Als ich den Post Borodino schrieb, habe ich Teile von Tolstois Krieg und Frieden noch einmal gelesen. Danach habe ich den Schuber der zweibändigen dtv-Ausgabe mit Tesa verklebt, er hatte in den letzten drei Jahren doch etwas gelitten. Es war ein Fehler, die Paperback Ausgabe zu kaufen, aber ich musste ja unbedingt die preisgünstigste Übersetzung von Barbara Conrad haben. Der zweite Band war bei der Lektüre mehr beansprucht worden als der erste, das liegt daran, dass da noch hundert Seiten Nachwort, Verzeichnis der historischen Akteure, Personen des Romans und Anmerkungen im zweiten Band sind. Die lese ich immer zuerst, das ist eine déformation professionnelle. Mit der Übersetzung von →Barbara Conrad liegt seit 2011 wohl die beste deutsche Übersetzung des Romans vor. Die schlechteste möchte ich an dieser Stelle nicht unterschlagen. Die hat den Untertitel Aus dem Russischen übertragen und zeitgemäß bearbeitet und hat eine Länge von 752 Seiten. In der Übersetzung von Barbara Conrad hat der Roman 2.228 Seiten. Die Frau, die dieses zeitgemäß bearbeitete Machwerk auf dem Gewissen hat, heißt Hertha Lorenz. In dem Post Anna Karenina: Übersetzungen (der schon mehr als 5.000 Leser hat) wird einiges über ihre Übersetzungen gesagt.
Ein oben und unten der Qualität findet sich auch bei den Verfilmungen von Tolstois Roman, die es seit über hundert Jahren gegeben hat. Hier können wir Napoleon Bonaparte sehen, der gerade mit einer Generalstabskarte plant, Russland zu überfallen. Das Bild stammt aus Wladimir Gardins Film Война и мир aus dem Jahre 1915.
Von diesem Pionier des russischen Kinos gibt es eine Vielzahl von Filmen und Filmchen im Internet zu sehen, leider sind seine Filme Anna Karenina und Krieg und Frieden nicht dabei. Wir wissen aber, dass Pierre Besuchow im Jahre 1915 so ausgesehen hat wie der bebrillte Herr links. Wenn Sie einmal sehen wollen, was dieser Regisseur künstlerisch alles konnte, empfehle ich Ihnen den Film ✺Ein Gespenst geht um in Europa. Hat nichts mit Karl Marx zu tun.
Die nächste Verfilmung von Krieg und Frieden kam 1956 aus Hollywood. Es war die Geschichte von einem Mädchen, das einen Typ liebt und einen dritten heiratet, wie Daniel Pennac das so schön in seinem Buch Comme Un Roman gesagt hat. Ein glamouröses Starvehikel für drei Schauspieler. Ein Muss für Fans von Audrey Hepburn (und Anita Ekberg), viel mehr auch nicht. Wenn Sie noch einmal in den Film hineinschauen möchten, ich habe ✺Krieg und Frieden hier in ganzer Länge. Hollis Alpert schrieb im Saturday Review in seiner Rezension Tolstoy in VistaVision: it is only intermittently interesting and that aside from making a sort of pictorial sour-mash of the original work it is not particularly good movie-making.
Die dritte Verfilmung kam zehn Jahre später, ein →Monumentalfilm in vier Teilen, der insgesamt 432 Minuten lang war. Und vielleicht der teuerste Film aller Zeiten war. Geld spielte bei den Dreharbeiten keine Rolle, der russische Staat wollte Hollywood nicht dieses Thema überlassen. Ein überwältigend einzigartiger Film. Das größte Epos aller Zeiten. Etwas Vergleichbares werdet ihr nie wieder sehen, schrieb der Filmkritiker Roger Ebert. In der Welt konnte man 1968 lesen: Akribische Detailfreudigkeit, die malerische Behandlung und farbige Delikatesse eines sorgfältigen abgestuften Kolorits, die ruhige Schönheit großflächiger Landschaftsaufnahmen, die exzellente Kameraführung, die zuweilen mit einer optischen Kühnheit operiert, wie man sie bisher noch nie in Filmen dieses Genres gesehen hatte. Aber der Film brauchte lange, um wirklich bekannt zu werden. Die Mosfilm besaß nicht Hollywoods Vertriebssystem, um außerhalb des Ostblocks einen Film erfolgreich in die Kinos zu bringen. Selbst wenn der Film einen Oscar als bester ausländischer Film bekommen hatte. Aber in der DDR fand Krieg und Frieden 2.225.649 Zuschauer.
Der Film, der in jahrelanger ✺Arbeit entstanden war (der dritte und der vierte Teil des Films hatten erst 1967 Premiere), blieb im Westen erst einmal ein Geheimtip für Cinéasten. Das änderte sich aber, als er im westdeutschen Fernsehen gesendet wurde und zwei verschiedene Versionen des Films als DVDs auf den Markt kamen. 2006 erschien bei einer Firma namens Icestorm Entertainment der Film in der DEFA Synchronisation, aber ohne russische Originaltonspur. Die gab es erst 2021 bei der überarbeiteten Version der Firma →Bildstörung.
Der Regisseur Sergei Bondartschuk, der selbst die Rolle des Pierre Besuchow übernahm, hatte keine Audrey Hepburn. Seine Natascha hieß Lyudmila Savelyeva, sie kam vom Sankt Petersburger Ballett und hatte noch nie vor der Kamera gestanden. Und doch war sie im Film überzeugend. Und sie konnte natürlich gut tanzen, dafür widmete ihr Bondartschuk eine große ✺Szene. Sie können das alles überprüfen, ich habe den ganzen ✺Film hier in vier Teilen in HD-Qualität. Eine Division russischer Soldaten wirkte als Komparsen mit und spielte französische und russische Soldaten.
Beinahe zweitausend Textilfabriken nähten Kostüme und Uniformen. Da sich die Uniformen der russischen Armee zwischen der Schlacht von Austerlitz und der Schlacht von Borodino geändert hatten, mussten manche Komparsen (das betraf vor allem die Offiziere) zweimal eingekleidet werden. Bei den Dreharbeiten zur Schlacht von Borodino hatte Bondartschuk seinen ersten Herzanfall und musste wiederbelebt werden. Auch den zweiten Herzanfall während der Dreharbeiten überlebte er und drehte vier Jahre später ✺Waterloo. Mit einem Staraufgebot, aber ohne die künstlerische Brillanz und der optischen Kühnheit von Krieg und Frieden. Wenn es in diesem Film wirklich gute Kameraeinstellungen gab, dann waren das Wiederholungen aus Война и мир.
1972 kam Tolstois Roman →Krieg und Frieden als 20-teiliger Fernsehfilm von der BBC. Das Drehbuch schrieb →Jack Pulman, der für die BBC schon die Drehbücher für I, Claudius, The Portrait of a Lady, Jane Eyre, Crime and Punishment und David Copperfield geschrieben hatte. Man muss ihm lassen, dass er wirklich etwas von seinem Handwerk verstand, das war nicht bei allen Drehbuchautoren von Krieg und Frieden Verfilmungen der Fall. Anthony Hopkins spielte den Pierre Besuchow und Morag Hood war Natascha. Ich kann mich noch gut an den Film erinnern, denn ich habe beinahe alle Episoden im Fernsehen gesehen, da ARD und die Dritten Programme die Folgen sendeten. Es war für mich allerdings ein Schwarzweißfilm, da ich keinen Farbfernseher besaß.
Und obgleich ich den Roman immer noch nicht gelesen hatte, ahnte ich damals, dass dies eine der textgetreuesten Literaturverfilmungen war. Der Filmwissenschaftler James Monaco bezeichnete die BBC Serie in seinem Buch How to Read a Film summarisch als easily the best adaption of that classic in any medium. Und er sagt das am Anfang seines Buches noch etwas genauer: Of all the screen versions of 'War and Peace', for example, the most successful seems to me to have been the BBC's twenty-part serialization of the early 1970s; not necessarily because the acting or direction was better than the two- or six-hour film versions (although that is arguable), but only the serial could reproduce the essential quality of the saga - duration.
Nach beinahe einem halben Jahrhundert sind jetzt alle Teile der BBC Serie im Netz zu sehen (seit 2005 gibt es die Serie als DVD). Wenn Sie den ersten ✺Teil hier anklicken, bekommen Sie die ersten vier Episoden. Und auf der Seite können Sie auch noch die Links zu den Episoden fünf bis zwanzig anklicken. Die Fernsehserie hält sich ziemlich genau an den Roman. Wenn man Ende, vor dem Epilog (ab ✺2:00:00), der Zar den knienden Kutusow aufhebt, ihn auf die Wangen küsst und ihm den Georgsorden verleiht, dann steht das etwas anders im Buch: Am anderen Tage fand beim Feldmarschall ein Diner und Ball statt, an welchem der Kaiser teilnahm. Kutusow erhielt den Georgenorden erster Klasse, und der Kaiser erwies ihm hohe Ehren, aber alle wußten, daß der Kaiser mit dem Feldmarschall unzufrieden war. Als Kutusow auf dem Ball nach alter Gewohnheit aus der Zeit Katharinas beim Eintritt des Kaisers in den großen Saal ihm die eroberten Fahnen zu Füßen legen ließ, verfinsterte sich die Miene des Kaisers, und einige hörten seine Bemerkung: 'Alter Komödiant!'
Das sagt er im Film nicht, aber in der nächsten Szene wird das überdeutlich ins Bild gebracht, was im Roman steht: Die Unzufriedenheit des Kaisers mit Kutusow stieg in Wilna besonders deshalb, weil Kutusow die Bedeutung des bevorstehenden Feldzugs nicht begreifen konnte oder wollte. Als der Kaiser am folgenden Morgen den um ihn versammelten Offizieren sagte: »Sie haben nicht nur Rußland, sondern auch Europa gerettet«, begriffen alle, daß der Krieg noch nicht zu Ende sei. Nur Kutusow wollte das nicht begreifen und sprach offen seine Meinung aus, der neue Krieg könne Rußland keinen Vorteil bringen und seinen Ruhm nicht erhöhen. Er versuchte, dem Kaiser die Unmöglichkeit zu beweisen, neue Truppen auszuheben, und sprach von dem schweren Druck, der auf dem Volk laste, von der Möglichkeit eines Mißerfolgs und so weiter. Um den Alten zu schonen, übernahm der Kaiser selbst den Oberbefehl. Einige Veränderungen fanden im Generalstab statt.
Die 400-minütige Fernsehfassung des ZDF, die ich schon in dem Post Krieg und Frieden erwähnte, lasse ich lieber weg. Der Spiegel wusste damals zu sagen: Sie [die Schauspieler] alle aber können nicht überspielen, dass Tolstois Gefühlswirren vor historischem Hintergrund im wohltemperierten Euro-TV-Format doch ab und an nach Rosamunde Pilcher aussehen ... Wer die ganze dramatische Wucht des ausladenden Epos ermessen und in die viel beschworene Seele 'des heiligen Mütterchens Russland' blicken will, der muss wohl weiter auf die monumentale Kinoversion von Sergej Bondartschuk zurückgreifen – oder eben den Roman zur Hand nehmen. Der Film kostet bei Amazon als DVD 4,76€, der Preis sagt schon viel über die Qualität.
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