Samstag, 19. Juni 2010

Pauline Kael


Den Film fand sie nun völlig daneben, ich dagegen habe ihn geliebt. Der Film hieß Darling, und die junge Julie Christie spielte darin (neben ➱Dirk Bogarde) ein Model im ➱Swinging London der sechziger Jahre. John Schlesinger hatte ihn, wie im Vorjahr Billy Liar (auch mit Julie Christie) in Schwarzweiß gedreht, mit diesem typischen Schlesinger touch einer eleganten Tristesse. Die Filmkritikerin, die mir diesen Film (wie so viele andere) schlecht gemacht hat, heißt Pauline Kael. ➱Terrence Malicks großartigen Film Badlands hat sie auch verrissen, zum Ärger des Chefredakteurs vom New Yorker, William Shawn. Als der ihr angesichts ihres Manuskripts sagte, dass er Malick als eine Art Sohn betrachte, hat sie ihm geantwortet Tough shit, Bill. Ihre Besprechung wurde unverändert gedruckt, ihre Lobeshymne auf Deep Throat hatte sie allerdings ein Jahr vorher zurückgezogen, weil William Shawn in seinem New Yorker nur ungern Pornofilme rezensiert sah. Als sie Last Tango in Paris in den Himmel hob, verlieh ihr der Harvard Lampoon den Bosley Award (benannt nach dem New Yorker Filmkritiker Bosley Crowther) für that critic who consistently explores the farthest limits of bad taste. Das ist nun ein wenig gemein zu Bosley Crowther, der in den fünfziger Jahren McCarthy bekämpft hat, immer für europäische Filmkunstwerke eingetreten ist und eigentlich sehr seriöse Kritiken schrieb. Obgleich er manchmal auch etwas quirky sein konnte.

Wenn ich sie auch nicht ausstehen konnte, habe ich doch all ihre Bücher gekauft. Aber ich las damals lieber die Filmkritiken von Dilys Powell, die für die Sunday Times schrieb (sie war seit 1928 bei der Sunday Times, im gleichen Jahr hatte ihre Konkurrentin Caroline Alice Lejeune beim Observer angefangen). Dilys Powell war irgendwie seriöser als Pauline Kael. Es war ja nicht so, dass Amerika sie unbedingt gebraucht hätte und seit James Agee keine Filmkritiker gehabt hätte, Bosley Crowther, Andrew Sarris, Manny Farber und Parker Tyler wären gute Beispiele für eine niveauvolle Filmkritik, von akademischen Kritikern wie Robert Sklar ganz zu schweigen. Aber Pauline Kael verkörperte den Geist der sechziger Jahre, sie war das Äquivalent zu dem jungen Tom Wolfe, und sie schrieb manchmal wie er. Und dennoch begrüsste sie die Sixties nicht unbedingt. Ihre Kritik zu Richard Lesters wundervollen Filmen The Knack und Help! endet mit den Worten: By the time you are outside the theatre, you've already forgotten the movie. You're hungry again. There is nothing to take home, no memory, hardly an aftertaste. Ich habe nichts aus The Knack vergessen, und Millionen von Beatles Fans hatten auch noch Erinnerungen an Help! als sie das Kino verliessen.

Aber die sechziger Jahre sind die Jahre der Filmkritik, in Amerika wie in Frankreich und in Deutschland,  auch wenn die deutschen Filmkritiker die ganze Zeit nach Frankreich schielen und alles importieren, was von dort kommt. Über den Ärmelkanal gucken die deutschen Intellektuellen, die jetzt alle die Kunstform Filmkritik entdecken, nie. Dabei haben die Engländer Filmkritiker en masse (Philip French, Penelope Houston, Alexander Walker, Raymond Durgnat, Gilbert Adair, Tim Milne, Eric Rhode), die auch noch dicke fette schlaue Bücher schreiben. Und sie haben das British Film Institute. Und trotzdem beachten wir sie nicht, das ist irgendwie faszinierend. Weil wir in Deutschland aus unerklärlichen Gründen alle französischen Kaffeehausphilosophen ernst nehmen (wenn auch ein wenig mit Verspätung) und sie für das Größte unter der Sonne halten. Und während in Amerika die schrille Professorin Camille Paglia in schwarzen Bikerklamotten längst vor tausenden von Studenten in Princeton oder am M.I.T. wunderschön bösartige Grabreden auf Derrida, Foucault, Lancan & Co. hält, sind die an deutschen Provinzunis immer noch die Götter der Geisteswissenschaft. Ich liebe den französischen Film, und ich bin mit den Cahiers de Cinéma aufgewachsen, aber warum soll man sich seine filmtheoretischen Götter nicht außerhalb von Paris suchen können?

Zuerst hatte sie bei kleinen Magazinen geschrieben oder für das Radio gearbeitet, aber je berühmter sie wurde (erst bei McCall's, dann der New Republic und schließlich beim New Yorker), desto mehr wurde sie vermarktet. Wenn die Amerikaner schon nix können, Vermarktung bekommen sie immer hin. Auch von Filmkritikern, wenn es sein muss. Ihre Bücher hatten auch so schöne Titel I Lost it at the Movies, Kiss, Kiss, Bang, Bang, Reeling. Dagegen war Hartmut Bitomskys Die Röte des Rots von Technicolor schon etwas sehr gesucht. Und die Buchumschläge wurden vollgepflastert mit kurzen lobenden Sätzen, die uns versicherten, dass Miss Kael die bedeutendste Filmkritikerin aller Zeiten ist. Das kriegen Amerikaner ja auch immer gut hin. Als der New Yorker 1991 mitteilte: We regret that Pauline Kael feels that it's time, after twenty-four years at the magazine, to retire from regular reviewing war das für viele Leser ein Schock. Sie war inzwischen zu einer Institution geworden. Nicht unangefochten, ihre Kollegin Renata Adler hatte 1980 in einem langen Essay im einflussreichen New York Review of Books gesagt, dass Kael seit ihrem Höhepunkt in den sechziger Jahren nichts von Substanz veröffentlicht habe und ihr neuester Band When the Lights go Down nur noch aus Manierismen bestände und worthless sei. Film- und Theaterkritiken sind häufig etwas Ephemeres. Wenn man nicht gerade Theodor Fontane oder Alfred Kerr heißt, liest ein Jahr später niemand mehr das Zeug.

Ich weiß nicht, was wirklich von ihr bleibt, etwas so Originelles wie White Elephant Art v. Termite Art wie ihr Kollege Manny Farber hat sie nicht geschrieben. Sie hat auch keine substantiellen Monographien geschrieben wie ihr Erzfeind Andrew Sarris. Sie hat das Kino geliebt und ihren Instinkten vertraut, sie war konsequent gegen die Mehrheitsmeinung, und sie hat den Status der amerikanischen Filmkritik verändert. Auch in Amerika waren Filmkritiken jetzt nicht mehr ein Wegwerfartikel, sondern waren zu einer Kunstform aufgestiegen.

Aber Pauline Kael wußte wohl auch, dass die wahre Diskussion nicht im New Yorker stattfand, sondern in kleinen Zeitschriften wie Jump Cut. In Movie Love: Complete Reviews 1988-1991 ist sie nur noch ein Schatten ihres alten Selbst, ihre punch line am Ende einer Rezension wirkt häufig wie willkürlich angeklebt. Pauline Kael, geboren am 19. Juni 1919 ist im Alter von 82 Jahren in ihrem Haus in Massachusetts gestorben. Dies hier unten ist ein Cartoon aus dem New Yorker, für den sie jahrzehntelang geschrieben hatte. Die kleine Zeichnung da oben ist natürlich von dem unübertroffenen David Levine.


2 Kommentare:

  1. ein großartiger nachruf auf eine einflußreiche aber nicht unumstrittene ikone der etablierten filmkritik.sie hat zweifellos ihre spuren hinterlassen und ist, genauso wie andere gößen wie agate( der an laurence olivier selten ein gutes haar ließ) oder bazin sowohl auf zustimmung als auch auf ablehnung gestoßen.Ihr buch über orson welle`s citizen kane "the citizen kane book" ist meiner meinung nach neben truffauts `le cinéma selon hitchcock` das beste filmbuch überhaupt.

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  2. thanks, ich merke gerade (man sieht beim Schreiben den Wald vor Bäumen nicht), dass ich vergessen hatte, "The Citizen Kane Book" lobend zu erwähnen.

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