Der große Herbststurm ist vorüber, draußen ist es kalt und ungemütlich. Der Schnee auf den Autodächern ist so gut wie weggetaut, jetzt pladdert der Regen runter. Die Corona Pandemie hat einen neuen Höhepunkt. Auf den Straßen demonstrieren Querdenker, Impfgegner und Corona-Leugner. In den Talkshows sitzen wieder die, die da immer sitzen. Die Politik ist hilflos. So richtig weihnachtlich ist uns nicht. Da bleibt uns nur eine Flucht in die Literatur. Wie zum Beispiel in Fontanes Roman Unwiederbringlich, in dem sich ein schönes Adventslied findet, das der Pastor Schleppegrell gedichtet hat:
»Sie drücken Zweifel aus, Graf, vor allem vielleicht einen Zweifel an meiner Überzeugung. Aber es ist, wie ich sage. Großer Stil! Bah, ich weiß wohl, die Menschen sollen tugendhaft sein, aber sie sind es nicht, und da, wo man sich drin ergibt, sieht es im ganzen genommen besser aus als da, wo man die Moral bloß zur Schau stellt. Leichtes Leben verdirbt die Sitten, aber die Tugendkomödie verdirbt den ganzen Menschen.«
Und als sie so sprach, fiel aus einem der die Tafel umstehenden Tannenbäumchen ein Wachsengel nieder, just da, wo Pentz saß. Der nahm ihn auf und sagte: »Ein gefallener Engel; es geschehen Zeichen und Wunder. Wer es wohl sein mag?«
»Ich nicht«, lachte Ebba.
»Nein«, bestätigte Pentz, und der Ton, in dem es geschah, machte, daß sich Ebba verfärbte. Aber ehe sie den Übeltäter dafür abstrafen konnte, ward es hinter der Tannen- und Zypressenwand wie von trippelnden Füßen lebendig. Zugleich wurden Anordnungen laut, wenn auch nur mit leiser Stimme gegeben, und alsbald intonierten Kinderstimmen ein Lied, und ein paar von Schleppegrell zu dieser Weihnachtsvorfeier gedichtete Strophen klangen durch die Halle.
Noch ist Herbst nicht ganz entflohn,
Aber als Knecht Ruprecht schon
Kommt der Winter hergeschritten,
Und alsbald aus Schnees Mitten
Klingt des Schlittenglöckleins Ton.
Und was jüngst noch, fern und nah,
Bunt auf uns herniedersah,
Weiß sind Türme, Dächer, Zweige,
Und das Jahr geht auf die Neige,
Und das schönste Fest ist da.
Tag du der Geburt des Herrn,
Heute bist du uns noch fern,
Aber Tannen, Engel, Fahnen
Lassen uns den Tag schon ahnen,
Und wir sehen schon den Stern.
Das Weihnachtslied von Pastor Schleppegrell aus dem 22. Kapitel von Fontanes Roman Unwiederbringlich nimmt der Situation ein wenig von der Spannung. Abgesehen davon, dass Weihnachten bei uns allen aus unerklärlichen Gründen Spannungen verursacht - selbst hier in der beschaulichen Welt des dänischen Adels vor dem deutsch-dänischen Krieg ist something rotten in the state of Denmark. Und im Privaten. Unwiederbringlich ist wie Effi Briest ein Ehebruchsroman, und er basiert wiederum auf einer wirklichen Begebenheit. Die sich natürlich nicht im Schleswigschen zugetragen hat, dahin transponiert Fontane nur die Geschichte. Denn hier oben kennt er sich aus. Natürlich kennt er sich eigentlich in Brandenburg und in Berlin aus, aber wenn irgendjemand im 19. Jahrhundert alle Sagen und Anekdoten kennt, die man sich von der Eider bis zum Limfjord erzählt, dann ist das Theodor Fontane.
In sein Buch Der Schleswig-Holsteinische Krieg im Jahre 1864 hatte er ungeheuer viel Arbeit gesteckt, weil er hoffte, damit die Anerkennung des Berliner Hofes zu erringen. Sein geplantes skandinavisches Buch ist unvollendet geblieben. Im Jahre 2004 wurde von Christian Andree eine Rekonstruktion des Buches herausgegeben. Es ist eine hochinteressante Lektüre, die Wanderungen durch die Mark Brandenburg werden hier nach Dänemark verlegt. Dank all dieser Vorarbeiten kann Fontane die Geschichte des Karl von Maltzahn leicht in das damals dänische Schleswig versetzen. Und so ist ihm natürlich nicht entgangen, dass der Name Schleppegrell da oben relativ häufig vorkommt. Einen dänischen General namens von Schleppegrell hat man bei der Schlacht von Idstedt vom Pferd geschossen, die Geschichte erzählt man sich in Idstedt heute immer noch.
Eigentlich kommen die Schlep(p)egrells ja aus Niedersachsen: Schlepegrell. Evangelisch. - Niedersächsischer Uradel, der mit Genehardus Slepegrelle jun., miles, 11. Okt. 1297 urkundlich (Sudendorf, Urk.-Buch der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg und ihrer Lande VI, Urk. 151) zuerst erscheint. - Wappen.: In Silber eine aufwärtsgebogene rechtsgekehrte goldbewehrte schwarze Bärentatze. Auf dem Helme mit silbernen Decken eine mit drei Pfauenfedern besteckte silberne Säule zwischen sieben goldgeschafteten mit der Bärentatze belegten silbernen Fähnlein (vier rechts, drei links gewendet). (S. 675, Gotha. Genealog. Taschenbuch der Uradeligen Häuser, 11. Jg. 1910). Einer von diesen Schleppegrells ist uns schon bei der Belagerung von Gibraltar begegnet, hier ist er auf dem Bild von John Singleton Copley im Hintergrund neben dem Colonel von Hugo.
Aber mit diesen hannöverschen Schleppegrells ist der Pastor in Fontanes Roman, der das Adventsgedicht (und eine Ballade) beisteuert, nur entfernt (wenn überhaupt) verwandt. Mit dem dänischen General ist er allerdings (in Fontanes Roman) verwandt. Er ist eine imponierende Erscheinung: Dieser andre war Pastor Schleppegrell von Hilleröd, ein stattlicher Fünfziger, der seine Stattlichkeit durch seinen langen Predigerrock noch um ein erhebliches gesteigert sah. Er küßte der Prinzessin die Hand, aber mit mehr Ritterlichkeit als Devotion, und betonte dann seine Freude, seine Gönnerin wiederzusehen. Er ist am dänischen Hofe kein Unbekannter: »Nein«, lachte die Prinzessin. »Schleppegrell ist kein Dissenter-General, aber er ist freilich der Bruder eines wirklichen Generals, der Bruder von General Schleppegrell, der bei Idstedt fiel. Vielleicht zu rechter Zeit. Denn de Meza übernahm das Kommando.« »Ah«, sagte Holk. »Also daher.« »Nein, lieber Holk, auch nicht daher; ich muß leider noch einmal widersprechen. Das, was Sie ›seine Sicherheit‹ nennen hat einen ganz andern Grund. Er kam mit zwanzig Jahren an den Hof, als Lehrer, sogar als Religionslehrer, verschiedener junger Prinzessinnen, und das andre können Sie sich denken. Er hat zu viel junge Prinzessinnen gesehen, um sich durch alte noch imponieren zu lassen. Übrigens sind wir ihm und seiner klugen Zurückhaltung zu großem Danke verpflichtet, denn es lag dreimal so, daß er, wenn er gewollt hätte, jetzt mit zur Familie zählen würde. Schleppegrell war immer sehr verständig. Nebenher habe ich nicht den Mut, den Prinzessinnen von damals einen besondern Vorwurf zu machen. Er war wirklich ein sehr schöner Mann und dabei christlich und ablehnend zugleich. Da widerstehe, wer mag.«
Der Bruder des Generals von Schleppegrell wäre mir entgangen, wenn nicht mein alter Pastor Klaus Nebelung einmal einen Vortrag über die Pastoren bei Theodor Fontane gehalten hätte. Und da tauchte der Pastor Schleppegrell natürlich in aller Wichtigkeit auf. Der Pastorin Schleppegrell legt Fontane im Übrigen ein Zitat in den Mund, das sehr schön ist: Man muss sich untereinander helfen, das ist eigentlich das Beste. Sich helfen und unterstützen und vor allem nachsichtig sein und sich in das Recht des andern einleben. Denn was ist Recht? Es schwankt eigentlich immer. Aber Nachgiebigkeit einem guten Menschen gegenüber ist immer recht. Und so nehmen wir heute für einen besinnlichen Advent einmal das Adventsgedicht vom Pastor Schleppegrell und die weisen Worte seiner Gattin mit.
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