Freitag, 19. Januar 2024

Jerusalem


Ich hörte mich durch die CD, die ich gerade gekauft hatte. Ich wusste nicht, was mich erwartete. Das weiß man bei einem Titel wie Kosmos und Fragment ja wirklich nicht. Ich hatte mir die CD gekauft, weil ich von der Pianistin Marie Rosa Günter schon eine CD besaß. Ihre Aufnahme der Goldberg Variationen habe ich schon in den Posts Variationen und Kraut und Rüben erwähnt. Dies war ihre zweite CD bei dem kleinen, aber feinen, Label Genuin. Es ist viel Beethoven auf der CD, die berühmte Hammerklavier Sonate und die Bagatellen Opus 126. Ich lasse das mal für einen Augenblick weg. Ich bin ja noch beim Durchhören der CD. Was mich erstaunte, war ein Musikstück, das ich überhaupt nicht kannte, das ich aber beinahe mitsingen konnte.

Wenn Sie jedes Jahr die BBC Übertragung der Last Night of the Proms sehen, können Sie das auch mitsingen. Es war die Melodie von Sir Hubert Parrys Chorlied Jerusalem, das ähnlich wie Elgars Land of Hope and Glory eine zweite oder dritte Nationalhymne Englands geworden ist. Hier sang kein Chor, hier spielte nur Marie Rosa Günter Ulrich Kallmeyers 6 Variationen über Charles Hubert Hastings Parrys Hymne 'Jerusalem' ohne die Orchestrierung von Edward Elgar. Eine Welturaufführung.

Das Oxford Advanced Learner's Dictionary sagt uns zu Jerusalem: a famous poem (1804) by William Blake, later set to music by Hubert Parry (1848-1918). It expresses the hope for a future Christian society in ‘England's green and pleasant land’ to replace the horrors of ‘the dark Satanic mills ’ of the Industrial Revolution. It is traditionally sung at the Last Night of the Proms as well as by Women's Institutes and in churches. Wenn das Lexikon etwas genauer wäre, dann hätte da noch stehen können, dass die Church of England das Wort Jerusalem als Metapher für den Himmel, den Ort des Friedens und der Liebe gebrauchte. Das gilt natürlich nicht für die Stadt Jerusalem in diesen Tagen.

Blakes Gedicht findet sich in diesem Blog schon in dem Post Brexit?, und zu William Blake gibt es hier den Post Tyger, Tyger. Ein Post, der in den letzten dreizehn Jahren mehr als fünftausend Mal gelesen wurde. Die Deutsche Gedichtebibliothek hat eine Übersetzung des Gedichts:

Und schritten jene Füße einst
auf Englands grünen Bergeshöhn?
Und ward das heil'ge Gotteslamm
auf Englands Auen je gesehn?

Erschien das heil'ge Angesicht
im Wolkenhimmel überm Berg?
Und ward Jerusalem hier erbaut
inmitten düsterm Teufelswerk?

Bringt mir den Bogen lohen Golds:
Bringt mir die Pfeile der Begier:
Bringt mir den Speer: Gewölk, reiß auf!
Bringt meinen feurig' Wagen mir!

Ich lass' nicht ab vom geist'gen Streit,
nicht ruh' das Schwert mir in der Hand,
eh' wir Jerusalem erbaut
in Englands grünem, schönem Land

Die Übersetzung ist von Bertram Kottmann, einem sehr guten Übersetzer, der in diesem Blog shon in den Posts Narzissen und Wintersonnenwende erwähnt wird. Die aus diesem Gedicht immer wieder zitierten dark satanic mills übersetzt Kottmann mit düsterm Teufelswerk. Was hat Blake eigentlich damit gemeint? Im →Guardian findet sich eine sehr interessante Seite, die dieser Frage nachgeht. Und da gibt es neben der landläufigen Interpretation, die auf die Industrial Revolution hinweist, noch etwas ganz anders: Blake's dark satanic mills are indeed the orthodox churches of the establishment. But they were all churches, all forms of worship, all formal education, and anything that attempted to mould the mind into orthodoxy and received opinion. Blake is the radical's radical. Dies ist eine Interpretation, die neuerdings häufiger gehört wird. Der englische Wikipedia Artikel zu Blakes Jerusalem hat noch einen Link zu Romanticism and the Industrial Revolution. Da findet sich viel zur Industriellen Revolution, aber es gibt nur sechs Zeilen zur Haltung der Romantiker. Da steht in meinem Post Touristen mehr zu dem Thema.

Blake gibt uns keine Antwort auf die Frage And did those feet in ancient timeWalk upon England’s mountains green? And was the holy Lamb of God On England’s pleasant pastures seen? Die Frage, ob Jesus jemals in England gewesen ist. Angeblich soll es eine Legende geben, wonach Jesus in der Begleitung von Joseph von Arimathea in Glastonbury gewesen sei. Aber A. W. Smith sagt uns in seinem Aufsatz ‘And Did those Feet...?’: the ‘Legend’ of Christ's Visit to Britain: there was little reason to believe that an oral tradition concerning a visit made by Jesus to Britain existed before the early part of the twentieth century. Wahrscheinlich spielt Blake auf etwas an, was sich in Miltons History of Britain (hier im Volltext) findet, die Geschichte, dass Joseph von Arimathea nach dem Tod von Jesus nach England ging, um das Evangelium zu predigen. Wir müssen immer bedenken, dass Blakes Gedicht ja das Vorwort zu  Milton: A Poem gewesen ist.

Es würde jetzt nicht passen, auf die Bethoven CD von Marie Rosa Günter, auf der die Variationen zu Parrys Jerusalem ja nur acht Minuten und neunundvierzig Sekunden ausmachen, zurückzukommen. Blake und Beethoven haben wenig miteinander gemein. Oder doch ganz viel, sagt uns Maria Popova auf ihrer Seite themarginalian, so sie einen Artikel Blake, Beethoven, and the Tragic Genius of Outsiderdom hat. Die Zeitschrift hieß vorher Brain Pickings, und die konstruierte Verbindung zwischen Blake und Beethoven stammt nicht aus Popovas Feder. Das hat sie an einer anderen Stelle aufgepickt: es steht in Alfred Kazins Vorwort zu The Portable William Blake. Lesenswert ist es auf jeden Fall.

Ich komme irgendwann auf die CD Kosmos und Fragment zurück und schreibe einen Post über Beethovens Hammerklaviersonate Op. 106. Da Marie Rosa Günters Einspielung nicht im Internet ist (es gibt dazu nur einen Trailer), begnügen wir uns einmal mit der Interpretation von Igor Levit. Die zurzeit sicherlich das Beste ist, das es gibt. Auf jeden Fall mit 35 Minuten und 20 Sekunden das Schnellste. Für Puristen gibt es das auf zwei Langspielplatten. Oder hier hier zum Anklicken.

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