Donnerstag, 12. September 2024

Caspar David Friedrich (5)


Gottliebs Gast stand mittlerweile vor dem rechts neben der Tür in gutem Licht hängenden Ölgemälde „Der Chausseur im Wald" und betrachtete es nachdenklich.
      Der Pfarrer trat zu ihm und blickte ebenfalls auf das Bild. 
„Schauen Sie etwa kritisch, lieber Freund?" fragte er. „Sie haben doch mit Ihren Mitteln, ohne Ihrer malerischen Eigenart untreu zu werden, Ihre vaterländische Gesinnung bekundet. Und da war kaum ein Besucher der seinerzeitigen Kunstausstellung, der davon nicht berührt wurde." „Ja", erwiderte Friedrich, „das Bild ist ein Gleichnis auf den Untergang der Armee Napoleons in Russland."
Lebhaft übernahm Gottlieb wieder das Wort.
      „Den Schritt verhaltend, lauscht der versprengte französische Soldat in die Waldesstille, und der Beschauer vermag die Furcht nachzuempfinden, die ihn in der ausweglosen Einsamkeit bei hereinbrechender Nacht beschleicht. Und Sie haben, lieber Friedrich, unabhängig von diesem patriotischen Gehalt mit den einfarbigen bräunlichen Tönen einen spezifischen Zustand winterlicher Natur erfasst. Und wie die Rückenfigur der im Vergleich zu dem ungeheuren Wald kleinen Gestalt des Soldaten dem Beschauer die Landschaft erst recht erschließt."
      Friedrich war, trotz seines verschlossenen Wesens, wie alle Künstler sehr empfänglich für Lob, besonders, wenn es so sachkundig und seinen Absichten beim Malen des Bildes so entsprechend geäußert wurde. 
      Gottlieb hatte sich in Begeisterung geredet.
„Und der französische Chasseur ist nicht nur eine verlorene Gestalt und sieht als Teil der Armee des Usurpators seinem verdienten Schicksal entgegen. Er ist auch ein Mensch - und in diesem Sinne kommt er mir gar nicht klein vor - der Mitgefühl erregt und auch Achtung erzeugt als Ergebnis einsam-stolzer Selbstbehauptung. Er sieht seinem Schicksal gefasst entgegen, und seinen Degen hat er noch an der Seite, um sich in der Not verteidigen zu können. Dabei erwartet ihn, wie der Totenvogel auf dem Baumstumpf im Vordergrund andeutet, der sichere Untergang. Angesichts dieser Hoffnungslosigkeit in sinnender und stolzer Haltung zu verharren ist achtenswert."
      Der Pfarrer hielt inne und löste seinen Blick langsam vom Bild. Sie standen schweigend nebeneinander. Dann sagte Friedrich: „So wie ich mir als Maler einen äußersten individuellen Ausdruck gestatte und darin erst das Wesen der Kunst, das subjektiv ist, erfüllt sehe, muss ich dem Beschauer meiner Bilder erlauben, sie nach seinem Gusto zu empfinden. Und so kann denn ein unpolitischer Mensch dieses Bild auch als Landschaft betrachten, in der sich ein Soldat befindet, der sich von seinem Lager zu einem Spaziergang in den Winterwald aufgemacht hat und bald wieder zu seinen Kameraden, den Rabenvogel von seinem Baumstumpf vertreibend, zurückkehren und mit ihnen gemeinsam nach geordnetem Rückzug die Heimat erreichen wird."


Wir sind in dem Roman Um ewig einst zu leben: Caspar David Friedrich und Joseph Mallord William Turner von Christoph Werner. Und wir haben jetzt zwei Interpretationen von dem Bild, das gemeinhin Der Chasseur im Walde genannt wird. Ist es ein Gleichnis auf den Untergang der Armee Napoleons in Russland? Oder hat sich der französische Soldat mal eben von seinen Kameraden entfernt, um einen Waldspaziergang zu machen? Zeigt das Bild Den Krieger auf verlorenem Posten, den bevorstehenden Tod des Handlangers eines machtbesessenen Eroberers, das Ende in der Fremde, wie es in Gisold Lammels Buch Kunst im Aufbruch: Malerei, Graphik und Plastik zur Zeit Goethes steht?

Will er überhaupt in den Wald gehen? Er scheint eher zu stehen und sich zu fragen, ob er wirklich in die Dunkelheit gehen soll: Der einsame Soldat hält inne. Er hat offensichtlich den Anschluss an seine Kompanie oder den Spähtrupp verloren. Klein und verloren wirkt er inmitten der winterlichen Natur, die aufgrund von Friedrichs Komposition so wirkt, als wäre sie zu bedrohlicher Aktivität erwacht. Doch kein Weg führt ihn aus dieser misslichen Lage. Sein Blick mag zunächst den rotbraunen Stämmen folgen, die sich jedoch rasch im Dunkel verlieren und dabei an den Mythos vom undurchdringlichen deutschen Wald denken lassen, der in den Jahren der Napoleonischen Kriege verstärkt beschworen wurde. Die eng stehenden Bäume vermitteln aber auch die Vorstellung von Geschlossenheit und können deshalb als assoziativer Verweis auf die Armee der Befreiungskrieger gedeutet werden. Das schreibt Markus Bertsch, der der Mitherausgeber des Katalogs Caspar David Friedrich: Kunst für eine neue Zeit der Hamburger Kunsthalle ist. Ich habe alles gelesen, was er in dem Katalog schreibt, und ich war nicht besonders beeindruckt. Der Katalog der Hamburger Kunsthalle von 1974 bot mehr Substantielles über den Maler Friedrich.

Ich habe den Satz des viel zu früh verstorbenen Kunsthistorikers Gisold Lammel mit dem Krieger auf verlorenem Posten, den bevorstehenden Tod des Handlangers eines machtbesessenen Eroberers, das Ende in der Fremde etwas aus dem Zusammenhang gerupft, aber es ist die hauptsächliche Interpretation des Bildes. So hatte auch die Vossische Zeitung im Jahre 1814 das Bild verstanden, als sie schrieb: Einem französischen Chasseur, der einsam durch den verschneiten Tannenwald geht, singt ein auf einem Stamm sitzender Rabe sein Sterbelied. Das Zitat lässt Lammel natürlich nicht aus. Sein Buch war 1998 erschienen, wurde aber aus mir unerklärlichen Gründen schon wenig später verramscht. Mein Exemplar stammt aus dem Grabbelkasten. Bei Amazon kann man zu dem Buch lesen: Diese bisher umfassendste Monographie über die bildende Kunst zur Zeit Goethes bietet eine sozialgeschichtlich fundierte Darstellung der Kunstverhältnisse und -strömungen dieser Epoche. Von dem Satz ist jedes Wort wahr.

Simon Schamas Buch Landscape and Memory hat das Bild des Heiligen Georg im Kampf mit dem Drachen von Altdorfer als Cover. Für Schama war das Bild die deutsche Geschichte schlechthin: The story, we begin to understand as the leaves emit light onto yet more leaves, piling up and overlapping in densely embroidered frond-like panels, is the forest. This German wood is not 'the setting'; it is the history itself. Schamas Buch ist ein Leseerlebnis, und das Kapitel über den deutschen Wald ist besonders schön: Religion and patriotism, antiquity and the future — all came together in the Teutonic romance of the woods. In seiner Begeisterung, alles Deutsche zusammenzutragen, was mit dem Wald zu tun hat, macht er leider einen unverzeihlichen Fehler, indem er das Buch Altdeutsche Wälder der Grimms zitiert. Das hat nun gar nichts mit dem Wald zu tun, die Grimms gebrauchen das Wort Wälder im gleichen Sinn, in dem  Statius silvae gebraucht hat, als Titel einer Sammlung von verstreuten Texten.

Simon Schama sieht Friedrichs Bild im Zusammenhang mit diesem Bild von Georg Friedrich Kersting. Das tut auch Gisold Lammel, und das hat seinen Grund. Denn 1814 hingen beide Bilder in einer Ausstellung in Dresden nebeneinander. Das Bild seiner Kameraden im Wald ist ein Erinnerungsbild von Kersting. Alle drei Dargestellten haben den Freiheitskampf nicht überlebt, wenn sie auch zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten gestorben sind. Bevor Kersting, der im Freiheitskrieg das Eiserne Kreuz erhielt, dieses Bild malte, hatte er bezaubernde kleine Interieurbilder gemalt. Wenn man so will, ist auch dies ein Interieurbild, wir sind in diesem Wald zuhause. Er wird beinahe zum Wohnzimmer. Das Grün (das auf jeder Reproduktion des Bildes anders ist) gibt Geborgenheit, hüllt die Freunde ein wie den Heiligen Georg auf Altdorfers Bild. Es ist jetzt viel symbolischer Wald im deutschen Denken, vom Teutoburger Wald des Arminius bis zu Caspar David Friedrichs Bild vom französischen Chasseur im Walde, der für Schama the most enduring of all the icons of the Freiheitskrieg ist. 

Caspar David Friedrichs Wald hat nichts von der Wohnzimmeratmosphäre von Kerstings Bild. Dieser dunkle Tannenwald steht dem Soldaten mit seinem goldenen Helm feindlich gegenüber. Das Bild stellt viele Fragen. Eine ist: wo ist das Pferd des Chasseurs? Denn der lange Säbel, den er trägt, weist ihn als einen Kavalleristen aus, die Infanterie trägt solche Waffen nicht. Der Fürst Malte von Putbus, der Caspar David Friedrich das Bild abgekauft hatte, wusste eine Erklärung: Es ist eine Winterlandschaft, der Reiter, dessen Pferd schon verloren ging, eilt dem Tod in die Arme, ein Rabe krächzt ihm das Todtenlied nach. So steht es im Katalog seiner Kunstsammlung. Ähnliche Sätze waren dem Bild beigegben, als es im März 1814 in Dresden ausgestellt worden war. Das relativ kleine Bild (65,7 x 46,7 cm), das Friedrich im Sommer 1813 zu malen begann, hat noch andere Namen gehabt, es kann auch Wald mit Dragoner, Der Tannenwald mit dem Raben oder Ein beschneiter Tannenwald heißen. Es war hundert Jahre im Besitz der Familie des Fürsten von Putbus, dann kaufte es der Bankier Georg Hirschland. Er hatte nur zwanzig Jahre Freude an dem Bild, dann emigrierte er über Amsterdam in die USA. Seine Kunstsammlung wurde weit unter Wert vom Museum Folkwang angekauft. Nach dem Zweiten Weltkrieg bekam die Familie Hirschland das Bild restituiert. Die Familie verkaufte das Bild später über die Düsseldorfer Galerie Wilhelm Grosshennig, wer der jetzige Besitzer ist, scheint niemand zu wissen.

Am Ende der Unterhaltung zwischen dem Pfarrer Gottlieb und Caspar David Friedrich heißt es in Christoph Werners Roman: Gottlieb pflichtete dem Maler bei, indem er auf das Wesen der Kunst weiter einging. „Daraus ergibt sich, dass die Wege, die zur Kunst führen, unendlich verschieden sind, und das wussten sehr wohl jene achtenswerten Meister, die die anmaßenden Kunstrichter für alle Zeiten als Vorbilder hinstellen, denen bedenkenlos zu folgen ist."

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