nennen sich die englischen Könige seit Edward III. Erst George III hat 1801 auf diesen obsoleten Titel verzichtet. Edward kann es sich eigentlich nicht leisten, Frankreich anzugreifen, weil zuhause der Rosenkrieg tobt, aber er hat einen Verbündeten in Frankreich. Das ist Charles de Bourgogne, den wir im Deutschen auch unter seinem Spitznamen Karl der Kühne kennen. Er ist der Schwager von Edward und er verspricht ihm im Vertrag von London, ihm mit einem Heer zur Seite zu stehen. Denn die Gegend an der Somme interessiert ihn schon, es ist der äußerste Zipfel seines Reiches, im Vertrag von Arras waren seinem Vater hier einige Orte zugesprochen worden. 

Vor fünf Jahren war er mal wieder hier und eroberte das Chateau von Picquigny, weil er Amiens in seine Gewalt bringen wollte, aber daraus ist nichts geworden. Jetzt trifft er seinen Schwager in Calais, das seit 1347 in englischer Hand ist Aber er bringt keine zehntausend Soldaten mit, die zehntausend Soldaten belagern gerade Neuss. Von Neuss bis zur Somme ist ein weiter Weg. Edward wollte diesen Krieg nicht, er soll angeblich schon im Geheimen den französischen König darüber informiert haben, dass er nur nach Frankreich gekommen sei, um seine militanten Anhänger zu befriedigen, die unbedingt einen Krieg mit Frankreich wollen. Der Burgunder überredet den englischen König, nach Reims zu ziehen, um sich dort krönen zu lassen. 

Reims ist symbolisch immer wichtig. Adenauer und De Gaulle haben hier die deutsch-französische Freundschaft, zu der das Programm Versöhnung über Gräbern auch beigetragen hat, mit einer Versöhnungsmesse besiegelt. Adenauer, der unserer Gruppe zufällig in Reims begegnete, hat damals der Ehefrau des Diakons Klaus Nebelung einen Hundertmarkschein in die Hand gedrückt, als er hörte, was wir hier in Frankreich machten. Es hält sich hartnäckig das Gerücht, dass sein Außenminister von Brentano nur ein Fünfmarkstück locker machen wollte.

Der englische König wird auf seinem Weg nach Reims in Saint-Quentin von Louis I. de Luxembourg aufgehalten, dem Connétable de France. Das ist ein ganz seltsamer Intrigant. Er wird ein Jahr später dem englischen König einen Brief schreiben, in dem er ihn anklagt, ein cowardly, dishonoured and beggarly king zu sein. Edward schickt den Brief an den französischen König, ein Jahr später wird Louis de Luxembourg auf dem Place de Grève (wo auch Cartouche der Bandit zu Tode kam, den wir aus dem  Belmondo Film kennen) geköpft. Als hier 1792 die erste Guillotine aufgestellt wurde, war das Publikum so enttäuscht von der Schnelligkeit der Prozedur, dass es am nächsten Tag einen Gassenhauer gab: Rendez-moi ma potence de bois, rendez-moi ma potence (Gebt mir meinen Galgen zurück). 

Edward IV, der durch Heirat ein Neffe von Louis de Luxembourg ist, hat keine Lust mehr auf diesen Feldzug, er schickt seine Diplomaten los, die einen Friedensvertrag mit Louis XI aushandeln. Ohne den Charles aus Burgund, ohne den Louis aus Luxemburg. Damit der Hundertjährige Krieg endlich ein Ende hat. Er kündigt sein Bündnis mit Charles von Burgund auf, verpflichtet sich, nie wieder Frankreich anzugreifen, und er bekommt viel Geld dafür. Sehr viel Geld. In allen Schriftstücken des Vertrags bezeichnet er sich als King of France, Louis XI ist für ihn our dearest relative the most illustrious prince, Louis de France. Louis lässt das durchgehen. Auch dass Edward beim Vertragsabschluss mit einer silbernen fleur de lys auf seinem schwarzen Barett erscheint, lässt man ihm durchgehen. Es ist ein kleiner modischer Versuch, noch einmal auf seinen Titel hinzuweisen.

Das Symbol der französischen Monarchie hat keinen Weg auf Edwards Barett bei dieser französischen Briefmarke gefunden. Die Herren begrüssten sich durch ein Gitter, gingen aber sehr freundschaftlich miteinander um. Die Herren sprechen Französisch, das kann der Engländer, der in Rouen geboren wurde. Es wurde in dem Gespräch auch eine Einladung für einen Parisbesuch ausgesprochen, von leichten Mädchen in Paris war die Rede. Louis weiß, dass Edward ein womanizer ist. Der französische König erlaubt den Engländern, dass sie in seiner Stadt Amiens feiern und trägt auch noch die Bewirtungskosten, many drink themselves into insensibility, heißt es in einer Historie. Das ist typisch für die Engländer. Die überdachte Brücke mit dem Gitter in der Mitte ist extra für diese Zeremonie gebaut worden. Das Dach ist wichtig, es regnet ziemlich viel im August 1475.

So, wie es sich der englische Illustrator 1864 vorstellt, kann es ausgesehen haben. Edward hat auch eine Lilie am Barett. Beide Herren tragen höfische Kleidung. Ein Jahr zuvor hatte Louis XI auf der Brücke zu Noyon eine Unterredung durch das Gitterwerk mit dem Connétable de France gehabt, da trugen beide eine Rüstung und Waffen unter ihrer Kleidung. Louis XI weiß schon, warum er ihn zwei Jahre später hinrichten lassen wird. Sich auf Brücken mit Gittern zu treffen, ist damals ein übliches Procedere: Man pflegte auf der Brücke des Grenzflusses zusammen zu kommen, oder eigentlich nur nahe zu kommen; denn es war gewöhnlich, Schranken mit tüchtigem Gitterwerk aufzurichten, dessen Stangen eben nur einen Mannesarm bequem durchliessen, und die Zugänge gegenseitig besichtigen, besetzen und bewachen zu lassen. Schreibt Karl Theodor Puetter 1843 in seinem Buch Beiträge zur Völkerrechts-Geschichte und Wissenschaft. Und der Historiker Reinhard Schneider hat einen Aufsatz mit dem Titel Mittelalterliche Verträge auf Brücken und Flüssen veröffentlicht.

Der Friedensschluss von Picquigny und die Niederlage bei Neuss sind der Anfang vom Ende der Karriere von Charles dem Allzukühnen, zwei Jahre später fällt er in der Schlacht von Nancy. Die Hälfte seines Reiches geht an die Habsburger, die andere Hälfte, Burgund und die Picardie holt sich Louis zurück. Edward hat ein halbes Dutzend Schlachten im Rosenkrieg gewonnen, darauf könnte er stolz sein, aber wirklich stolz ist er über diesen Feldzug und den Frieden von Picquigny.

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