Donnerstag, 20. August 2020

Peter Freese ✝


Im letzten Jahr war er achtzig geworden und hatte zum Geburtstag eine Festschrift bekommen. Das war nicht die erste, die er erhielt. Ehrendoktortitel hatte er auch schon genug bekommen. Die Festschrift im letzten Jahr sollte anders werden als die von 1999, 2005 und 2009. Die Beiträger, die der Jubilar selbst ausgesucht hatte, konnten Gedichte schreiben oder Cartoons zeichnen, das war ungewöhnlich. The Freese Florilegium hieß das Werk, ein Buch von Freunden, das eher einer akademischen Bierzeitung ähnelte als einer langweiligen wissenschaftlichen Festschrift. Hier hält Peter Freese das Florilegium gerade in der Hand, der Herausgeber Christoph Ehland steht neben ihm. Peter Freese war sehr glücklich über dies außergewöhnliche Geburtstagsgeschenk, und er bedankte sich bei mir, dass auch ich einen kleinen Beitrag zu dem Werk beigesteuert hatte.

Weihnachten hatte ich ihm die üblichen Weihnachtsgrüße geschickt, aber ich bekam keine Antwort. Ich hörte von Freunden, dass er sehr schwer erkrankt sei, an dieser Krankheit ist er nun vor einer Woche im Alter von einundachtzig Jahren gestorben. Das im Hintergrund sind nicht seine eigenen Bücher, für das Photo steht er vor einer Regalwand in einer Bibliothek. Ich wusste, wieviele Bücher er selbst besaß, weil ich ihm mal mit Freunden einen Umzug gemacht habe. Bücher zu schleppen ist schwer, ich hatte mir damals gewünscht, er hätte weniger Bücher.

Die Bücher, die er geschrieben oder herausgegeben hat, füllen auch schon einige Regale. Er war schon Assistent, als wir anderen noch Hilfskräfte und Doktoranden waren. Wir Doktoranden schrieben auch. Wir waren Ghostwriter für den Ordinarius, bei dem Peter Freese promovierte und dessen Assistent er war. Wir schrieben für den Ordinarius, der so gerne ein Großordinarius sein wollte, Vorlesungen, Vorträge und Aufsätze. Wir verfassten Rezensionen und erste kleine Aufsätze unter eigenem Namen. Wir waren die Kriegsgeneration, die sich jetzt mit einer Publikationsflut (publish or perish) einen kleinen Platz an der Universität erkämpfte.

Peter Freese schrieb mehr als wir, er war auch der erste von uns, der seine Dissertation über J.D. Salingers Catcher in the Rye vollendete. Die gleich als Buch erschien (Die Initiationsreise: Studien zum jugendlichen Helden im modernen amerikanischen Roman) und ein Standardwerk wurde, das 1998 noch einmal nachgedruckt wurde. Auch wir hatten kleine Erfolge, die für die vielzitierten 15 Minuten Berühmtheit reichten, aber niemand von uns würde jemals soviel veröffentlichen wie er. Aber es war eine schöne Zeit des Aufbruchs in eine unbekannte Welt der Wissenschaft und eine Universität, die sich schnell veränderte.

Irgendwie fällt mir zu dieser Zeit ein Zitat von Charles Dickens aus seinem Roman A Tale of Two Cities ein, wo es heißt: It was the best of times, it was the worst of times, it was the age of wisdom, it was the age of foolishness, it was the epoch of belief, it was the epoch of incredulity, it was the season of Light, it was the season of Darkness, it was the spring of hope, it was the winter of despair, we had everything before us, we had nothing before us, we were all going direct to Heaven, we were all going direct the other way— in short, the period was so far like the present period, that some of its noisiest authorities insisted on its being received, for good or for evil, in the superlative degree of comparison only.

Kurz nach seiner Promotion wurde Freese der Nachfolger der Professorin Käte Lorenzen, die eine der verdienstvollsten Persönlichkeiten der Lehrerausbildung im Lande war; ihr Buch Englischunterricht war damals ein Standardwerk. Er verdankt ihr viel, das hat er nie vergessen. Sie hatte ihn noch eingearbeitet und ihn durch ganz Schleswig-Holstein zu jeder Lehrprobe mitgeschleppt, wie er mir erzählt hat. Er hat in dieser Zeit als junger Professor an der Pädagogischen Hochschule viel über die Schule gelernt; er hat es dann verstanden, Studenten nicht nur einen Stoff zu vermitteln, sondern ihnen etwas mitzugeben, das sie eines Tages als Lehrer wirklich gebrauchen konnten. Der Philosoph Odo Marquard hat einmal gesagt: Erstens, es wird für mich weiterhin wichtig bleiben, Wissenschaft nie nur für Wissenschaftler zu formulieren. Philosophen etwa, die nur für Philosophen philosophieren, und davon gibt es viele, handeln ebenso unsinnig wie Sockenhersteller es täten, die Socken nur für Sockenhersteller herstellten. Peter Freese schrieb nie nur für Wissenschaftler. Mehr als zwanzig seiner Bücher haben mit dem Englischunterricht zu tun. Und Studenten, Lehrer (und vielleicht auch Schüler) sind für diese Bücher dankbar gewesen.

Vor Jahren fragte er mich, ob ich es arrangieren könnte, dass er an der Universität, von der er seinen Doktortitel bekommen hatte, noch einmal einen Vortrag halten könnte. Ich war längst nicht mehr an der Uni, ich schrieb mittlerweile das Internet voll, aber ich konnte es arrangieren. Er trug, wie man es hier auf dem Photo sieht, das an jenem Tag gemacht wurde, einen Rollkragenpullover unter seinem Jackett. So kannte ich ihn seit fünfzig Jahren. Ich fand es cool, dass er seinem Stil treu geblieben war. Sein Vortrag war hervorragend. Ich hatte eigentlich auch nichts anderes von ihm erwartet. Er zog alle Register: Powerpoint, Musik und bewegte Bilder, ein Multimedia Spektakel.

In der Mitte des Vortrags brach der Computer zusammen, nichts ging mehr. Wie abhängig haben wir uns doch von der Technik gemacht! In dem allgemeinen Tohuwabohu ertönte plötzlich eine piepsige Mädchenstimme und sagte: Gehen Sie mit dem Cursor auf die Befehlsleiste oben links und klicken Sie auf xy, dann gehen Sie nach unten auf z und klicken Sie zweimal. Freese machte das, und die schöne neue Welt war wieder heil. Es gab riesigen Beifall. Und da dachte ich mir, dass all die digital natives um mich herum, die die ganze Zeit auf ihre Tablets starrten und auf ihren Smartphones wischten, mit dem Computer alles konnten. Aber eine Woche in der Bibliothek sitzen und Bücher lesen, das konnten sie nicht. Und ein Vortrag musste für sie die Form eines YouTube Videos haben. Aber Peter Freese konnte in dieser Welt mithalten, ich habe zu meinem Erstaunen gelesen, dass er in einem Aufsatz sogar einen Rapper wie Afroman mit seinem Song The American Dream zitierte.

Nach seinem Vortrag hatten wir einen Tag bei mir im Wohnzimmer, um alte Erinnerungen aufzufrischen. Wir hatten viel zu tratschen: Bücher, Verlage, Kollegen, das Leben. Man sieht vieles im Alter anders, nicht alles war schön, auch sein Leben war nicht ohne Enttäuschungen. Er konnte nicht aufhören zu schreiben, er plante gerade, ein Buch über T.C. Boyle zu schreiben. Ein Aufsatz über Boyle findet sich in dem Essayband America(n) Matters (2018), der ein Panorama der modernen amerikanischen Literatur bietet. Thomas Pynchon ist auch dabei, ich hätte mir gewünscht, er hätte mehr über den geschrieben.

Sein letztes großes Buch (und mit einem großen Buch meine ich ein Buch, das 769 Seiten hat) hieß The Clown of Armageddon: The Novels of Kurt Vonnegut. Über den hatte er schon dreißig Jahre zuvor geschrieben, aber Vonnegut ließ ihn nicht los. Man kann das verstehen bei einem Autor, der solche Sätze schreibt wie: The two little girls and I crossed the Delaware River where George Washington had crossed it, the next morning. We went to the New York World's Fair, saw what the past had been like, according to the Ford Motor Car Company and Walt Disney, saw what the future would be like, according to General Motors. And I asked myself about the present: how wide it was, how deep it was, how much was mine to keep.

Ich bleibe noch mal eben bei Kurt Vonnegut, der hat nämlich am 16. Mai 2005 im New Yorker ein kleines Gedicht veröffentlicht, das Joe Heller heißt:

True story, Word of Honor:
Joseph Heller, an important and funny writer
now dead,
and I were at a party given by a billionaire
on Shelter Island.
I said, “Joe, how does it make you feel
to know that our host only yesterday
may have made more money
than your novel ‘Catch-22’
has earned in its entire history?”
And Joe said, “I’ve got something he can never have.”
And I said, “What on earth could that be, Joe?”
And Joe said, “The knowledge that I’ve got enough.”
Not bad! Rest in peace!

Ein Leben für die Amerikanistik titelte die Neue Westfälische nach Peter Freeses Tod, und das ist es gewesen. Es war nicht nur ein Leben für das Universitätsfach Amerikanistik, es war auch ein Leben für die deutsch-amerikanischen Beziehungen. Es wurde zu Recht geehrt: 1981 wurde er Ehrenbürger von Tennessee, 1983 wurde er Kentucky Colonel, 1999 überreichte ihm Senator Daniel Patrick Moynihan eine Flagge vom US-Capitol für seine outstanding contributions to German-American understanding. Die Deutsche Gesellschaft für Amerikastudien ernannte ihn zum Ehrenmitglied, und die Stadt Paderborn ehrte ihn durch den Eintrag in das Goldene Buch der Stadt. Auf dem Bild hier hat er gerade in Essen seinen dritten Ehrendoktortitel erhalten.

Peter Freese hätte mit dem Joseph Heller aus Vonneguts Gedicht sagen können, dass er the knowledge that I’ve got enough besäße. In The Freese Florilegium hatte einer seiner Freunde eine schöne Zitatensammlung zum Thema laziness und idleness zusammengetragen, um dem Jubilar anzudeuten, dass es ein Leben außerhalb der Universität gibt. Aber diesen Spagat zwischen laziness und industriousness, zwischen vita activa und vita contemplativa hat Peter Freese leider nicht so richtig hinbekommen.

Ich wollte, es wäre anders gewesen, und er hätte sich Montaignes Sätze zu eigen gemacht: Man muß sich so viel leichte Arbeit und Beschäftigung ausspüren, als nötig ist, um sich in Atem zu erhalten und sich vor der Unlust zu schützen, welche das andre Übermaß vom trägen, schläfrigen Müßiggang nach sich zieht. Es gibt trockne und heiklige Wissenschaften, die meistens nur Büchermacherwerk für Druckerpressen sind, die muß man denen überlassen, die im Dienste der Welt stehen. Ich, meinesteils, liebe nur die angenehmen, leichten Bücher, welche mich aufmuntern, oder solche, die mich trösten und mir Rat erteilen, wie ich es mit meinem Leben und mit meinem Tode halten soll. 'Tacitum silvas inter reptare salubres, curantem, quidquid dignum sapiente bonoque est'.

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