Donnerstag, 20. Januar 2022

Diva


Heute vor hundertdreißig Jahren ist in Mailand die Oper La Wally von Alfredo Catalani aufgeführt worden. Die Oper basiert auf dem zwanzig Jahre zuvor erschienenen Roman Die Geier-Wally: Eine Geschichte aus den Tyroler Alpen (Volltext) von Wilhelmine von Hillern, einem literarischen Dauerbrenner, der schon in ein halbes Dutzend Sprachen übersetzt worden war. Ich gebe mal eben eine kleine Leseprobe: Oben in Adlershöhe ... am schwindelnden Abhang stand eine Mädchengestalt, von der Tiefe heraufgesehen nicht größer als eine Alpenrose, aber doch scharf sich abzeichnend vom lichtblauen Himmel und den leuchtenden Eisspitzen der Ferner. Fest und ruhig stand sie da, wie auch der Höhenwind an ihr riss und zerrte, und schaute nieder schwindellos in die Tiefe ... Schrankenlos war ihr Mut und ihre Kraft, als hätte sie Adlersfittige, schroff und unzugänglich ihr Sinn, wie die scharfkantigen Felsspitzen, an denen die Geier nisten und die Wolken des Himmels zerreißen… 

Die Autorin schrieb den Roman 1880 zu einem Theaterstück um, das an zahlreichen deutschen Bühnen aufgeführt wurde. Theodor Fontane sah das Stück 1881 in Berlin und war ergriffen: Ich wurde drei Stunden nicht nur gefesselt, sondern abwechselnd erschüttert und erhoben. Die Macht der Poesie war stärker als das immer wieder sich regende kritische Bedenken. Er lobte in seiner Besprechung, dass hier richtige Menschen das Richtige sagen und das Richtige tun, und dies Richtige tun zu richtiger Zeit und am richtigen Ort. Er war aber auch als Theaterkritiker versiert genug, um zu betonen, dass das Stück seiner glänzenden Eigenschaften unerachtet, mehr in die Reihe der Kometen als in die der Dauer-Sterne gestellt werden sollte.

Die Geier-Wally hat hier schon seit Jahren einen Post (natürlich auch an einem 20. Januar), aber ich komme heute noch einmal auf das Thema, weil der französische Regisseur Jean-Jacques Beineix vor einer Woche im Alter von fünfundsiebzig Jahren gestorben ist. Und weil in seinem berühmtesten Film Diva eine Arie aus Catalanis Wally die Hauptrolle spielt: 'Diva' must be the only pop movie inspired by a love of opera, schrieb David Denby vom New Yorker damals. Die Arie, die die Handlung des Films strukturiert, ist von jeder Operndiva gesungen worden ist, von der Callas bis zu Anna Netrebko. Es gibt auch eine Version von Donij van Doorn und André Rieu, ist aber weit weg von der Callas:

Ebben? Ne andrò lontana,
Come va l'eco della pia campana,
Là, fra la neve bianca;
Là, fra le nubi d'ôr;
Laddóve la speranza, la speranza
È rimpianto, è rimpianto, è dolor


In dem Film von Beineix wird die Arie von der schwarzen Schönheit Wilhelmenia Wiggins Fernandez in einem silberweißen Seidenkleid gesungen. Die Sängerin aus Philadelphia hatte gerade einen Zweijahresvertrag an der Pariser Oper bekommen, als Beineix sie in La Bohème entdeckte, wo sie die Musetta sang: He came backstage and asked for my autograph, then just stood there and gaped. I asked, 'Is there anything else?' 'Yes,' he said, 'I have a proposition for a film.' I was amazed. Als er mit dem Drehbuch wiederkam, lehnte sie die Rolle ab: I was reading murder, prostitution and drugs, and I wanted nothing to do with it. Aber Beineix ließ nicht locker: Jean-Jacques forced me to read it with him. Then I realised it was actually light, like a Disney treatment of a Hitchcock film. Sie kommt für zwölf Drehtage, geht dann wieder in die USA zurück und glaubt, sie würde nie wieder etwas von dem Film hören.

Niemand in den USA würde diesen Film sehen, der mit einem relativ kleinen Budget und größtenteils unbekannten Schauspielern gedreht worden war, dachte sie. Solche Filme kommen nicht in die USA. Da hat sie sich getäuscht, die Kritiken des New Yorker und der New York Times überschlugen sich geradezu. Der Film und Catalanis Arie machen Wilhelmenia Fernandez weltberühmt. Das silberweiße Seidenkleid spielt in dem Film noch eine Rolle. Die Arie auch. Die Sängerin, die im Film Cynthia Hawkins heißt, erlaubt keine Tonaufnahmen von ihrem Gesang, aber alle Welt will ihre Stimme hören. Sie selbst hat ihre Stimme noch nie auf einem Tonträger gehört. Sie wird sie in diesem Film zum erstenmal hören, wenn ein junger Pariser Postbote namens Jules sie ihr vorspielt. Jules: It's the only recording. Cynthia Hawkins: It was you? Jules: It's yours. It's my gift to you. Forgive me. Cynthia Hawkins: But...I've never heard myself sing! Jules: Listen...

Der junge Postbote Jules (Frédéric Andréi) verehrt die Sängerin. Er ist einmal mit seinem Moped von Paris nach München gefahren, um sie singen zu hören. Da sang sie Wagner und die Wesendonck Lieder. Jules besitzt ein professionelles Aufnahmegerät der Firma Nagra und schneidet heimlich während eines Konzerts in der Opéra Garnier die Arie mit. Er nimmt nicht nur ihre Stimme mit, wenn er die Oper verlässt, er wird auch das silberweiße Seidenkleid stehlen. Von nun an wird er verfolgt, nicht von der GEMA, sondern von richtigen taiwanesischen Gangstern. Und wie es der Zufall so will, hat er plötzlich noch ein zweites Tonband in der Satteltasche seines Mobylette, das eine orientierungslose Frau mit bloßen Füßen in die Tasche hat gleiten lassen. Kurz bevor sie umgebracht wird.

Auf dem Band hört der Postbote nicht die Stimme von Cynthia Hawkins, er erfährt, dass der Pariser Polizeichef Jean Saporta hochkriminell ist, eine Größe im Rauschgift- und Mädchenhandel ist. Jetzt wird Jules nicht nur von den Taiwanesen, sondern auch noch von den Killern Saportas verfolgt. Wir sind in einem Thriller. Und allem, was einen Thriller ausmacht. Mit rasanten ✺Mopedfahrten durch die Métro mit seinem gelben Mobylette (das eine kleine Rolls Royce Kühlerfigur am Lenker hat). Und wenn es keine Chance mehr für unseren Postboten zu geben scheint, dann kommt als eine Art deus ex machina dieser geheimnisvolle Herr namens Serge Gorodish (gespielt von Richard Bohringer, der schon mit Catherine Deneuve in Die letzte Métro zu sehen war), der eine Wohnung in einem Leuchtturm und einen weißen Citroen Traction Avant besitzt. Etwas, das man früher das Gangsterauto nannte, wir kennen den Wagen aus unzähligen französischen Kriminalfilmen. Alles, was in diesem Film ist, kennen wir aus Kriminalfilmen, nur die Arie Ebben? Ne andrò lontana ist neu.

Beineix hatte ein blue movie machen wollen, und blau und dunkel ist vieles in diesem Film, es ist ein Farbspektakel, das seine eigene Ästhetik hat. Dafür hat sein Kameramann Philippe Rousselot gesorgt. It's a glittering toy of a movie, schrieb Pauline Kael in ihrer Rezension im New Yorker, sie sah in dem jungen Franzosen einen neuen Orson Welles. Ihr Kollege Roger Ebert äußerte sich ähnlich: 'Diva' is one of the best thrillers of recent years but, more than that, it is a brilliant film, a visual extravaganza that announces the considerable gifts of its young director, Jean-Jacques Beineix. He has made a film that is about many things, but I think the real subject of 'Diva' is the director's joy in making it. The movie is filled with so many small character touches, so many perfectly observed intimacies, so many visual inventions from the sly to the grand that the thriller plot is just a bonus. In a way, it doesn't really matter what this movie is about; Pauline Kael has compared Beineix to Orson Welles and, as Welles so often did, he has made a movie that is a feast to look at, regardless of its subject.

Auch die Diva des französischen Pornofilms Brigitte Lahaie hat unter dem Namen Brigitte Simonin eine kleine Rolle in diesem Film; Sie können hier fünf Sekunden lang die Beine von Brigitte sehen, weil ihr Rock durch die Luft aus der Métro hochgewirbelt wird. Eine Szene, die wir mit Marilyn Monroe kennen. Die Szene mit Brigitte Lahaie ist ein filmisches Zitat, so wie so vieles in dem Film nur Zitat ist: der Citroen Traction Avant, die Rolls Royce Emily, glatzköpfige Gangster mit schwarzen Sonnenbrillen und die rasanten Mobylette Fahrt durch die U-Bahn, die die Kritiker an Bullitt erinnerte. Zitate sind ein Merkmal der Postmoderne, Kritiker wie Fredric Jameson haben gesagt, dass Diva der erste Film der Postmoderne ist.

Die Postmoderne ist schnell gealtert, niemand redet heute noch über sie. Die Zeilen aus Uli Beckers Gedicht Kunst sagen uns schon alles: Gott ja, die Postmoderne, sagt der Minirock / zum Existenzialistenrolli, anything goes / und alles kommt wieder, für 15 Minuten. Für Vincent Canby von der New York Times war es an empty though frightfully chic-looking film from France, eine anthology of affectations. Und ähnlich äußerte sich 1983 der SpiegelDer Film von 1981, der in Frankreich und den USA fast kultische Verehrung genießt, läuft jetzt in der Bundesrepublik an. Er ist ein fulminantes Nichts, photographiert im Stil teurer Werbung - immer schön hohl und chic. Die Franzosen fanden schnell einen Namen für dies neue Kino: Cinéma du look.

Es ist ein postmodernes Märchen, das Beineix uns präsentiert. Vielleicht ein fulminantes Nichts, aber technisch brillant. Dafür stand
Philippe Rousselot, der als Assistent von Néstor Almendros Rohmers Ma Nuit Chez Maud photographierte. Er bekam 1982 den französischen Filmpreis César (Beineix auch für das beste Erstlingswerk) und erhielt nach zwei Oscar Nominierungen (Hope and Glory und Henry & June) 1992 den Oscar für A River Runs Through It

Theodor Fontane war bei dem Theaterstück über die Geier-Wally ein wenig skeptisch und sagte, dass das Stück seiner glänzenden Eigenschaften unerachtet, mehr in die Reihe der Kometen als in die der Dauer-Sterne gestellt werden sollte. Was ist mit Beineix' Diva? Komet oder Dauer-Stern? Diva ist ein Kultfilm geworden, es gab in den achtziger Jahren Kinos, in denen der Film jahrelang einmal am Tag gezeigt wurde, zum Beispiel im Broadway in Hamburg. Man kann den Film nach vierzig Jahren immer noch sehen, das Disney treatment of a Hitchcock film, wie Wilhelmenia Fernandez es formulierte, ist nach vierzig Jahren immer noch von einer erstaunlichen Modernität. Sie können den Film natürlich hier sehen, klicken Sie einfach auf DIVA.

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