Donnerstag, 13. August 2020

Lehrerin


Es ist zu heiß, um etwas Neues zu schreiben, man sollte die Beine im Wasser baumeln lassen wie diese Dame, die sie noch aus dem Post vom Dienstag kennen. Ich stelle noch mal etwas Älteres ein, das hier vor genau sieben Jahren stand. Der Post über die Bremer Pädagogin Betty Gleim hatte damals wenig Leser gehabt, wenige Tage später hatte der Post über Roman Polanski abertausende von Lesern. Wenn man über Polanski schreibt, oder über die schönen Beine der Viscountess Castlerosse, dann bekommt man viele tausend Leser. Ich gebe gerne zu, dass ich Klatsch und Tratsch liebe, aber manchmal sollte man auch ernsthaft sein. Und sub specie aeternitatis ist die Lebensleistung von Betty Gleim größer als die der Viscountess mit ihren Sexaffairen. Der Post begann 2013 mit gehässigen Bemerkungen über die damalige schleswig-holsteinische Kultusministerin Wara Wende, die lasse ich jetzt mal weg. Frau Wende war auch kurz danach keine Ministerin mehr. Der Post über sie hatte über fünftausend Leser, es wäre mir lieber gewesen, wenn der Post über Betty Gleim so viele Leser gehabt hätte.

Betty Gleim wurde als Adelheid Gleim heute vor 239 Jahren geboren, aber irgendwann veränderte sich ihr Vorname in Ilsabetha. Woraus dann Betty wurde. Sie ist heute beinahe vergessen, viele Professoren der Pädagogik kennen sie nicht. Und doch war Betty Gleim eine Revolutionärin der Pädagogik. Und eine Pionierin des Kampfes um die Rechte der Frauen. In ihrer Heimatstadt Bremen kennt man sie vielleicht noch, es gibt im Ostertorviertel eine Gleimstraße. Man kennt sie vielleicht auch noch als die Verfasserin des Bremischen Kochbuchs. Das natürlich ein Rezept für das Bremer Nationalgericht Kohl und Pinkel enthält. Als ich darüber schrieb, habe ich sie natürlich erwähnt. Es ist jetzt zwar nicht die richtige Zeit für das norddeutsche Grünkohlgericht, aber ich kann den mit Liebe geschrieben Post Kohl und Pinkel unbedingt zur Lektüre empfehlen. Das Bremische Kochbuch wird ihr erfolgreichstes Buch werden, es erlebt bis 1892 dreizehn Auflagen. Man wünschte sich, dass ihr Buch Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts: Ein Buch für Eltern und Erzieher auch solche Akzeptanz gefunden hätte.

Die Bremischen Biographien des neunzehnten Jahrhunderts haben für Betty Gleim nur sechs Zeilen übrig, verweisen aber in den Anmerkungen auf den Eintrag in der Allgemeinen Deutschen Biographie. Es gibt inzwischen  erstaunlicherweise auch einen Wikipedia Artikel (der genauso lang ist wie der von Frau Wara Wende). Mehr noch findet sich natürlich in dem Buch von August Kippenberg Betty Gleim: Ein Lebens- und Charakterbild. Als Beitrag zur Geschichte der deutschen Frauenbildung und Mädchenerziehung, zugleich erwachsenen Töchtern eine Mitgabe für das Leben (Bremen 1882). August Kippenberg (der Vater des berühmten Anton Kippenberg) ist ein fortschrittlicher Pädagoge gewesen, der manche Ideen von Betty Gleim in die Tat umgesetzt hat. Die Schule, die er begründet hat, gibt es heute immer noch.

Betty Gleims Vater, der Weinhändler Johann Christian Gottlieb Gleim, war von Halberstadt nach Bremen gezogen und hatte die Nichte des Bürgermeisters Franziskus Tidemann geheiratet. Weinhändler in einer Hansestadt zu sein, bedeutet ganz oben bei den Pfeffersäcken zu sein. Und wenn Johann Christian Gottlieb Gleim auch nicht so reich ist wie der Vater von Doris Finke, so reicht es doch für eine gute Erziehung der Tochter. Sie ist auch in ihrer Jugend weit gereist. Und hat offene Augen für die Welt gehabt. In England lernt sie lithographische Anstalten kennen, eine solche wird sie eines Tages in Bremen auch gründen, um dem weiblichen Geschlechte die wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erleichtern. Ich erwähne Doris Finke aus dem Grund, weil sie eines Tages Klaus Groth heiraten wird und in ihren Briefen und Tagebüchern ein Bild einer hanseatischen Weinhändlerfamilie zeichnet. Aber bei den Halberstädter Gleims ist einiges anders, denn Johann Christian Gottlieb Gleim ist der Neffe des Dichters Johann Wilhelm Ludwig Gleim (Bild). Der einen großen Einfluss auf Betty Gleim haben wird.

Betty Gleim hat die Schriften von Rousseau und Pestalozzi gelesen. Aber so sehr sie Rousseau verehrt, so entschieden wird sie sich gegen ihn wenden. Der Meinung Rousseaus, dass die ganze Erziehung der Töchter ... ihre Absicht auf das männliche Geschlecht haben [muss]. Den Männern gefallen und nützen, sich ihre Liebe und Hochachtung erhalten, sie verpflegen, ihnen raten, sie trösten, ihnen das Leben annehmlich und süß machen, das sind zu allen Zeiten die Pflichten des weiblichen Geschlechts, diese muß man dasselbe von Jugend auf lehren, setzt sie entgegen: den Männern gefallen, ist zu wenig. Und weiter: Tausende sind ein Opfer dieses Wahns geworden, Tausende sind in dem Unmut über eine ganz verfehlte Bestimmung in voller Untüchtigkeit und Untätigkeit trostlos zugrunde gegangen, haben ein Leben hingeschleppt, das kein Leben ist. Das musste dem Philosophen, der seine Kinder im Waisenhaus abgibt, mal gesagt werden. Alle Frauen sind Menschen, folglich müssen auch sie intellektuell, moralisch und religiös gebildet werden, sagt Betty Gleim.

Johann Heinrich Pestalozzi (hier von Georg Friedrich Adolph Schöner gemalt, der auch das Bild oben von Betty Gleim gemalt hat) nimmt an den Entwicklungen seiner Verehrerin durchaus Anteil. In einem Brief an den Bremer Pädagogen Jakob Blendermann schreibt er: Sagen Sie Md. Gleim, wenn sie über das Eigenthümliche, das eine Mädchenschul auszeichnen muß, mit mir eintretten und mir ihre Ansichten und Erfahrungen mittheilen wolle, so werde ich mich freuen, und ich würde mir alle Müh geben, ihr, so viel mir möglich, an die Hand zu geben. Es ist mir sehr wichtig, daß ein solches Institut entstehe, und ich bin äußerst begierig über seinen Erfolg. Die Mädchenschule, die er hier anspricht, hatte die 24-jährige Betty Gleim in einer 1805 gedruckten Schrift Ankündigung und Plan einer in Bremen im Jahre 1806 zu errichtenden Lehranstalt für Mädchen gefordert. Es sollte eine Schule sein, in der der Unterricht für vier- bis sechzehnjährige Mädchen in drei Klassenstufen organisiert war. Sprachen, Literatur, Geschichte, Geographie und Naturwissenschaften standen auf dem Stundenplan. Im Jahre 1806 wird die Schule eröffnet. Das Umfeld für das Experiment ist nicht ungünstig, denn um 1800 sind schon zwei Reformpädagogen in Bremen tätig. Ich habe die Herren Ewald und Häfeli schon in dem Post Bremer Klausel erwähnt. Mit Haefelis Tochter Regula war die junge Betty befreundet, und der Pastor Haefili hat sie im Mai 1799 in der Ansgarikirche konfirmiert.

1806 ist das Jahr des Untergangs Preußens, ist aber auch der Beginn der preußischen Reformen. Noch bevor Wilhelm von Humboldt seine Bildungsreform in Gang setzen kann, kämpft in Bremen eine Schriftstellerin und Pädagogin für die Frauenbildung. Die Bildung der Armen, die bisher von jeglicher Bildung ausgeschlossen waren, nicht zu vergessen: Die Bildung ist nicht das Privilegium einiger besonders Begünstigten, sondern sie ist ein Gemeingut der Menschheit. Alle sollen zur Erkenntniß der Wahrheit, zum Gefühl und zur Anschauung erzogen werden....  Sollen die unteren Stände ohne Aufhören in der Unwissenheit und Geistesfinsternis trauriger Nacht seufzen? Soll nie der Einsicht und Erkenntnis beglückende Klarheit sie umfangen? 

Was hatte Kant gesagt? Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte, dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab. Betty Gleim hat Kant schon richtig verstanden: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Sapere aude! Betty Gleim hat es gewagt. Sie war nicht ganz allein, einige Freundinnen, die wie sie Lehrerinnen waren, haben sie unterstützt. Vor allem das Fräulein Sophie Lasius aus Oldenburg. August Kippenberg schrieb in seinem Buch über Betty Gleim: Das wechselseitige Verhältnis beider gestaltet sich bald zur innigsten Seelengemeinschaft. Stets einer vertrauten Herzensfreundin bedürftig, schloß sich Betty der Sophie Lasius mit einer Inbrunst an, die in einem noch erhaltenen Brief den lebhaftesten Ausdruck schwärmerischer Jugendfreundschaft annimmt. Beide waren fast nie getrennt. Die Pädagogin Betty Gleim ist nicht alt geworden. Der Tochter einer Freundin hatte sie abgeraten, Lehrerin zu werden: der Beruf sei zu beschwerlich und allzu kümmerlich. Sie hatte sich wegen Erschöpfung und Krankheit aus der Arbeit an ihrer Schule zurückgezogen und verstarb 1827 im Alter von sechundvierzig Jahren. In den Armen der so innig geliebten Freundin, wie Kippenberg schreibt.

Betty Gleims Buch Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts: Ein Buch für Eltern und Erzieher können Sie hier bei Google Books lesen. Die 1814 geschriebene Abhandlung Was hat das wiedergeborne Deutschland von seinen Frauen zu fordern? auch.

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