Donnerstag, 10. Juni 2010

Broadmoor


Das ist ein seltsames Bild, das da in der Nationalgalerie von Schottland hängt. Es zeigt Sir Alexander Morison, Doktor der Medizin und Psychiater. Der Maler, der das Bild 1852 gemalt hat, war sein Patient. Den Hintergrund mit dem schottischen Firth of Forth (der Heimat von Dr. Morison) und den beiden drallen Fischweibern aus Newhaven hat der Maler nie gesehen, er verlässt sich dabei auf eine Skizze der Tochter des Doktors. Der Maler sieht sowieso keine Landschaften, man lässt ihn nicht raus. Er ist Insasse von Bethlem (der Irrenanstalt, der die englische Sprache das Wort bedlam verdankt), später wird er in die neue Psychiatrie von Broadmoor kommen.

Er hat seinen Vater umgebracht. Er ist geisteskrank (wie viele in seiner Familie). Der Maler heißt Richard Dadd, aber man hat es sich angewöhnt ihn als the late Richard Dadd zu bezeichnen. Für die viktorianische Welt ist er schon tot, seit die Art Union 1843 geschrieben hatte: The late Richard Dadd. Alas! we must so preface the name of a youth of genius that promised to do honour to the world; for, although the grave has not actually closed over him, he must be classed among the dead. Er wird noch lange leben. Und malen. Was er da in Bethlem und Broadmoor malt, ist eine seltsame Feenwelt von Titania und Oberon. Aber es findet sich auch vieles realistisch Gemalte, aus dem man nicht schließen kann, dass der Maler Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt ist.

Kann man das je aus der Kunst ablesen? Wenn Sie sich diese Katzen anschauen und ich dazu sage, dass der Maler auch einmal Insasse von Bethlem war, dann kommen sie uns doch gleich richtig irre vor. Oder? Der Künstler heißt Louis Wain und er hat ganz bezaubernde und auch total bescheuerte Katzen gemalt. Die Mediziner sind sich immer noch nicht einige, ob er schizophren war oder das Asperger Syndrom hatte. Aber das ist den Louis Wain Freunden dieser Welt auch vollkommen egal.

Der Psychiater Dr. Morison, der der Überzeugung war, dass man von der Physiognomie des Patienten auf sein Leiden schließen könnte, wird sich in dem Bild diese Methode selbst gefallen lassen müssen. Er sieht traurig aus. Er ist 73, man hat ihn gerade aus der Position als Berater der Krankenhauses gedrängt und seine Frau, mit der er fünfzig Jahre verheiratet war, ist gerade gestorben. Das im Hintergrund, das ist die Welt seiner Jugend, er steht vor der Kulisse, als ob er nicht dazugehört. Mit der Geste des Zylinders  in der Hand scheint er Abschied zu nehmen von dem Maler, der sein Patient ist. Von uns. Hätte ein "normaler" Maler das besser malen können?

Nach zwanzig Jahren in Bethlem wird man Dadd in das Broadmoor Hospital in Crowthorne in Berkshire bringen, das modernste psychiatrische Krankenhaus des viktorianischen Englands. Einer der ersten, der dahin gekommen ist, ist Daniel M'Naghten. Der hat den Privatsekretär eines englischen  Premierministers umgebracht, und sein Fall hat Rechtsgeschichte geschrieben. Die M'Naghten Rules sind heute immer noch der Gradmesser für englische Gerichte, die entscheiden, ob ein Straftäter ins Gefängnis oder in die Psychatrie kommt. Edward Oxford kommt auch hierher, der hatte versucht, die Königin und den Prinzgemahl umzubringen. Jeder Geisteskranke, der eine Straftat begangen hat, kommt jetzt von Bethlem nach Broadmoor.

Dadd wird dort bis zu seinem Tode 1886 weiter malen, man fördert in Broadmoor auch alle Sorten von Kreativitäten. Dadd kann da einen Mann namens William Rutherford Benn kennenlernen, der auch seinen Vater umgebracht hat. Der wird Jahre später als geheilt entlassen, ändert seinen Namen in William Rutherford. Aber er kommt bald nach Broadmoor zurück, nachdem sich seine Frau im Garten erhängt hat. Dass ihr Kind unter diesen Umständen völlig normal geblieben ist, ist eigentlich ein Wunder. Wir lieben dieses Kind alle, weil wir sie als Miss Marple kennen.

Richard Dadd kann in Broadmoor noch jemanden kennenlernen, der eines Tages noch berühmt werden wird. Der ist Amerikaner und hat in London einen wildfremden Menschen umgebracht. Er ist Arzt im amerikanischen Bürgerkrieg gewesen, war bei der Schlacht von The Wilderness dabei. Da hat er irische Deserteure mit einem heißen Eisen brandmarken müssen, das hat ihn wahnsinnig werden lassen. Und er ist immer seltsamer geworden, bis ihn die Armee eines Tages pensioniert hat. Er ist nach London gefahren, weil seine Familie fand, dass das gut für ihn sein könnte. Fand er auch, aber nur weil er glaubte, dort billige Nutten finden zu können. Das ist das einzige, was ihn noch seit dem Ende des Krieges interessiert. Irgendwie ist er auch ein Opfer des Bürgerkriegs. Und hier in London, da glaubt er, dass die Iren hinter ihm her wären, wegen des Brandeisens damals. Da kann er froh sein, dass er nach Broadmoor kommt. Obwohl es eine viktorianische Musteranstalt ist, sieht es von aussen aus wie ein Gefängnis. Das liegt wohl daran, dass sein Erbauer Sir Joshua Webb vorher nur Gefängnisse entworfen hatte. Broadmoor Hospital gibt es noch heute, es ist immer noch ein Hochsicherheitsgefängnis für geisteskranke Straftäter.

Im Jahre 1896 macht sich Dr. James Murray (Bild), der Herausgeber des größten Wörterbuchs der Welt (das damals noch nicht Oxford English Dictionary sondern New English Dictionary heißt) zu einem Höflichkeitsbesuch auf. Einer seiner wertvollsten Beiträger und Korrespondenten ist niemals den Einladungen nach Oxford gefolgt, so kommt der große Dr. Murray jetzt nach zwanzig Jahren in die Provinz. Er wird unter der Adresse seines geschätzten Mitarbeiters von einem Diener in ein imposantes viktorianisches Arbeitszimmer geleitet, hinter einem Mahagonischreibtisch sitzt ein ehrfurchtgebietender viktorianischer Gentleman, der ähnlich aussieht wie Dr. Murray. Murray verbeugt sich leicht und sagt: A very good afternoon to you, sir. I am Dr James Murray of the London Philological Society, and editor of the New English Dictionary. It is indeed an honour and a pleasure to at long last make your acquaintance - for you must be, kind sir, my most assiduous helpmeet, Dr W.C. Minor?

Und nun gibt es eine peinliche Pause, nach der der Direktor von Broadmoor dem Besucher erklärt, dass der wertvollste Mitarbeiter der englischen Lexikons nicht hinter diesem Schreibtisch sitzt, sondern Insasse der Anstalt ist. Denn wenn der Dr. William Chester Minor sich nicht gerade von den Iren verfolgt fühlt und alle möglichen Wahnvorstellungen hat, dann exzerpiert er die halbe englische  Literatur und trägt so (wie tausend andere quer über die Britischen Inseln) zum Gelingen des neuen englischen Lexikons bei.

Wer alles darüber lesen will (und das sollten Sie unbedingt tun), der sollte Simon Winchesters The Surgeon of Crowthorne: A Tale of Murder, Madness and the Love of Words lesen. Das Buch ist zu Recht ein Bestseller auf beiden Seiten des Atlantiks geworden. Es gibt es auch in deutscher Sprache: Der Mann, der die Wörter liebte. Bei Amazon schon ganz preiswert, Wörter sind billig geworden. Und wenn Sie jetzt auf den Geschmack gekommen sind, dann lesen Sie doch gleich Simon Winchesters The Meaning of Everything: The Story of the Oxford English Dictionary hinterher. Die erste große Ausstellung zu Richard Dadd wurde beinahe hundert Jahre nach seinem Tod in der Tate Gallery veranstaltet. Die Kuratorin des Bethlem Hospitals Patricia Allderidge schrieb den Katalog und wählte die Bilder aus. Etwas Besseres zu Richard Dadd hat es seit 1974 nicht gegeben. Für die Liebhaber von Katzen sei gesagt, dass Patricia Allderidge auch ein Buch über Louis Wains Katzen geschrieben hat.

Das Bild oben zeigt Dr. James Murray bei seiner Arbeit am Dictionary, er ordnet all die kleinen Zettel mit Wortbelegen durch die Jahrhunderte, die ihn aus ganz England erreichen. So etwas macht man heute mit dem Computer. Nicht ganz. Als vor kurzem die Professorin Jane Roberts den Historical Thesaurus of the Oxford English Dictionary vorstellte, sagte sie, dass man das in vierzigjähriger Arbeit mit kleinen Zetteln gemacht hätte. Wie zu den Zeiten von James Murray. Ich finde das sehr beruhigend, dass das immer noch so funktioniert.

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