Marschall Grouchy hört den Kanonendonner auch, aber er ist gerade dabei, in Walhain ein verspätetes Frühstück einzunehmen. Und jetzt werden die leckeren Erdbeeren mit Sahne serviert, dazu gibt es Champagner. General Gérard fordert ihn auf, sofort in Richtung des Kanonendonners zu marschieren, aber Grouchy hat jetzt erst einmal die Erdbeeren im Kopf. Und das eine Wort, das er aus den widersprüchlichen Befehlen seines Kaisers herausgehört hat. Und das heißt Wavre, da will er hin.
In Wavre soll Blücher mit dem preußischen Heer sein. Ist er aber längst nicht mehr, er ist schon früh aufgestanden, falls er nach der Niederlage von Ligny und dem schwerem Sturz vom Pferd überhaupt geschlafen hat. Da, als er Nostitz, ich bin verloren! gerufen hatte. Und der Graf Nostitz ihn, als die französische Kavallerie über sie hinweggeritten war, mit Hilfe von zwölf Soldaten unter dem toten Grauschimmel hervorgezogen hatte. Die ganze Nacht war ein Kommen und Gehen in seinem Hauptquartiert, das schreibt Sir Henry Hardinge, Wellingtons Verbindungsoffizier bei den Preußen. Der hat die Nacht auch nicht geschlafen, hat auf einer Strohschütte im Vorzimmer gelegen. Er könnte sich ja krankmelden, weil man ihm gerade nach der Schlacht von Ligny die Hand amputiert hat, aber sowas tut ein Engländer nicht. Blücher könnte sich auch krankmelden, aber er erklärt daß er sich, ganz gleich wie sein Zustand sei, lieber auf sein Pferd binden lasse, als zurückzutreten, denn ein blutiger Rachedurst habe von seinem Willen und seinem Verstand Besitz ergriffen. Er hatte nach Branntwein verlangt (zur inneren Anwendung), sein Arzt hatte ihm Schampus gegeben und seinen Körper mit einer Mischung von Branntwein, Gin, Rhabarber und Knoblauch eingerieben. Ich stinke, begrüßt er Hardinge am frühen Morgen und umarmt ihn. Was dem Frischoperierten ein wenig wehtut, aber Blücher ist jetzt mit seiner guten Laune nicht mehr zu bremsen. Obwohl ihm das Reiten große Schmerzen machen mußte, ritt er die Kolonnen entlang und tauschte mit vielen Soldaten Witze und Scherzworte aus. Seine gute Laune verbreitete sich wie ein Lauffeuer die Kolonnen entlang, schreibt ein westfälischer Hauptmann.
Blüchers Leibarzt, der Dr. Carl Ludwig Bieske möchte die Tinktur auf Blüchers Körper noch einmal erneuern, aber der sagt ihm, es mache ihm nichts aus, ob er nun gesalbt oder ungesalbt in die Ewigkeit gehe. Und fügt hinzu: Wenn alles gut geht, werden wir uns alle bald in Paris waschen und baden. Als er jenen Kanonendonner hört, den Grouchy bei seinen Erdbeeren hört, da ist Blücher schon zu Pferde auf dem Weg nach Waterloo. Es hat es Wellington versprochen, den er als seinen Freund und seinen Bruder bezeichnet, und daran hält sich Blücher. Gneisenau, der Wellington nicht ausstehen kann, ist da ganz anders. Die Engländer können schon glücklich sein, dass der Graf Gneisenau nur Blüchers Stabchef ist und nicht die preußische Armee kommandiert (was er ja zu gerne tun würde). Aber Gneisenau hasst nicht nur Wellington, er kann auch mit den eigenen preußischen Korpskommandeuren nicht auskommen. Yorck von Wartenburg und er hassen sich seit langem, zu Bülow und Zieten hat er ein gespanntes Verhältnis, die Liste ließe sich verlängern.
Der Herzog von Wellington hat auch wenig geschlafen in der Nacht zum Sonntag, aber um sechs Uhr sitzt er schon elegant gekleidet auf seinem Lieblingspferd Copenhagen (das hat diesen Namen, weil es geboren wurde als Wellington gerade Kopenhagen bombardierte) und zeigt sich seiner Armee. Er wird Copenhagen noch zur Downing Street Nummer 10 reiten, wenn er 1828 Premierminister wird. Copenhagen wird 29 Jahre alt, bekommt nach seinem Tod ein militärisches Ehrenbegräbnis auf Wellingtons Landsitz mit einer kleinen Steinplakette. Als das National Army Museum Copenhagen ausgraben möchte, um das Skelett neben das Skelett von Napoleons Pferd Marengo zu stellen, schreibt Wellington, dass er sich leider nicht erinnern könne, wo Copenhagen begraben läge. So bleibt dem Museum nur Marengo (der 38 Jahre alt wurde). Sein Skelett ist noch heute in London zu sehen.
Wellington trägt an diesem Tag was er am liebsten trägt: Zivil. Weiße Reithosen, einen blauen Rock mit einer weißen Kragenbinde und ein dunkelblaues Cape gegen den Regen. Lediglich die goldene Schärpe eines spanischen Feldmarschalls gibt ihm etwas Militärisches. Auf beinahe allen Gemälden haben ihn die Maler in scharlachroter Uniform dargestellt, und da trägt Blücher auch meistens eine Mütze, was auch wohl nicht stimmt.
Die meisten Blücherbilder stammen aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, und für Generäle vor Paris ist 1870 die Feldmütze schon O.K. wie man auf diesem scheußlichen Bild von Anton von Werner sehen kann, das Moltke vor Paris zeigt. Blücher hat einmal eine Art Mütze statt des Zweispitzes getragen, aber das war eine Husarenmütze, die ganz aussah als die von Moltke. Selbst wenn er die Mütze der Landsturmsoldaten getragen haben soll, sah die auch anders aus. Und die so genannte Blüchermütze, die die deutsche Sprache kennt, ist wieder etwas ganz anderes. Das trägt der Stahlhelm in den zwanziger Jahren (sowas hatte mein Opa auch). Blücher hat in diesen Jahren wegen seines Augenleidens horribile dictu gerne Damenhüte getragen, aber das zeigt uns kein Maler.
Für den Film Waterloo hat der russische Filmregisseur ➱Sergei Bondartschuk (der die großartige Krieg und Frieden Verfilmung gedreht hat) die meisten Uniformen schon richtig hingekriegt. Vor allem, wenn er Christopher Plummer den Herzog in elegantem Dunkelblau spielen lässt.
Der Marschall Grouchy hört nicht auf den Kanonendonner, er merkt wohl, dass dies kein Vorpostengefecht ist, denn man kann die Erde beben spüren und sieht im Westen Rauch und Qualm aufsteigen. Wenn er jetzt nach links schwenken würde, dann würden seine Truppen Blücher den Weg abschneiden. Aber er marschiert nach Norden, nach Wavre, wo er auf den General Thielmann mit seinem Korps trifft. Den haben Blücher und Gneisenau dort gelassen, damit er Emmanuel de Grouchy den Weg verstellt. Thielmann schickt schon bald reitende Boten in Richtung Waterloo und bittet um Verstärkung. Keinen Pferdeschwanz soll er bekommen, sagt Blücher. Der drückt sich immer sehr klar aus. Gneisenau ist da schon etwas pathetischer: Es ist nicht wichtig, wenn er zerschmettert wird, solange wir hier nur siegen. Das klingt ein wenig wie aus dem Veit Harlan Film Kolberg von 1945, aber so reden die Preußen eben gerne.
Am 18. Juni des Jahres 1815 fand die Schlacht von Waterloo (oder, wie Blücher es lieber hatte, von Belle-Alliance) statt. Der besoffene Husar, wie Napoleon Blücher mehrfach genannt hatte, ist der Sieger auf dem Schlachtfeld. Ob er Wellington um 21 Uhr oder 22 Uhr in Belle-Alliance oder Genappe getroffen hat, darüber streiten die Historiker, aber sicher ist, dass er Wellington umarmt und geküsst hat (obgleich er immer noch stinkt) und Mein lieber Kamerad. Quelle affaire! gesagt hat. Wobei man bedenken sollte, dass quelle affaire zu dieser Zeit nicht na, so etwas bedeutet, sondern Was für eine Schlacht! Mein alter zweibändiger Sachs-Villatte aus dem 19. Jahrhundert kennt das Wort noch so, Kletts Großwörterbuch von 2004 muss da schon passen. So gehen Wörter und ihre Bedeutung mit der Zeit verloren. Für Leute, die der Meinung sind history is bunk, ist es sowieso egal. Aber ein bedeutender Klassischer Philologe hat einmal gesagt, dass Philologen Pioniere seien, die immer wieder eine Brücke über Lethe, den Fluss des Vergessens, bauen. Gefällt mir irgendwie. Soll ich den Blog im Brücken-Blog umtaufen?
Bevor wir zu solch einschneidenden Maßnahmen greifen, habe ich noch ein kleines surprise ending. Die letzte Szene eines deutschen Theaterstückes, sechzehn Jahre nach Waterloo geschrieben. Grottenolmschlecht und unfreiwillig komisch. Aber von einem bedeutenden deutschen Schriftsteller. Wenn Sie es in seiner Gänze geniessen wollen, dann klicken Sie hier. Vierundsechzig Jahre nach seiner Fertigstellung ist es zum ersten Mal aufgeführt worden, und es findet sich in keinem Theaterspielplan mehr. Wo bleiben Castorf, Peymann, Schlingensief? Hier könntet ihr mal regietheatermäßig was verhunzen, schlimmer kann's eh nicht werden.
BLÜCHER mit Gneisenau und Gefolge heransprengend. Wo mein großer Waffenbruder von Saint Jean?
GNEISENAU. Da kommt er!
HERZOG VON WELLINGTON heransprengend. Guten Abend, Feldmarschall!
BLÜCHER. Herzog, der Abend ist des Tages wert!
HERZOG VON WELLINGTON. Die Hand her, Helfer in der Not!
BLÜCHER. Zum »schönen Bunde«, wie der Ort hier heißt! – – Engländer, Preußen, Gemeine, Generale, Unteroffiziere – ich kann nicht weiterrücken bis ich mir die Brust gelüftet, meine Feldmütze abgezogen, und euch gesagt habe: ihr alle, alle seid meine hochachtbaren Waffengefährten, gleich brav in Glück und Not – Wird die Zukunft eurer würdig – Heil dann! – Wird sie es nicht, dann tröstet euch damit, daß eure Aufopferung eine bessere verdiente! – – Wellington, laß deine Leute etwas rasten, – sie hatten heute die drückendste Arbeit – Dafür übernehmen wir so eifriger die Verfolgung, und verlaß dich darauf, sie soll unseren Sieg vollenden, wie noch keinen anderen! – Vorwärts, Preußen!
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Bisher dachte ich, dass Kleists patriotische "Hermannsschlacht" ("O Herrmann! Herrmann! So kann man blones Haar und blaue Augen haben, und doch so falsch sein wie ein Punier?") nicht mehr zu unterbieten wäre. Man lernt nicht aus.
AntwortenLöschenAlso ich finde, dieses "grottenolmschlechte" Machwerk "entschädigt" etwas für den Verlust der Legende, nach welcher The Duke sagte: "Ich wollte, es wäre Nacht..."
AntwortenLöschenIm übrigen sah ich genau Veit Harlans Gneisensau ("Es ist nicht wichtig, wenn er zerschmettert wird, solange wir hier nur siegen") vor meinem geistigen Auge auf Kolbergs Markplatz stehen seine Brandrede haltend. "Das Volk steht auf, der Sturm bricht los ..." Man muss ja aufpassen, dass man nicht den hinkenden Propagandaminister zitiert, denn dessen Sportpalastrede enthält ja FAST den gleichen Satz aus einem Körnergedicht, außerdem dürfte die insgesamt etwas bekannter sein als Körners Gedicht.
Leicht abschweifend bleibt zu bemerken, schön ist dieses Gedicht nicht.