Samstag, 26. November 2022

Hans Magnus Enzensberger ✝


Als ich jung war, fand ich Enzensberger toll und kaufte all seine ersten Gedichtbände. Damals habe ich unter Enzensbergers Einfluss mit meiner neuen Schreibmaschine auch alles klein geschrieben. Wilhelm Lehmann in Eckernförde dagegen konnte sich für Enzensbergers ersten Gedichtsband nicht so begeistern wie ich. Verdrießlichen Zorn und Übelkeit erregte Verteidigung der Wölfe bei ihm. Lehmann ist manchmal schwierig, manche seiner Kollegen an der Schule hielten ihn für arrogant und abgehoben. Mag sein. Aber für den Dichter gelten immer auch Baudelaires Sätze: der dichter ist wie jener fürst der wolke - er haust im sturm - er lacht dem bogenstrang. doch hindern drunten zwischen frechem volke die riesenhaften flügel ihn am gang (dies ist Georges Übersetzung vom Albatros, deshalb ist alles klein). 

Verteidigung der Wölfe war das zweite Buch von Enzensberger, das erste war seine Dissertation Das dichterische Verfahren in Clemens Brentanos lyrischem Werk. Die hatte er zweimal schreiben müssen, weil seinem Doktorvater das einzige Exemplar abhanden gekommen war. Als ich diese Geschichte las, musste ich lächeln. Ich benutzte damals schon Blaupapier, wenn ich mit der Maschine schrieb. Habe ich jahrzehntelang getan, ich könnte heute immer noch eine Edition meiner Liebesbriefe aus den sechziger Jahren herausbringen. Also falls die Ingrid die Briefe nicht mehr finden sollte. Nach der Promotion erhielt Enzensberger eine Assistentenstelle in der Redaktion von Alfred Andersch beim Süddeutschen Rundfunk. Und Andersch, der gerade den Ärger mit der Publikation von Arno Schmidts Seelandschaft mit Pocahontas hinter sich hatte, der gerade Sansibar oder der letzte Grund veröffentlicht hatte und gerade Die Rote schreibt, sagt über seinen Assistenten: 

Endlich, endlich ist unter uns der zornige junge Mann erschienen, der junge Mann, der seine Worte nicht auf die Waagschale legt, es sei denn auf die der poetischen Qualität. Es gibt glückliche Länder, in denen er in Rudeln auftritt, in England vor allem gibt eine ganze Equipe denkbar schlecht aufgelegter junger Herren denkbar gut abgefaßte ‘declarations’ ab. Bei uns gibt es nur einen. Immerhin: dieser eine hat geschrieben, was es in Deutschland seit Brecht nicht mehr gegeben hat: das große politische Gedicht. Eine Begabung wie diejenige Enzensbergers wird immer gefährdet sein. Was wird mit ihm geschehen, wenn der Zorn einmal nachläßt, wenn nicht mehr Empörung die leichte Hand regiert? Gleichviel – mit diesen 17 Gedichten hat er einer Generation Sprache verliehen, die, sprachlos vor Zorn, unter uns lebt. Das klingt etwas anders, als was Wilhelm Lehmann über Verteidigung der Wölfe zu sagen wusste. Ein Jahr später ist Enzensberger in Berlin schon mittendrin im politischen Geschehen. Der junge Mann ganz links auf dem Photo ist übrigens Rainer Langhans. Uschi Obermaier ist nicht auf dem Photo.

Meine Erstausgabe von Verteidigung der Wölfe, gekauft bei Conrad Claus Otto in Vegesack, habe ich 1961 mit Papier neu eingebunden und beschriftet. Der Umschlag war vom vielen Lesen ein bisschen hin. Weshalb ich für den Einband das damalige Radioprogramm des Dritten Programms von NDR und WDR genommen habe, weiß ich nicht mehr. Ich wollte wohl so originell sein wie Enzensberger. Aber wenn ich mir jetzt das qualitätsvolle Programm von damals angucke, dann bekomme ich verdrießlichen Zorn und Übelkeit angesichts des heutigen Radioprogramms. Wenn man noch bedenkt, dass der Intendant des NDR heute mehr verdient als Axel Eggebrecht im ganzen Leben, dann wird er Ärger noch größer. Bei ebay will ein Händler für die Erstausgabe von Verteidigung der Wölfe, bei der auch der Umschlag fehlt, 101,88 € haben. Ich verkaufe mein Exemplar aber nicht.

Die von Enzensberger edierte Schiller Ausgabe musste ich in die Buchhandlung zurückbringen, der Insel Verlag tauschte sie um. Enzensberger hatte die Glocke einfach weggelassen. Gab einen Aufschrei in der Presse. Früher wurden im Deutschunterricht Gedichte der sogenannten Höhenkammliteratur auswendig gelernt. Ganze Generationen wurden mit Schillers Glocke gequält. Ich zitiere einmal Thomas Mann: Aber es ist noch nicht lange her, daß Leute aus den einfachsten Volksschichten das Ganze auswendig konnten, und der Däne Herman Bang sagt in einer seiner 'Excentrischen Novellen' von einem rezitierenden Hofschauspieler: 'Er war der Einzige im ganzen Saal, der in der 'Glocke' nicht ganz sicher war. Der Rezitator Horst Bogislaw von Schmelding, der in meiner Schule die Glocke aufsagte, beherrschte den Text, aber er hatte eine meterweite feuchte Aussprache. Und dank Enzensberger war die Glocke jetzt für einen Augenblick verschwunden, nicht mehr festgemauert in der deutschen Literatur. 

Enzensberger hatte seine eigene Meinung, und ab 1965 hatte er mit dem Kursbuch auch sein eigenes Publikationsorgan. Seine Meinung zählte jetzt etwas in Deutschland, er wurde wie Heinrich Böll und Günter Grass zu einem politischen Schriftsteller. Der aber immer noch etwas über die Literatur zu sagen hatte. Die dänische Lyrik erschien ihm 1963 in seinem Aufsatz Gulliver in Kopenhagen in der Zeitschrift Akzente als wenig bemerkenswert. Mit einer Ausnahme, und das war Klaus Rifbjerg. Joseph Hellers Catch-22 fand er 1964 gut, er war damals einer der wenigen. Das aufrichtigste, also subversivste Buch über den Zweiten Weltkrieg, das ich kenne, ist ein Unterhaltungsroman, begann seine Besprechung im Spiegel.

Als Adorno schrieb nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben, stürzte das die deutsche Dichtung in ein Dilemma. Aber dennoch lebte die deutsche Lyrik weiter. Die Dichtung müsse eben diesem Verdikt standhalten, hat Enzensberger Adorno entgegnet: Der Philosoph Theodor W. Adorno hat einen Satz ausgesprochen, der zu den härtesten Urteilen gehört, die über unsere Zeit gefällt werden können: Nach Auschwitz sei es nicht mehr möglich, ein Gedicht zu schreiben. Wenn wir weiterleben wollen, muss dieser Satz widerlegt werden. Wenige vermögen es. Zu ihnen gehört Nelly Sachs. Ihrer Sprache wohnt etwas Rettendes inne. Indem sie spricht, gibt sie uns selber zurück, Satz um Satz, was wir zu verlieren drohten: Sprache. Ihr Werk enthält kein einziges Wort des Hasses. Den Henkern und allem, was uns zu ihren Mitwissern und Helfershelfern macht, wird nicht verziehen und nicht gedroht. Ihnen gilt kein Fluch und keine Rache. Es gibt keine Sprache für sie. Die Gedichte sprechen von dem, was Menschengesicht hat: von den Opfern. Das macht ihre rätselhafte Reinheit aus. Das macht sie unangreifbar. Wer aber hätte das Recht und die Kraft zu einem solchen Schweigen, der nicht selbst ein Opfer wäre? Solange die Mörder noch unter uns sind, müssen wir andern sie ausrufen; solange leben wir "in finsteren Zeiten", "wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschliesst". So schrieb Bertold Brecht, der selber ein Opfer war. Die Erlösung der Sprache aus ihrer Verzauberung steht bei denen, die In den Wohnungen des Todes waren. Sie wissen es und können uns sagen, dass jene Wohnungen immer noch da sind, in uns. Der Satz von Adorno (den er später zurückgenommen hat) ist übrigens erst durch Enzensberger bekannt geworden, vorher hatte ihn niemand beachtet.

Die fünfziger Jahre waren eine Zeit der restaurativen Tendenzen, die sich in Emil Staigers blindwütiger Attacke auf die Moderne (die auch als Zürcher Literaturstreit berühmt wurde) noch einmal zeigten. Aber das waren les neiges d'antan, um einmal François Villon zu zitieren. Jetzt hatte Enzensberger mit seinem Museum der modernen Poesie die Tür zur Moderne für alle Leser weit aufgemacht, das ist seine große Leistung gewesen. 

Früher bekamen junge Menschen zur Konfirmation oder Kommunion den gefürchteten Band der Herren Ernst Theodor Echtermeyer und Benno von Wiese geschenkt, der heute vom Großen Conrady abgelöst worden ist. Diese Sammlungen verkaufen sich heute immer noch gut, und auch Hans Magnus Enzensbergers revolutionäre Anthologie museum der modernen poesie von 1960 ist als Erstausgabe immer noch erhältlich. Die Nachdrucke sowieso. Enzensberger hat mit seinem Titel das Museale der Dichtung betont. Wenn es Dichtung geschafft hat, kommt sie zwischen zwei Buchdeckel ins Museum und kriegt einen Aufkleber unbegrenzt haltbar. Das museum der modernen poesie war für mich vor sechzig Jahren eine Bibel, das habe ich schon in den ausführlichen Posts über die Dichter Michael Hamburger (der übrigens Gedichte von Enzensberger übersetzt hat) und Gerhard Neumann gesagt. Und dafür bin ich ihm ewig dankbar gewesen.

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