Sonntag, 26. Januar 2020

Philologen


Mein Freund Peter hat mich mal einen Borderline Philologen genannt, das fand ich sehr witzig. Aber es traf zu, einen Text allein sprachlich zu analysieren, genügte mir nicht. Mich interessierten nicht so sehr die Grammatik und die sprachlichen Mittel als das, was hinter dem Text stand. Dennoch habe ich den größten Respekt vor guten Philologen, vor allem vor den Altphilologen, die uns die Kultur der Antike nahebringen. Ob sie nun Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff oder Karl Kerényi heißen. Oder Friedrich Nietzsche, der vom furchtbar-schönen Gorgonenhaupt des Klassischen gesprochen hat. Wir müssen einfach, weil wir nicht anders können, weil wir keine entsprechendere Lebenslaufbahn vor uns haben, weil wir uns zu anderen nützlicheren Stellungen einfach den Weg verrannt haben, weil wir gar kein anderes Mittel haben, unsre Constellation von Kräften und Ansichten unsren Mitmenschen nutzbar zu machen als eben den angedeuteten Weg. Schließlich dürfen wir doch nicht für uns leben. Sorgen wir nach unserem Theil dafür, daß die jungen Philologen mit der nöthigen Skepsis, frei von Pedanterie und Überschätzung ihres Fachs, als wahre Förderer humanistischer Studien sich gebärden. Soyons de notre siècle, wie die Franzen sagen: ein Standpunkt, den niemand leichter vergißt als der zünftige Philolog, hat der Altphilologe Friedrich Nietzsche über seinen Beruf gesagt.

Dieses soyons de notre siècle kann in der Literaturwissenschaft eine gefährliche Sache sein. Die Germanistik hat das im Dritten Reich bewiesen. Elisabeth Frenzel, die für Alfred Rosenberg und die Hohe Schule der NSDAP arbeitete, schrieb Dinge wie Der Jude im Theater. Eine Broschüre, die später als eine der übelsten antisemitischen Publikationen aus germanistischer Feder überhaupt bezeichnet wurde. Nach dem Kriege verfasste Frenzel Nachschlagewerke wie Daten Deutscher Dichtung, das war eine sichere Sache. Die gesinnungstreuen Ex-Nazis, die überall Blut und Boden und Germanentum in der Literatur entdeckt hatten, duckten sich jetzt alle weg. Es wurde die große Zeit der textimmanenten Interpretation, viele waren jetzt dankbar, dass es den amerikanische New Criticism gab. In dem Post über Robert Penn Warren habe ich geschrieben:

Warren gehört als Literaturkritiker zu einer Gruppe, die man New Critics nennt (und die manchmal auch Agrarians oder Fugitives genannt werden). Der New Criticism möchte mit seiner Methode des close reading die Literaturkritik auf eine wissenschaftliche Basis stellen. Nun sollte man meinen, dass ein close reading, ein genaues Lesen des Textes, der erste Schritt eines Literaturwissenschaftlers ist. Das interessiert an deutschen Universitäten heute niemanden mehr. Da werden keine Texte mehr gelesen, da werden Theorien von spinnerten Franzosen aufgesagt. Das ist jetzt modern.

In einem der letzten Auftritte der Münchener Lach- und Schießgesellschaft hatte Henning Venske eine Seite aus einem poststrukturalistischen Theoriewerk vorgelesen. Das Publikum hat sich vor Lachen gebogen. Die armen Pisa-Schüler, die jetzt arme Bachelorstudenten sind, können darüber nicht lachen. Die müssen das lernen. Da wünscht man sich manchmal, dass ein Exorzist daherkommt und den ganzen Spuk vertreibt. Dann könnte man wieder von Neuem anfangen. Und Robert Penn Warrens Understanding Poetry und Understanding Fiction als Basiswerke des Literaturunterrichts nehmen. Understanding Poetry ist ein solides, vernünftiges Buch, Textbuch und Arbeitsbuch in einem. Die ganze Welt der englischsprachigen Dichtung auf 600 Seiten.

Aus den Absätzen kann man einen gewissen Hass herauslesen, ich hatte die Uni gerade hinter mir gelassen, und was ich da in den letzten Jahren erlebt hatte, war nicht schön gewesen. Der Kaiser hatte neue Kleider bekommen, aber es war kein kleines Mädchen da, das sagte: Aber er hat ja gar nichts an! 1968 hatte den Marxismus in die Literaturwissenschaft gebracht, danach kam alles Mögliche: Post-Marxismus, Strukturalismus, Poststrukturalismus, Feminismus, Postkolonialismus und was es sonst noch so gibt. Hauptsache, es endete auf -mus oder -ism. Das wilde Denken von Roland Barthes (der die Licence in Klassischer Philologie besaß) nahm ich ja noch hin, weil er witzig war. Aber bei Foucault, Lacan und Derrida hörte bei mir der Spaß auf. Für wen schrieben diese Leute? Sie bekamen schnell ihre eigenen universitären Fanclubs. Der deutsche Philosoph Odo Marquard hat einmal gesagt: Philosophen etwa, die nur für Philosophen philosophieren, und davon gibt es viele, handeln ebenso unsinnig wie Sockenhersteller es täten, die Socken nur für Sockenhersteller herstellten. Man kann das leicht auf die Literaturwissenschaft übertragen.

Der Philosoph Paul Feyerabend hat, seinen nahen Tod vor Augen, über den unverständlichen Stil vieler Philosophen gesagt: Liegt es vielleicht am Wunsch, großartig, tief und philosophisch zu wirken? Aber was ist wichtiger? Von Außenstehenden verstanden oder als 'tiefer Denker' betrachtet zu werden? Auf einfache Weise zu schreiben, so daß es ungebildete Leute verstehen können, bedeutet keineswegs Oberflächlichkeit. Ich rate dringend allen Autoren, die ihren Mitmenschen etwas mitteilen wollen, sich nicht mit Philosophie zu beschäftigen, und wenn sie es schon tun, sich nicht von Obskuranten wie Derrida einschüchtern und beeinflussen zu lassen, sondern stattdessen Schopenhauer oder Kants volkstümliche Schriften zu lesen.

Ich möchte noch etwas zitieren, was ich in dem Post Eric Hobsbawm geschrieben habe: Selbst zu der Zeit, als ich noch wissenschaftliches Zeuch schrieb, war ich dafür verrufen, dass ich verständlich schrieb. Meine Ideale in der Welt der Kulturgeschichte sind nun mal nicht die Leute, die den Derridada singen und den Lacancan tanzen. Diese herrlich bescheuerte Formulierung ist wohl nicht neu, ich habe sie im Internet gefunden. Leider ist diese Seite mittlerweile verschwunden, aber von der Adresse war ich auf die allerschönste Seite gekommen. Und da steht unter einem beeindruckend klingenden Artikel: The essay you have just seen is completely meaningless and was randomly generated by the Postmodernism Generator. Cool, ein Postmodernism Generator und eine Dada Engine im Internet, mit der man imposant klingende Texte generieren kann. Dass der Professor Alan David Sokal mit einer Wissenschaftssatire den ganzen Poststrukturalismus demontierte, das steht schon in dem Post Der wissenschaftliche Witz. Ich möchte das ganze unerfreuliche Thema mit einem kleinen witzigen Gedicht von Uli Becker abschließen:

Gott ja, die Postmoderne, sagt der Minirock
zum Existenzialistenrolli, anything goes
und alles kommt wieder, für 15 Minuten.

Die poststrukturalistischen Sockenhersteller stricken immer noch Socken, aber ich brauche das glücklicherweise nicht mehr zu ertragen. Ich bin jetzt Blogger, und Blogger sind Essayisten. Mein Blog ist frei von poststrukturalistischen Vokabular, wahrscheinlich habe ich deshalb so viele Leser. Und auch wenn ich ein Borderline Philologe bin, bin ich doch immer noch Philologe. Wolfgang Stammlers Deutsche Philologie im Aufriß, 3.300 Seiten stark, steht bei mir im Regal. Ich habe von Leo Spitzer, von Herman Meyer und Walther Rehm mehr über Literatur gelernt, als von der ganzen französischen Poststrukturalisten Bagage, deren Schriften ein aufgedrucktes Verfallsdatum haben. Ich schreibe das heute, weil ich ein wenig Werbung für eine Neuerscheinung machen möchte. Das Buch heißt Exemplary Writings of Wolfgang Plenio: On the Occasion of his 90th Birthday. Sie können es hier im Volltext lesen. Die Herausgeber sind Joachim Reppmann (der schon in dem Post Friedenspfeife erwähnt wird) und Gordon Marino. Das ist der Philosophieprofessor, der in dem Post Exis eine Hauptrolle hat. Der emeritierte Germanistikprofessor Norman Watt hat die Schriften von Wolfgang Plenio sehr schön ins Englische übersetzt.

Dr Wolfgang Plenio ist der Lateinlehrer von Yogi Reppmann am Alten Gymnasium in Flensburg gewesen, zu seinem achtzigsten Geburtstag hat der Yogi im Flensburger Tageblatt eine Laudatio in lateinischer Sprache veröffentlicht, die mit dem Satz Sit melior pars vitae futura! endete. Zum neunzigsten Geburtstag von Wolfgang Plenio vor zwei Wochen sollte es etwas mehr für den Mann sein, der nach seinem Wirken als Pädagoge hunderte von Beiträgen für das Feuilleton von Flensburger Tageblatt und shz schrieb. Und so entstand das kleine Buch, das in Amerika verlegt wurde und den Amerikanern ein wenig von der deutschen Philologie bringen kann. Nach einem Amerikabesuch, wo er zu dem Deutschen Fest am Carleton College in Northfield eingeladen war, sagte Plenio: there is much to be learned from the way this event in middle America celebrates the language of another culture. Es wäre schön, wenn amerikanische Leser das auch über dieses Buch sagen könnten.

Das dritte Kapitel des Buches beginnt mit einem Hölderlin Zitat, dem berühmten Voll Güt ist; keiner aber fasset Allein Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. Ich möchte mit einem anderen Hölderlin Zitat schließen: Was bleibet aber, stiften die Dichter, heißt es in Hölderlins Andenken. Können wir dieses Gedicht verstehen, ohne einen Philologen zu bemühen? Sobald das unreflektierte Weiterleben der Poesie problematisch und der Abstand der Zeiten zwischen Entstehung und der späteren Präsentation von Dichtung bewußt geworden ist, muß zum produktiven Dichter und reproduktiven Sänger als dritter der interpretierende Philologe hinzutreten, sagt Heinz Schlaffer. Da ist er wieder der Philologe. Wir brauchen ihn, wir sollten dankbar sein, dass es ihn gibt.

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