Freitag, 11. November 2016

häßliches Entlein


Nun trat der Herbst ein, die Blätter im Walde wurden gelb und braun, der Wind riß sie ab, sodaß sie umhertanzten, und oben in der Luft war es sehr kalt; die Wolken hingen schwer von Hagel und Schneeflocken, und auf dem Zaun stand ein Rabe und schrie: »Au, au!« vor lauter Kälte; ja, man konnte ordentlich frieren, wenn man daran dachte. Das arme Entlein hatte es wahrlich nicht gut. Eines Abends, als die Sonne schön unterging, kam ein ganzer Schwarm herrlicher, großer Vögel aus dem Busche; das Entlein hatte solche nie so schön gesehen. Sie waren ganz blendend weiß, mit langen, geschmeidigen Hälsen, es waren Schwäne. Sie stießen einen ganz eigentümlichen Ton aus, breiteten ihre prächtigen, langen Flügel aus und flogen von der kalten Gegend fort nach warmen Ländern, nach offenen Seen. Sie stiegen sehr hoch, und dem häßlichen, kleinen Entlein wurde es sonderbar zu Mute; es drehte sich im Wasser wie ein Rad rund herum, streckte den Hals hoch in die Luft nach ihnen aus und stieß einen so lauten und sonderbaren Schrei aus, daß es sich selbst davor fürchtete. O, es konnte die schönen, die glücklichen Vögel nicht vergessen, und sobald es sie nicht mehr erblickte, tauchte es gerade bis auf den Grund, und als es wieder heraufkam, war es gerade wie außer sich. Es wußte nicht, wie die Vögel hießen, nicht, wohin sie flogen, aber doch war es ihnen gut, wie es nie jemand gewesen. Es beneidete sie durchaus nicht; wie konnte es ihm einfallen, sich solche Lieblichkeit zu wünschen! Es wäre schon froh gewesen, wenn die Enten es unter sich geduldet hätten, das arme, häßliche Tier!

Das haben Sie erkannt, das ist Hans Christian Andersens Märchen Das häßliche Entlein (➱hier im Volltext). Die Lektüre von Andersens Märchen gehört zu den ➱Leseerlebnissen meiner Kindheit. Kleine ➱Meerjungfrauen schwimmen noch immer durch meine Träume, und auch das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen kann ich nicht vergessen. Hans Christian Andersens ist in diesem Blog immer wieder erwähnt worden, ich liste das mal unten auf. Und weil er immer wieder erwähnt wurde, dachte ich, dass ich heute nichts zu dem Märchen sagen müsste, das irgendwann einmal unser aller Wunschtraum gewesen sein kann. Klickte aber mal den ➱Wikipedia Eintrag an. Und kriegte den Mund nicht mehr zu. Was da stand, war kein seriöser Lexikonartikel eines Philologen. Was da stand war schamlose Reklame eines gewissen Mathias Jung für sein Buch Das hässliche Entlein: Die Erlösung vom Minderwertigkeitskomplex, das in einem Verlag namens EMU erschienen ist (gibt es auch als Audio CD). Der Verlag wird von Mathias Jungs Ehefrau geleitet und vertreibt die Schriften des umstrittenen Mediziners Max Otto Bruker. Und natürlich die beinahe unzählbaren Publikationen von Mathias Jung.

Dieser Herr Jung, der auch ähnliche Bücher über Rapunzel, Dornröschen und Blaubart geschrieben hat (alle im EMU Verlag erschienen), ist nach eigener Aussage Psychotherapeut und Philosoph. Und Gestalttherapeut: Als Gestalttherapeut und systemischer Paartherapeut begleite ich Menschen auf ihrem Weg durch Krisen zur Reifung. Ich hoffe, meine eigenen Lebensengpässe, Dummheiten und neurotischen Strukturen in den tiefenpsychologischen Schritten „Erinnern, Beweinen, Bewüten, Begreifen, Beenden“ durchgearbeitet zu haben. Ich lasse sie gelegentlich in der Sitzung demütig einfließen. Das schafft Vertrauen. Das macht das köstliche Elixier zwischen Therapeut und Ratsuchendem aus: Die Liebe zum Nächsten. Wenn Ihnen das noch nicht genug Gesülze ist, dann könnten Sie sich noch eine Stunde Platitüden in dem Video ➱Das JA und das NEIN in der Liebe ansehen.

Fünf Literaturangaben bei Wikipedia, fünfmal Mathias Jung. Keine renommierten Literaturkritiker, die etwas zu Andersen zu sagen hätten. Keine Erwähnung der Biographie von Jackie Wullschlager (➱Hans Christian Andersen: The Life of a Storyteller). Keine Erwähnung des berühmten Bruno Bettelheim, der etwas zu dem häßlichen Entlein zu sagen hatte. Nur Dr Mathias Jung. Ich muss diesem Unsinn mal eben etwas entgegensetzen. Nämlich dieses Buch: ➱Hans Christian Andersen: European Witness. Erschienen nicht beim EMU Verlag, sondern bei der Yale University Press. Der Autor Paul Binding hat in Oxford studiert und war Redakteur bei der Oxford University Press und beim New Statesman. Sie können Teile seines Buches über Andersen ➱hier lesen. Es ist auf einem anderen Niveau als die Schriften des Mathias Jung. Der englische Wikipedia Eintrag ist übrigens so, wie ein Lexikonartikel sein soll, dort wird zum Beispiel auch Bruno Bettelheim erwähnt. Der Artikel enthält auch einen interessanten Link zu einer englischen Textausgabe mit Kommentaren.

Im Garten kamen da einige kleine Kinder, die warfen Brot und Korn in das Wasser, und das kleinste rief: »Da ist ein neuer!« Und die anderen Kinder jubelten mit: »Ja, es ist ein neuer angekommen!« Sie klatschten mit den Händen und tanzten umher, liefen zum Vater und zu der Mutter, und es wurde Brot und Kuchen in das Wasser geworfen, und sie sagten alle: »Der neue ist der schönste, so jung und so prächtig!« Und die alten Schwäne neigten sich vor ihm.
        Da fühlte er sich beschämt und steckte den Kopf unter seine Flügel; er wußte selbst nicht, was er beginnen sollte, er war allzu glücklich, aber durchaus nicht stolz; denn ein gutes Herz wird nie stolz! Er dachte daran, wie er verfolgt und verhöhnt worden war, und hörte nun alle sagen, daß er der schönste aller schönen Vögel sei; selbst der Flieder bog sich mit den Zweigen gerade zu ihm in das Wasser hinunter, und die Sonne schien warm und mild. Da brausten seine Federn, der schlanke Hals hob sich und aus vollem Herzen jubelte er: »So viel Glück habe ich mir nicht träumen lassen, als ich noch das häßliche Entlein war!«

Man kann das als die Geschichte des Hans Christian Andersen (hier im ➱Frack) lesen. Man braucht es aber nicht zu tun. Natürlich ist Literatur häufig autobiographisch, aber das literarische Werk nur auf eine biographisch psychoanalytische Ebene zu reduzieren, ist doch ein wenig abgeschmackt. Vor allem, weil die Sache meistens von Amateurpsychologen betrieben wird. Was hat man da nicht alles Hemingway angetan, nur weil er als Kind mal ➱Mädchenkleider getragen hat. Gut, Andersen ist das häßliche Entlein, das davon träumt, ein Schwan zu sein. Aber Andersen ist auch die kleine Meerjungfrau, das Mädchen mit den Schwefelhölzchen und das kleine Mädchen, das uns sagt, dass der Kaiser nackt ist.


Noch mehr über Hans Christian Andersen in den Posts: I skovens dybe stille ro, Nachtigallen, Cantate, Meerjungfrauen + Waldnixen, Märzveilchen, Berlin, Vilhelm Marstrand, Bertel Thorvaldsen, Kreidefelsen, Kleider machen Leute, Calvin Klein, Seeschlacht, Frisia non cantat, Mein Dänemark, silvae: Wälder: Lesen

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