Samstag, 8. Juni 2024

Kafka?


Das große Ereignis im Sommer 1965 an der Uni Hamburg war (neben dem Besuch der englischen Königindie an der Uni vorbeifuhr) der Professor Walter H. Sokel. Der war aus Amerika gekommen, um über Kafka, Musil und Broch zu lesen. Das Audimax war mit dreitausend Studenten bis an den Rand gefüllt. Die Vorlesung wurde mit einem Tonbandgerät aufgenommen und am nächsten Tag im Audimax noch einmal abgespielt. Da kamen auch noch mal tausend Studenten. Ich war auf die Vorlesung gut vorbereitet. Kafka hatte ich gelesen, aber ich hatte auch schon Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften und Die Verwirrungen des Zöglings Törleß gelesen. Hermann Brochs Roman Der Tod des Vergil las ich im Zug zwischen Bremen und Hamburg. Ich hatte eine Monatskarte erster Klasse, die damals für Studenten spottbillig war. Den Tarif hat es nie wieder gegeben. Ich fuhr häufig nach Bremen zurück, weil meine Studentenbude in St Pauli ganz furchtbar war. 

Leider kamen Musil und Broch in der Vorlesung Sokels so gut wie gar nicht vor, weil er sich auf Kafka konzentrierte. Sein Buch Franz Kafka: Tragik und Ironie aus dem Vorjahr hatte ihn als Experten berühmt gemacht. Bevor Sokels 636-seitiges Buch erschien (das es später auch als Fischer Taschenbuch gab) kümmerte sich eigentlich niemand um den Mann aus Prag, der sein unvollendetes Werk bei seinem Tod vernichtet sehen wollte. Walter Herbert Sokel war 1938, als die Nazis kamen, aus Wien in die USA emigriert, da war er einundzwanzig. Ein Empfehlungsschreiben von Thomas Mann verschaffte ihm ein Stipendium an der Rutgers Universität, von der er zur Columbia Universität wechselte, wo er 1953 promovierte. Danach wurde er Professor in Stanford und an der University of Virginia

Alles, was er zwischen 1966 und 1997 über Kafka schrieb, kann man in dem Buch The Myth of Power and the Self: Essays on Franz Kafka lesen (bei Google Books die ersten 73 Seiten). Walter Sokel is among the most eminent Kafka scholars, and his book 'Franz Kafka, Tragik und Ironie' (1964) is a 'classic' of early Kafka criticism. Since 'Tragik und Ironie' has never been translated into English, the present book, which contains fifteen essays written since 1966 (three of them published for the first time), has a special importance for the English-speaking reader interested in Kafka, schreibt Eyal SegalIf 'Tragedy and Irony' is the start of any good Kafka library, it is clear that 'The Myth of Power and the Self' is the other bookend, hat die Professorin Ruth Gross über das Buch gesagt. Maria Luise Caputo-Mayr, die 1987 eine kommentierte Bibliographie der Sekundärliteratur erstellt hatte, hat Sokel The world's most eminent Kafka scholar genannt. Für die TAZ war er der Nestor der Kafka Forschung. So berühmt er für die Rezensenten ist, einen Wikipedia Artikel sucht man vergebens, den gibt es nicht. Aber als er 2014 im Alter von sechsundneunzig Jahren starb, hatte die New York Times einen Nachruf für ihn. Bei Google Books gibt es ein sehr langes Interview mit Sokel, in dem man viel über die Situation der Emigranten in Amerika erfährt. Es sind ja die deutschen und österreischen Emigranten, die Kafka in Amerika bekannt machen. Und ich habe hier noch bei der Österreichische Mediathek ein siebzigminütiges interessantes Interview mit ihm.

Sokels Vorlesung war gut, da gibt es gar nichts. Aber nach dem Ende des Semesters habe ich meine schöne Vorlesungsmitschrift sorgfältig weggelegt, das war's mit Kafka für mich. Die schwere Kafka Phase, die ich mal gehabt hatte, war überwunden. Kafka steht jetzt unter K im Regal, seine Erzählungen, seine Briefe, die zwei Fassungen von Beschreibung eines Kampfes und ein paar Bände Sekundärliteratur. Ich habe noch alles gelesen, was Klaus Wagenbach über Kafka geschrieben hat, weil man Wagenbach immer lesen kann. Wenn ich an die Hamburger Vorlesung zurückdenke, fällt mir als Erstes nicht Kafka ein, sondern die schöne junge Frau mit dem Pagenschnitt und dem weinroten Burberry, die in der siebten Reihe saß. Die schaute häufig zu mir herüber. Und zog sich am Ende  der Vorlesung ganz, ganz langsam ihren Burberry Mantel an. Hätte ich zu ihr hinüber gehen sollen? Wäre das was mit uns geworden? 

Martin Walser konnte sich nicht so schnell von Kafka trennen wie ich. Sein wunderbares kleines Buch Des Lesers Selbstverständnis: Ein Bericht und eine Behauptung (hier im Volltext) beginnt mit dem Geständnis: Als ich, um meine Mutter nicht zu enttäuschen, eine Dissertation schreiben sollte, blieb mir nichts anderes übrig, als über den Autor zu schreiben, der mich während meiner Studentenjahre gehindert hatte, andere Autoren wirklich zu lesen: Franz Kafka. Aber als ich über ihn schreiben wollte, stellte sich heraus, daß ich ihn nicht verstanden hatte. Aber so einfach wie ich hat Walser den unseligen Einfluss von Kafka nicht abschütteln können, noch sein erstes Werk Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten erinnerte alle Rezensenten an Kafka. Ein Kafka Schüler kämpft sich frei, schrieb Hans Egon Holthusen. Glücklicherweise für mich als Leser hat Walser dann aber irgendwann den Einfluss Kafkas abgestreift.

Vor hundert Jahre starb nicht nur Franz Kafka, 1924 starb auch Joseph Conrad. Der sicher ein bedeutenderer Schriftsteller als Kafka ist. Aber wird um den ein solches Gewese gemacht, wie jetzt bei uns in Deutschland? Ich kann Joseph Conrad jederzeit ein zweites und ein drittes Mal lesen, bei Kafka gelingt mir das nicht. Obgleich Albert Camus in Die Hoffnung und das Absurde im Werk von Franz Kafka (der sich im Anhang zu Der Mythos des Sisyphos findet) sagt: Kafkas ganze Kunst besteht darin, den Leser zum Wiederlesen zu zwingen. Seine Lösungen oder auch der Mangel an Lösungen lassen Deutungen zu, die nicht klar ausgesprochen werden und, um begründet zu erscheinen, eine nochmalige Lektüre unter einem neuen Gesichtspunkt verlangen. 

Zur Hundertjahrfeier ist Kafka, der sein Werk als Fragment hinterließ und es vernichtet haben wollte, jetzt überall. In meinem Heimatort gibt es heute Abend in der Kirche St Martini Kirche von Burg-Lesum, wo mein Klassenkamerad Mille mal Pastor war, eine Veranstaltung, die Kafka in der Kirche? heißt. Quer durch Deutschland gibt seit seinem Todestag am 3. Juni ähnliche Veranstaltungen. Und Kafka ist natürlich im Fernsehen. Bei arte gibt es Der Prozess in der Verfilmung von Orson Welles; und Daniel Kehlmann hat für die ARD einen Sechsteiler geschrieben, der natürlich in der Mediathek ist. 

Als Basis für die Darstellung von Kafkas Leben hat Kehlmann die dreibändige Kafka Biographie von Reiner Stach genommen, der an dieser Biographie achtzehn Jahre gearbeitet hatte. Reiner Stach ist auch bei arte in der Sendung Kennen Sie Kafka? zu sehen. Aber Stach ist nicht der einzige, der über Kafkas Leben schreibt. Zu nennen wäre da noch der Professor Bernd Neumann (der nicht mit meinem Schulkameraden verwechselt werden sollte), der mehrere Bücher über Kafka geschrieben hat. Wenn Sie wollen, können Sie hier etwas von ihm lesen. Der normale Leser wird sich die zweitausend Seiten von Stachs Biographie wahrscheinlich nicht antun. Normalerweise würde ich einen Autor wie Rüdiger Safranski empfehlen, aber sein Kafka Buch, das pünktlich zum Jahr 2024 erschien, hat keine guten Kritiken bekommen. Safranski ist auch nicht mehr der, der er einmal war. Vielleicht ist Franz Kafka von Ludwig Dietz ein guter Einstieg. Die Sammlung Metzler hatte immer erstklassige Bücher, die Bände zu Edgar Allan Poe und Theodor Fontane habe ich schon in den Himmel gehoben.

In der Kafka Serie hat Daniel Kehlmann auch an einem Drehtag mitgespielt, da war er Arthur Schnitzler. Arthur Schnitzler war der einzige Schriftsteller, den Kafka nicht ausstehen konnte. Bei ihm wurde er geradezu ausfällig, hat Kehlmann gesagt. Falls Sie vor zwölf Jahren den Post Arthur Schnitzler gelesen haben sollten, dann wissen Sie das schon. Da findet sich ein langes Kafka Zitat, in dem er sich über Schnitzler auslässt. Ich mag Schnitzler sehr. Der Post Reigen beginnt mit dem Satz: Wenn Sie die Posts Arthur Schnitzler, die richtigen Männer und Radetzkymarsch gelesen haben, dann wissen Sie, dass ich Arthur Schnitzler mag. Kafka mag ich nicht so sehr. Und deshalb kommt er in diesem Blog kaum vor.

Wenn man Kafka liest, kann es einem schnell passieren, dass man das Buch am liebsten gleich wieder zuklappen und mit Karacho an die Wand werfen würde. So ging es vielen meiner Freund*innen in der Schule. Was ergibt schon Sinn daran, wenn ein Mann eines Morgens als Käfer in seinem eigenen Bett aufwacht? Und trotzdem sollten wir im Unterricht irgendwas in Die Verwandlung hineininterpretieren. Ich gebe zu: Ich habe den Text damals auch nicht verstanden. Das tu ich heute immer noch nicht. Leider kann ich niemandem so richtig erklären, was Kafkas Werke als gehobene Literatur auszeichnet. Der letzte Satz konnte von mir sein. Er ist aber von dem Kafka Biographen Reiner Stach. Das finde ich sehr beruhigend. Der Franzose Daniel Pennac hat in seinem Buch Wie ein Roman eine Liste der unantastbaren Rechte des Lesers aufgestellt. Die ersten drei Punkte heißen: 1. Das Recht, nicht zu lesen. 2. Das Recht, Seiten zu überblättern. 3. Das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen. Die Begründung des Satzes vom Recht nicht zu lesen, können Sie hier im französischen Original lesen. Ich nehme mal diese Rechte in Anspruch.

1 Kommentar:

  1. https://litterae-artesque.blogspot.com/2023/11/kafka-franz-forschungen-eines-hundes.html

    Da hab ich doch mal was von Kafka bis zur letzten Zeile gelesen. Ein Versuch, mich dem Thema zu nähern. Buchige Grüße.

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