Montag, 14. November 2022

Nobelpreisträger


Heute vor sechsundsiebzig Jahren wurde Hermann Hesse der Literaturnobelpreis zugesprochen. Er reiste nicht nach Stockholm, der Rummel war dem kränkelnden Schriftsteller zuviel. Heut ist in Stockholm der Klimbim, erst Nobel-Gedenkfeier in großer Gala, dann Bankett, wobei auch ein Spruch von mir verlesen wird, schrieb er einem Freund. Mit dem Spruch meinte er eine zweiseitige Erklärung, die der Schweizer Botschafter Henry Valloton verlas. In einem Brief an eine Bekannte schreibt er: In meinem kurzen Danktelegramm an die Akademie in Stockholm habe ich den Preis vor allem als eine der deutschen Sprache erwiesene Anerkennung bezeichnet und begrüsst. Das meinte er auch so. Er war schon häufiger als Preisträger in der Diskussion gewesen, aber er hatte in der Akademie viele Feinde, wie man diesem Artikel der Neuen Zürcher Zeitung entnehmen kann. Diesmal hatte er es wohl Thomas Mann zu verdanken, dass er den Preis bekam.

Ich war noch sehr jung, als ich das erste Gedicht von Hermann Hesse las. Es hieß Im Nebel und war auf der ersten Seite der Welt am Sonntag abgedruckt. Ich dachte damals, dass dieses Seltsam, im Nebel zu wandern! eine Erstpublikation gewesen wäre, musste aber später dazu lernen, dass das Gedicht schon sehr alt war. Meine zweite Begegnung mit Hesse war einigermassen kurios, meine Eltern hatten mich zum Kauf des Buches Das Glasperlenspiel losgeschickt. Ich kam ohne Buch zurück und berichtete meinen Eltern, dass mich die Frau hinter der Ladentheke gefragt hätte, was für ein Spiel das denn sein sollte. Da kaufen wir nie wieder, sagte mein Vater. Er hatte dem neuen Laden eine Chance geben wollen. Ich wurde dann zur Buchhandlung Otto & Sohn geschickt, wo wir sonst immer kauften, und die hatten das Buch natürlich. Den kleinen Buchladen neben Harjes gibt es nicht mehr, Otto & Sohn immer noch.

Ich muss gestehen, dass ich, obgleich ich Das Glasperlenspiel besitze, den Roman bis heute noch nicht gelesen habe. Wenn Sie sich (oder mich) jetzt fragen, was dieses Photo hier soll: das sind die Mitglieder einer Band, die sich den Namen Glasperlenspiel von Hermann Hesse geborgt haben. Wahrscheinlich haben sie sich bei der Namenwahl gedacht, dass Steppenwolf auf diese Art ja auch eine Menge Platten verkauft hat.

Hermann Hesse ist ein wenig an mir vorbeigelaufen. Als sich in den sechziger Jahren halb Amerika für Hesse begeisterte, schwappte davon nichts zu mir über. Ich habe Klingsors letzter Sommer, Demian, Narziß und Goldmund und den Steppenwolf gelesen. Aber es machte mich nicht zum Hesse-Fan. Es sprang beim Lesen nichts elektrisierend über, so wie ich es bei der Lektüre von Robert WalserErnst Penzoldt und Albert Vigoleis Thelen verspürte. Vielleicht war er damals einfach zu berühmt. Berühmte Schriftsteller ließ ich bei meinem Leseprogramm (ich wollte ja mit einundzwanzig durch die Weltliteratur durch sein) erst einmal links liegen; mich interessierten eher die Autoren, die meine Deutschlehrer nicht kannten. Ich wusste damals nicht, dass Hesse auch ein Advokat für die Übersetzung von Prousts Recherche gewesen war. Er hatte die Übersetzung von Rudolf Schottlaender gelobt und seinen Freund Suhrkamp 1949 gedrängt, die Rechte an der Recherche zu kaufen. Er schrieb 1954 an Suhrkamp: Es ist ein Glück, daß Eva Rechel-Mertens nun den ganzen Proust übersetzt. Sie soll es womöglich so rasch tun, daß ich nicht mittendraus wegsterbe. Er wird die Recherche noch lesen können, Eva Rechel-Mertens übersetzte rasch. 

Meine dritte Begegnung mit Hermann Hesse war 1958 ein Bertelsmann Bildband, der Autoren der Gegenwart: Dichter hieß. Man kann ihn heute noch bei Amazon Marketplace zu Preisen zwischen 0.99 und 100 Euro bekommen. Ich hatte mir den Band aus dem Bertelsmann Programm selbst ausgewählt, meiner Mutter war in dem Quartal nichts eingefallen. Die Romane von Otto Flake hatte sie schon alle. Ich will gegen den Bertelsmann Lesering der fünfziger Jahre nichts sagen, ohne ihn hätte ich Otto Flake vielleicht nie kennengelernt. In dem Photoband Dichter waren alle Schriftsteller abgebildet, die in der Zeit des Wirtschaftswunders bedeutend waren. Hervorragende Photographien (alles natürlich schwarzweiß), dazu kurze Texte des Herausgebers Günther Steinbrinker. Hesse bekam gleich eine Doppelseite und war vorne auf dem Buch abgebildet. Die Photos von Hesse waren von dem Schweizer Photographen Gotthard Schuh (der in dem Band auch Thomas Mann photographiert hatte) - der Band Dichter versammelte nicht nur die Crème de la Crème der Literatur, sondern auch die Crème de la Crème der Photographen. 

Das Buch bedeutete mir viel, ich wollte damals wissen, wie die Schriftsteller aussahen, welche Kleidung sie trugen. Hermann Hesse trug ein gestreiftes Hemd (aber keinen Schlips) und einen Cordanzug mit Weste. Er wirkte so ganz anders als T.S. Eliot, der auf dem Photo von Ingeborg Sello so überkandidelt englisch aussah. Man kann aus guten Photos viel über die Dargestellten lernen. Wenn ich auch bei manchen meiner Bücher nicht so genau weiß, wo sie sich in den Regalen verstecken, den Band Dichter mit Hermann Hesse vorne drauf, den finde ich sofort.

Mein wirkliches Hesse Erlebnis musste noch ein paar Jahre warten. Genau genommen bis zum Februar 1971, als ich mir für sechs Mark achtzig die Suhrkamp Ausgabe der Briefe kaufte. Davon hat er ja zigtausende geschrieben, mir reichten die 566 Seiten schon aus. Aber es hat mich schwer beeindruckt - diese Ehrlichkeit, diese Geradlinigkeit! Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Ich habe dann später gelesen, dass der Herr Reich-Ranicki über die Briefe gesagt hat: Es steht in diesen Briefen viel Vernünftiges und Richtiges, sie nötigen oft ehrlichen Respekt ab … nur dass ich dabei gähnen musste. Denn Hesse offeriert hier, um es kurz und grob zu sagen, gute Gesinnung und wenig Geist. Dazu sage ich gar nichts, ich versaue mir doch nicht diesen Tag, indem ich mich über Reich-Ranicki ärgere.

Der ist in diesem Blog ja schon häufig erwähnt worden, sogar in einem Post über Regenschirme habe ich es nicht lassen können, Reich-Ranicki zu erwähnen. Ich kann als Gegenmittel zu Reich-Ranicki nur die Lektüre dieses Artikels von Volker Michels Prügel für den Steppenwolf oder: Wie man einen Nobelpreisträger zur Schnecke macht empfehlen. Geschrieben zum fünfzigsten Todestag von Hermann Hesse. Volker Michels ist der Herausgeber der Hesse Gesamtausgabe (die Suhrkamp 2012 in zwanzig Bänden wieder herausbrachte), der versteht von dem Nobelpreisträger Hesse vielleicht etwas mehr als der Bambi-Preisträger Reich-Ranicki. Unter dem Artikel steht der köstlich feige Satz: Der Suhrkamp Verlag macht darauf aufmerksam, dass die Darstellung und Formulierungen Volker Michels nicht die Meinung des Verlags zu diesem Thema spiegeln. Suhrkamp Verlag, Mai 2012.

Dazu fällt mir nur der Brief ein, den Hermann Hesse 1959 nach dem Tode Peter Suhrkamps an den neuen Verlagschef Siegfried Unseld schrieb: Der Verleger muß 'mit der Zeit gehen', wie man sagt, er muß aber nicht einfach die Moden der Zeit übernehmen, sondern auch, wo sie unwürdig sind, ihnen Widerstand leisten können. Im Anpassen und im kritischen Widerstehen vollzieht sich die Funktion, das Ein- und Ausatmen des guten Verlegers. So einer sollen Sie sein. Hermann Hesse wird noch Leser haben, wenn keiner mehr weiß, wer Reich-Ranicki war.


Der Text stand hier vor zehn Jahren schon einmal, er wurde ein wenig überarbeitet. 

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