Montag, 23. September 2024

Struensee


Am 5. April 1768 wurde Johann Friedrich Struensee als Leibarzt des dänischen Königs Christian VII. angestellt und vier Jahre später hingerichtet.
Zehn Jahre danach, am 21. September 1782, als der Ausdruck »die Struenseezeit« bereits ein Begriff geworden war, berichtete der englische Gesandte in Kopenhagen, Robert Murray Keith, seiner Regierung über eine Begebenheit, deren Augenzeuge er gewesen war. Er fand die Begebenheit bestürzend.
Deshalb berichtete er.
Keith hatte eine Vorstellung des Hoftheaters in Kopenhagen besucht. Unter den Zuschauern waren auch der König, Christian VII., sowie Ove Høegh-Guldberg, der eigentliche politische Machthaber in Dänemark, de facto Alleinherrscher.
Er hatte den Titel »Staatsminister« angenommen.
Der Bericht handelt von der Begegnung des Gesandten Keith mit dem König.
Keith gibt einleitend seinen Eindruck vom Äußeren des erst dreiunddreißigjährigen Königs Christian VII. wieder: »Er sieht schon wie ein alter Mann aus, sehr klein, abgemagert, mit eingefallenem Gesicht, und seine brennenden Augen zeugen von seinem kränklichen Geisteszustand.« Der, wie er schreibt, »geisteskranke« König Christian war vor dem Beginn der Vorstellung durchs Publikum geirrt, murmelnd und mit eigentümlichen Gesichtszuckungen.
Guldberg hatte die ganze Zeit ein wachsames Auge auf ihn geworfen.
Das Bemerkenswerte war das Verhältnis zwischen den beiden gewesen. Es ließ sich als das eines Pflegers und seines Kranken beschreiben, oder als das eines Geschwisterpaars, oder als sei Guldberg ein Vater mit einem ungehorsamen oder kranken Kind; aber Keith gebraucht die Worte »fast liebevoll«.
Gleichzeitig schreibt er, daß die beiden auf eine »fast perverse« Art und Weise verbunden zu sein schienen.
Das Perverse war nicht, daß die beiden, die während der dänischen Revolution, wie ihm ja bekannt war, so wichtige Rollen gespielt hatten, jetzt in dieser Weise voneinander abhängig waren. Das »Perverse« war gewesen, daß der König sich wie ein furchtsamer, aber gehorsamer Hund verhalten hatte, und Guldberg wie dessen strenger, aber liebevoller Herr.
Die Majestät hatte sich auf ängstliche Weise unterwürfig gezeigt, beinah zu Ohrfeigen einladend. Die Hofgesellschaft hatte dem Monarchen keine Ehrerbietung erwiesen, sondern ihn eher ignoriert, oder war lachend zur Seite getreten, wenn er sich näherte, als wolle sie der Peinlichkeit seiner Anwesenheit entgehen.
Wie bei einem lästigen Kind, dessen man seit langem überdrüssig ist.
Der einzige, der sich des Königs angenommen hatte, war Guldberg gewesen. Der König hatte sich ständig drei, vier Meter hinter Guldberg gehalten, war ihm unterwürfig gefolgt, offenbar darum bemüht, nicht verlassen zu werden. Zuweilen hatte Guldberg mit Handbewegungen oder Mienen dem König kleine Zeichen gegeben. Jedesmal wenn dieser zu laut gemurmelt, sich störend aufgeführt oder zu weit von Guldberg fortbewegt hatte.
.......
Danach hatte Guldberg dem König freundlich die Wange gestreichelt und wurde dafür mit einem von Dankbarkeit und Ergebenheit derart erfüllten Lächeln belohnt, daß sich die Augen des Gesandten Keith mit Tränen füllten. Die Szene, schreibt er, sei von so verzweifelter Tragik gewesen, daß es fast unerträglich war. Er hatte Guldbergs Freundlichkeit oder, wie er sich ausdrückt, »verantwortungsvolle Fürsorge für den kleinen kranken König« beobachtet und von der Verachtung und dem höhnischen Lachen, die das übrige Publikum zur Schau trug, bei Guldberg nichts bemerkt. Dieser schien als einziger für den König Verantwortung zu übernehmen.
Ein Ausdruck aber wiederholt sich in dem Bericht: »wie ein Hund«. Man behandelte den absoluten Herrscher Dänemarks wie einen Hund. Im Unterschied zu den anderen schien Guldberg eine liebevolle Verantwortung für diesen Hund zu zeigen.
»Sie zusammen zu sehen – und beide waren ihrer physischen Gestalt nach eigentümlich kleinwüchsig und verwachsen – war für mich ein erschütterndes und eigentümliches Erlebnis, weil die gesamte Macht im Land formell und praktisch von diesen beiden sonderbaren Zwergen ausging.«
Der Bericht hält sich jedoch vor allem bei dem auf, was im Verlauf und im Anschluß an die Theatervorstellung geschah.
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Nach der Vorstellung wurde Wein serviert. Es hatte sich so ergeben, daß Keith in der Nähe des Königs stand. Dieser hatte sich an Keith gewandt, in dem er offenbar den englischen Gesandten erkannte, und stammelnd versucht, ihm den zentralen Gehalt des Stücks zu erklären. Das Stück handele davon, sagte der König zu mir, daß diese Menschen am Hof so tief in Bosheit versunken seien, daß sie Affen oder Teufeln glichen; sie ergötzten sich am Unglück anderer und beweinten deren Glück, dies sei zur Zeit der Druiden Kannibalismus genannt worden, Anthropophagie. Deshalb befänden wir uns unter Kannibalen.
Der ganze »Ausbruch« des Königs sei, in Anbetracht der Tatsache, daß er von einem Geisteskranken kam, sprachlich bemerkenswert gut formuliert gewesen.
Keith hatte nur genickt und eine interessierte Miene aufgesetzt, als sei alles, was der König sagte, interessant und vernünftig. Doch war ihm aufgefallen, daß Christians Analyse des satirischen Inhalts des Stücks nicht ganz falsch gewesen war.
Der König hatte geflüstert, als vertraue er Keith ein wichtiges Geheimnis an.
Guldberg hatte ihr Gespräch die ganze Zeit aus einigen Metern Abstand mit Wachsamkeit oder Unruhe beobachtet. Er hatte sich ihnen langsam genähert.
Christian sah dies und versuchte, das Gespräch zu beenden. Mit lauter Stimme, fast provokativ, rief er:
»Man lügt. Lügt! Brandt war ein kluger, aber wilder Mann. Struensee war ein feiner Mann. Nicht ich habe sie getötet. Verstehen Sie?«
Keith hatte sich lediglich stumm verneigt. Christian fügte noch hinzu:
»Aber er lebt! Man glaubt, er sei hingerichtet worden! Aber Struensee lebt, wußten Sie das?«
Zu diesem Zeitpunkt war Guldberg ihnen so nahe gekommen, daß er die letzten Worte hören konnte. Er hatte den König fest am Arm gefaßt und mit einem steifen, aber beruhigenden Lächeln gesagt:
»Struensee ist tot, Majestät. Das wissen wir doch, oder? Wissen wir das nicht? Darauf haben wir uns doch geeinigt? Oder?«
Der Tonfall war freundlich, aber zurechtweisend. Christian hatte daraufhin seine eigentümlichen mechanischen Verbeugungen wieder aufgenommen, dann aber innegehalten und gefragt:
»Aber man spricht doch von der Struenseezeit? Nicht von der Guldbergzeit. Der Struenseezeit!!! Eigenartig!!!«

Dies ist der Anfang des ersten Kapitels des schwedischen Romans Der Besuch des Leibarztes (Livläkarens Besök) von Per Olov Enquist. Wir sind wirbelig und quirlig mitten drin im 18. Jahrhundert in Dänemark, das ein geisteskranker König regiert, something is rotten in the state of Denmark. Ich weiß, dass Sie jetzt sofort weiterlesen wollen und sich bei booklooker den Roman bestellen wollen. Kostet dort in der Hanser Hardcover Version 41 Cent, der Roman ist aber viel mehr wert. Ich weiß nicht, wie es kommt, dass so ein erstklassiger Roman in erstklassiger Übersetzung schon verramscht wird. Ich gebe allerdings zu, dass ich mein Exemplar vor vielen Jahren im Grabbelkasten des Antiquariats Bücherwurm fand. Das Antiquariat gibt es leider nicht mehr (Eschi auch nicht mehr), aber ich habe jahrzehntelang von den Bücherfunden in ihren auf der Straße aufgestellten Holzkästen profitiert. 

Der schwedische Schriftsteller Per Olov Enquist wurde heute vor neunzig Jahren geboren, deshalb soll er einen kleinen Post bekommen. Er war schon häufig in diesem Blog, in den Posts Graf Schimmelmann, Vaterlandsstolz, Kieler Frieden, Hannover und der Leibarzt wird er erwähnt. Schwedische Literatur ist nicht so mein Ding, aber Der Besuch des Leibarztes in der Übersetzung von Wolfgang Butt habe ich gelesen. Sogar zweimal. Ich habe auch die Autobiographie von Enquist Ein anderes Leben (wieder in der Übersetzung von Wolfgang Butt) gelesen. Der schwedische Hochadel war schon in meinem Blog. Schwedische Schauspielerinnen kommen immer wieder in diesem Blog vor, schwedische Regisseure wie Ingmar Bergman und Bo Widerberg auch. Und natürlich schwedische Jazzsängerinnen. Und schwedische Maler. Aber mit schwedischer Literatur sieht es hier dünn aus.

Natürlich sind Sjöwall Wahlöö in diesem Blog, über die weiß ich alles, weil ich mal ein Buch über Kriminalromane geschrieben habe. Selma Lagerlöf habe ich nie gelesen, und Knut Hamsun ist nur in diesem Blog, weil ich den Film ✺Landstrykere mit der schönen Marika Lagercrantz gesehen hatte. Einen schwedischen Autor, der weithin unbekannt ist, kenne ich aber doch, der kommt mit zwei seiner Romane in den Posts Giuseppe Verdi und Sexuelle Revolution vor.  

Ich halte Die Woche mit Sara und Das Geschmeide der Königin: Romaunt in zwölf Büchern für zwei ganz großartige Romane. Wenn ich ein wenig Werbung für den schwedischen Schriftsteller Carl Jonas Love Almqvist mache, dann hat das auch ein wenig mit Lokalpatriotismus zu tun. Weil Almqvist mal in Bremen gelebt hat und auch in Bremen gestorben ist. Er findet sich natürlich auch in Johann-Günther Königs Literaturgeschichte Bremens, wo jeder Schriftsteller erwähnt wird, der mal in Bremen gelebt oder über Bremen geschrieben hat. Jay wird da übrigens auch erwähnt, so berühmt ist er schon.

Es ist nicht zum ersten Mal, dass die Geschichte von Struensee und seiner Liebe zur Königin Caroline Mathilde erzählt wird. Das erste Buch erschien 1793 anonym in Kopenhagen, Flensburg und Altona (damals alle dänische Städte) und hatte den Titel Friedrich Graf von Struensee oder Das dänische Blutgerüst. Der Verfasser war Johann Ernst Daniel Bornschein, der später populärhistorische Romane schrieb, dies war sein erstes Werk. Auch deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts haben das Thema zum Roman verarbeitet. Wie zum Beispiel Robert Neumann mit dem Roman Struensee: Doktor, Diktator, Favorit und armer Sünder (1935), den er im Exil schrieb. Er nannte ihn später seinen schlechtesten Roman. Bei ebay kann man das Buch für drei Euro kaufen. Das Buch wurde 1996 unter dem Titel Der Favorit der Königin wieder aufgelegt. Und dann gibt es noch von Edgar Maass (dem Bruder von Joachim Maass) den Roman Der Arzt der Königin (1950). Aber es kommt nicht auf die Geschichte an, die kennen wir. Es kommt darauf an, wie die Geschichte erzählt wird. 

Und das ist das Aufregende bei Enquist. Der Schriftsteller und Kritiker John de Falbe schrieb im Spectator: Enquist has imagined this appalling drama with immense sensitivity and intelligence. Enquist writes in short, jerky sentences which often seem to repeat themselves. Although disconcerting at first, the technique works brilliantly. The atmosphere is suitably nervy, while the shifting ground beneath the apparent repetitions is vibrant with stealth and subterfuge. ... The swirling currents - emotional, political, social, spiritual - are so vivid that we cannot doubt the relevance of this historical tale

Besser kann man es nicht sagen. Es ist ein historischer Roman, sorgfältig recherchiert, aber es ist auch ein Sprachkunstwerk. Das merken Sie schon an diesem kleinen Auszug. Und wenn Sie einmal eine Seite von Rita Hausers unsäglichem Roman der Fall Struensee lesen, dann kehren Sie sofort wieder zu Per Olov Enquists Buch zurück. Struensees Leben ist verfilmt worden, mehrfach, schon seit den 1920er Jahren. Ich könnte Ihnen hier die Verfilmung ✺Herrscher ohne Krone mit O.W. Fischer als Struensee anbieten. Auf diesem Filmphoto ist O.W. Fischer Struensee, Horst Buchholz spielt den König Christian und Odile Versois ist die Königin. Die neueste Verfilmung ✺En kongelig affære von 2012 (mit Mads Mikkelsen als Struensee) hätte ich hier auch noch für Sie. Hat schöne Bilder, hat aber nichts von der sprachlichen Qualität von Enquists Roman. Wenn Sie den Roman von Gert Heidenreich vorgelesen haben wollen (er liest sehr schön), das habe ich ✺hier auch.

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