Donnerstag, 9. Dezember 2021

Jürgen Ovens


Der Maler Jürgen Ovens ist am 9. Dezember 1678 in Friedrichstadt gestorben; als er 1623 geboren wurde, war diese Stadt gerade entstanden. Der Herzog Friedrich III von Schleswig-Holstein-Gottorf hatte hier eine Musterstadt mit Hilfe von holländischen Remonstranten bauen lassen, denen er Religionsfreiheit gewährte. Wenn man will, war das hier ein kleines Holland, die Amtssprache war bis ins 18. Jahrhundert Holländisch. Wenn man sich die niederländische Backsteinrenaissance der Stadt und die kleinen Grachten anschaut, merkt man das heute immer noch. 

Der Maler Jürgen Ovens ist am 9. Dezember 1678 in Friedrichstadt gestorben; als er 1623 geboren wurde, war diese Stadt gerade entstanden. Der Herzog Friedrich III von Schleswig-Holstein-Gottorf hatte hier eine Musterstadt mit Hilfe von holländischen Remonstranten bauen lassen, denen er Religionsfreiheit gewährte. Wenn man will, war das hier ein kleines Holland, die Amtssprache war bis ins 18. Jahrhundert Holländisch. Wenn man sich die niederländische Backsteinrenaissance der Stadt und die kleinen Grachten anschaut, merkt man das heute immer noch. Dies Bild hier ist nicht von Ovens, es ist von einem Maler, den ich nicht kenne. Es ist ein Portrait von Frau Gertrud Schlüter-Göttsche, einer Ärztin und Kunsthistorikerin, die ein kleines Buch über den schleswig-holsteinischen Barockmaler Jürgen Ovens geschrieben hat. Das im Wikipedia Artikel zu Ovens erstaunlicherweise nicht erwähnt wird. Ihre Doktorarbeit im Fach Kunstgeschichte hatte sie 1935 über den Oldenburger Maler Wolfgang Heimbach geschrieben, einem Maler, der hier schon einen Post hat. Mit dem 17. Jahrhundert kennt sie sich bestens aus. Gertrud Schlüter-Göttsche war eine erstaunliche Frau, sie hat eine Stiftung ins Leben gerufen und ihr großes Wohnhaus in Kiel an ihrem Lebensende zu einem Studentenwohnheim gemacht, non mihi sed posteris.

Jürgen Ovens, hier ein Selbstbildnis von 1650, das die Hamburger Kunsthalle besitzt (die Bremer Kunsthalle hat ein Dutzend Zeichnungen von ihm), ist nicht zum erstenmal in diesem Blog. In dem Post Abschiedsgeschenk steht sehr viel über ihn. Auch in dem Post über den holländischen Maler Govaert Flinckmit dem er befreundet ist. Ovens ist mit siebzehn nach Amsterdam gegangen und zehn Jahre geblieben. Aber auch, wenn er in das von den Holländern geprägte Friedrichstadt gezogen ist, wird er immer wieder den Kontakt mit Holland suchen. Er bringt die holländische Kunst an den Hof des Herzogs Friedrich III, der ihm immer wieder Aufträge erteilt und ihn gut bezahlt.

Den Titel eines Hofmalers wird er allerdings von Friedrich nicht bekommen, den hat ein gewisser Johann (oder Hans) Müller, über den man nicht sehr viel weiß. Ovens ist stolz darauf, ein freier Maler zu sein. Sein Herzog wird ihm immerhin die Steuern erlassen. In Amsterdam halten sie den Jurriaen Ovens für einen Hofmaler, was ihm viele Aufträge als Portraitist verschafft. In Amsterdam malt er das reiche Bürgertum (wie hier die Regenten des Oudezijds Huiszittenhuis), in Gottorf und Stockholm malt er Herzöge und Könige.

Jürgen Ovens hat die ganzen Gottorfer, sowohl Friedrich III als auch seine Familie, mehrfach gemalt. Das größte dieser Bilder zeigt Friedrichs Sohn Christian Albrecht als Schirmherr der Künste und der Wissenschaften. Das Bild (3,50 x 3,38) hängt heute im Landesmuseum Schleswig. Ovens übertreibt es mit seiner Huldigung. Der Herzog Christian Albrecht, nach dem die Kieler Uni heißt, ist im Gegensatz zu seinem Vater kein Förderer von Kunst und Wissenschaft gewesen. Sie können etwas mehr dazu in dem Post Abschiedsgeschenk lesen, in dem auch viel über Adam Olearius steht. 

Und natürlich noch viel mehr in dem vierbändigen Katalog Gottorf im Glanz des Barock: Kunst und Kultur am Schleswiger Hof 1544-1713. Auf dem von Putti gehaltenen Schild des Huldigungsbildes
kann man lesen: Die Sonne geht unter, entzieht uns den schein / ein ander Licht gehet gewünschet herein, / Die Pallas reist ab das schwarze gewandt. / Die Musen die stellen sich wieder zur handt / Der Schlangenkopff weichet wen Hercules komt / und seinen Sitz auff dem Olivenstuhl nimt / Der Himmel dem David das Regiment giebt / Des frewen sich jung und alt, die er auch liebt. Ovens hat das Bild ohne Auftrag und ohne Bezahlung gemalt, aber das Geschenk hat seine Wirkung: Christian Albrecht ruft ihn aus Amsterdam zurück nach Schleswig und ernennt ihn zum Hofmaler.

Ovens' Portrait von Friedrich III ist nur 17x16 cm groß, wahrscheinlich hat es eine größere Version dieser Miniatur auf der Kupferplatte gegeben. Dieses große Portrait Friedrichs ist von einem Konkurrenten von Ovens, einem Mann namens David Klöcker Ehrenstrahl. Bevor der schwedische Hofmaler geadelt wurde und den Adelsnamen Ehrenstrahl annahm, war er ein schlichter David Klöcker aus Hamburg. Er wird auch Friedrichs Tochter, die Königin Hedvig Eleonora malen, die ihn immer gefördert hat. Es ist ein eher stilles Bild, das ganz im Gegensatz zu der pathetischen barocken Allegorie der schwedischen Königin auf dem Bild von Ovens steht: Prinzessin Hedwig Eleonora von Schleswig-Holstein-Gottorf wird von Minerva gekrönt.

Kunsthistoriker streiten sich darüber, ob Ovens wirklich ein Schüler Rembrandts gewesen ist. Er hat wohl in der Werkstatt Rembrandts gearbeitet, aber das haben viele getan. Er bewundert Anthonis van Dyck, das kann man an diesem Bild eines unbekannten Mannes sehen (wenn das Bild überhaupt von Ovens ist). Eine Anzahl von seinen Bildern ist lange anderen Malern zugeschrieben worden, Ovens orientiert sich an der Kunst seiner Zeit, legt sich aber nicht auf einen klar erkennbaren Stil fest. Seine Werke sind heute weit verstreut. Das hat etwas mit den verwandschaftlichen Beziehungen der Gottorfer Herzöge zu tun und noch mehr mit dem Krieg. Denn zu Ovens' Lebzeiten ist immer Krieg, erst der Dreißigjährige Krieg und dann der Torstenssonkrieg. Das ist der Krieg, in dem die Schweden den Garten von Johann Rist zerstören. Zweimal.

Dieses schöne Portrait, das den Maler beim Portraitieren seiner Ehefrau zeigt, mit der er jetzt zwei Jahre verheiratet ist, ist im Besitz der Eremitage. Die meisten Bilder von Ovens kann man heute nicht im Museum Gottorf sehen, das vierzehn Gemälde besitzt, die meisten Bilder hängen in Dänemark oder Schweden. Den beiden Nationen, mit denen sich der Gottorfer Herzog verbündete oder sie bekämpfte. Er stirbt in der Festung Tönning, in die sich sein Hof während des zweiten Nordischen Kriegs zurückgezogen hatte. Sein Sohn Christian Albrecht wird Herrscher über ein besetztes, hochverschuldetes Land. Wenn Sie alles über die politischen Verwerfungen im Land wissen wollen, dann lesen Sie den hervorragenden Artikel Gottorfer Herzöge von Dieter Lohmeier, dem ehemaligen Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek.

Das Werk von Jürgen Ovens (hier die sogenannte Blaue Madonna aus dem Schleswiger Dom, die Theodor Storm in Aquis submersis erwähnt) interessiert die Kunsthistoriker erst am Ende des 19. Jahrhunderts. Einer der ersten Aufsätze, der von der Malerin Doris Schnittger, findet sich 1885 im Repertorium für Kunstwissenschaft (S. 138-152). 1922 wird der 1883 in Port au Prince geborene Kaufmannssohn Dr Harry Schmidt ein Buch vorlegen, in dem alles gesammelt ist, was man damals über Jürgen Ovens weiß. Es ist eine ungeheure Fleißarbeit, an der Schmidt mehr als zehn Jahre gearbeitet hat. Sein im Selbstverlag erschienenes Buch Jürgen Ovens: Sein Leben und seine Werke. Ein Beitrag zur Geschichte der niederländischen Malerei im 17. Jahrhundert ist als Volltext im Internet. 1962 hatte Schmidt den Plan, zusammen mit Gertrud Schlüter-Göttsche sein Werk nach vierzig Jahren auf den neuesten Stand zu bringen, dazu ist es aber leider nicht mehr gekommen. 

1922 schrieb Schmidt in seinem Vorwort: Das Werk über Jürgen Ovens soll eine seit Jahrzehnten schwer empfundene Lücke unserer Kenntnis der heimischen Malerei endlich ausfüllen. Die Bedeutung des hervorragendsten Malers, den das Land zwischen Elbe und Königsau in alter Zeit hervorgebracht hat, geht freilich über die einer lokalen Größe weit hinaus. Auch im Rahmen der niederländischen Kunst betrachtet, nimmt Ovens eine wichtige Stellung ein. Zweifellos ist der Meister die bedeutendste Persönlichkeit, die im 17. Jahrhundert den künstlerischen Zusammenhang zwischen den Niederlanden und Schleswig-Holstein hergestellt hat. Das Buch verdankt der Liebe zur Heimat, dem Interesse an ihrer reichen Vergangenheit seine Entstehung. Es hat dem Verfasser alle Arbeit und Mühe, und, es soll nicht verschwiegen werden, auch zeitweilig drückende Sorgen, belohnt. Denn es hat in langen, vielfach trüben, von des Vaterlandes Not umdüsterten Jahren in ihm das Glücksgefühl lebendig erhalten, das die wissenschaftliche Forschung denen schenkt, die sich um die Erkenntnis mühen. 

Diese junge Dame vor dem Familienportrait vor einer Landschaft von Ovens, das im Museum Gottorf hängt, heißt Constanze Köster. Ihre Dissertation über Ovens erschien vor vier Jahren im Michael Imhof Verlag, das ist jetzt the state of the art der Ovens Forschung. Hat 432 Seiten und kostet 99€. Preiswerter ist das schöne kleine Buch von Gertrud Schlüter-Göttsche, das es bei booklooker für 4,40€ gibt. Ganz kostenfrei ist das immer noch beeindruckende Buch von Harry Schmidt im Internet. Wo sich auch, ein klein wenig verborgen, die interessante Magisterarbeit von Harry Viehl (Marburg 2000) findet.

Auf einem verschollenen Epitaph im Schleswiger Dom befand sich eine lange lateinische Inschrift, aus der ich einmal einen Satz in der Übersetzung wiedergebe: Der hier gebettet wird, Georg Ovens, war seiner Kunst der Vornehmste - des Zeuxis Farben - des Apelles Bilder - - Raphaels liebliche Feinheit, bis hin zu Rembrandts Schattentiefe und kühnem Farbenauftrag - das Alles findet sich hier. Das hat im 18. Jahrhundert ein Pastor geschrieben, aber die schöne Lobpreisung des Malers, deren Text sich bei Harry Schmidt findet, stimmt nicht ganz. Ovens ist nicht in Schleswig begraben, sein Grab ist in der Sankt Christopherus Kirche in Friedrichstadt, der er auch 1675 diesen Altar geschenkt hat.

Montag, 6. Dezember 2021

Nikolaus

Das Nikolauspostamt in der saarländischen Gemeinde St. Nikolaus kriegt Jahr für Jahr tausende von Briefen von Kindern aus aller Welt. Der wichtigste Wunsch in diesem Jahr ist, dass diese schreckliche Corona Krankheit endlich weggeht. Auf Platz zwei steht das IPhone. Gestern wurde das Postamt offiziell eröffnet, aber schon vor der Eröffnung waren von den Helfern des Nikolaus (oder heißen die Wichtel?) mehr als dreizehntausend Briefe beantwortet worden. Kinder glauben noch immer an den Nikolaus. Obgleich es immer wieder Zweifel gibt, dass es den Nikolaus wirklich gibt.

Die Zweifel hatte die kleine Virginia O’Hanlon, die im Jahre 1897 an den Herausgeber der New Yorker Sun schrieb: Dear Editor: I am 8 years old. Some of my little friends say there is no Santa Claus. Papa says, ‘If you see it in 'The Sun' it’s so.’ Please tell me the truth; is there a Santa Claus? Der Herausgeber antwortete mit der Schlagzeile: Yes, Virginia, there is a Santa Claus. Sein Artikel ist seit 1897 beinahe jedes Jahr in irgend einer amerikanischer Zeitung nachgedruckt worden. Es ist schön, dass diese Frage endlich einmal geklärt wurde. Lange bevor Coca Cola behauptete, dass sie den Santa Claus erfunden haben.

In meinem ersten Jahr als Blogger stand hier am 6. Dezember der Post Sünnerklaas, eine autobiographische Geschichte über das Nikolauslaufen in meiner Heimatstadt Bremen, und die kleine Virginia O’Hanlon wird schon in dem Post Nikolaustag erwähnt. Das Nikolauslaufen gehörte zu meiner Jugend; die Verse, die man in der Dunkelheit an fremden Türen aufsagen musste, die kann ich immer noch:

Nikolaus de gode Mann,
kloppt an alle Dören an.
Lüttje Kinner gifft he wat,
grode steckt he in'n Sack.
Halli, Halli, Hallo,
So geiht nah Bremen to.


Noch mehr über den Heligen Nikolaus von Myrna in den Posts: KinderbischofSanta Claus, Donder and Blitzen, Esel, Nikolaustag. Und etwas Musik habe ich heute auch, nämlich die Kantate Saint Nicolas von Benjamin Britten.

Sonntag, 5. Dezember 2021

Advent

Der große Herbststurm ist vorüber, draußen ist es kalt und ungemütlich. Der Schnee auf den Autodächern ist so gut wie weggetaut, jetzt pladdert der Regen runter. Die Corona Pandemie hat einen neuen Höhepunkt. Auf den Straßen demonstrieren  Querdenker, Impfgegner und Corona-Leugner. In den Talkshows sitzen wieder die, die da immer sitzen. Die Politik ist hilflos. So richtig weihnachtlich ist uns nicht. Da bleibt uns nur eine Flucht in die Literatur. Wie zum Beispiel in Fontanes Roman Unwiederbringlich, in dem sich ein schönes Adventslied findet, das der Pastor Schleppegrell gedichtet hat:

»Sie drücken Zweifel aus, Graf, vor allem vielleicht einen Zweifel an meiner Überzeugung. Aber es ist, wie ich sage. Großer Stil! Bah, ich weiß wohl, die Menschen sollen tugendhaft sein, aber sie sind es nicht, und da, wo man sich drin ergibt, sieht es im ganzen genommen besser aus als da, wo man die Moral bloß zur Schau stellt. Leichtes Leben verdirbt die Sitten, aber die Tugendkomödie verdirbt den ganzen Menschen.«
Und als sie so sprach, fiel aus einem der die Tafel umstehenden Tannenbäumchen ein Wachsengel nieder, just da, wo Pentz saß. Der nahm ihn auf und sagte: »Ein gefallener Engel; es geschehen Zeichen und Wunder. Wer es wohl sein mag?«
»Ich nicht«, lachte Ebba.
»Nein«, bestätigte Pentz, und der Ton, in dem es geschah, machte, daß sich Ebba verfärbte. Aber ehe sie den Übeltäter dafür abstrafen konnte, ward es hinter der Tannen- und Zypressenwand wie von trippelnden Füßen lebendig. Zugleich wurden Anordnungen laut, wenn auch nur mit leiser Stimme gegeben, und alsbald intonierten Kinderstimmen ein Lied, und ein paar von Schleppegrell zu dieser Weihnachtsvorfeier gedichtete Strophen klangen durch die Halle.

Noch ist Herbst nicht ganz entflohn,
Aber als Knecht Ruprecht schon
Kommt der Winter hergeschritten,
Und alsbald aus Schnees Mitten
Klingt des Schlittenglöckleins Ton.
Und was jüngst noch, fern und nah,
Bunt auf uns herniedersah,
Weiß sind Türme, Dächer, Zweige,
Und das Jahr geht auf die Neige,
Und das schönste Fest ist da.
Tag du der Geburt des Herrn,
Heute bist du uns noch fern,
Aber Tannen, Engel, Fahnen
Lassen uns den Tag schon ahnen,
Und wir sehen schon den Stern.


Das Weihnachtslied von Pastor Schleppegrell aus dem 22. Kapitel von Fontanes Roman Unwiederbringlich nimmt der Situation ein wenig von der Spannung. Abgesehen davon, dass Weihnachten bei uns allen aus unerklärlichen Gründen Spannungen verursacht - selbst hier in der beschaulichen Welt des dänischen Adels vor dem deutsch-dänischen Krieg ist something rotten in the state of Denmark. Und im Privaten. Unwiederbringlich ist wie Effi Briest ein Ehebruchsroman, und er basiert wiederum auf einer wirklichen Begebenheit. Die sich natürlich nicht im Schleswigschen zugetragen hat, dahin transponiert Fontane nur die Geschichte. Denn hier oben kennt er sich aus. Natürlich kennt er sich eigentlich in Brandenburg und in Berlin aus, aber wenn irgendjemand im 19. Jahrhundert alle Sagen und Anekdoten kennt, die man sich von der Eider bis zum Limfjord erzählt, dann ist das Theodor Fontane.

In sein Buch Der Schleswig-Holsteinische Krieg im Jahre 1864 hatte er ungeheuer viel Arbeit gesteckt, weil er hoffte, damit die Anerkennung des Berliner Hofes zu erringen. Sein geplantes skandinavisches Buch ist unvollendet geblieben. Im Jahre 2004 wurde von Christian Andree eine Rekonstruktion des Buches herausgegeben. Es ist eine hochinteressante Lektüre, die Wanderungen durch die Mark Brandenburg werden hier nach Dänemark verlegt. Dank all dieser Vorarbeiten kann Fontane die Geschichte des Karl von Maltzahn leicht in das damals dänische Schleswig versetzen. Und so ist ihm natürlich nicht entgangen, dass der Name Schleppegrell da oben relativ häufig vorkommt. Einen dänischen General namens von Schleppegrell hat man bei der Schlacht von Idstedt vom Pferd geschossen, die Geschichte erzählt man sich in Idstedt heute immer noch.

Eigentlich kommen die Schlep(p)egrells ja aus Niedersachsen: Schlepegrell. Evangelisch. - Niedersächsischer Uradel, der mit Genehardus Slepegrelle jun., miles, 11. Okt. 1297 urkundlich (Sudendorf, Urk.-Buch der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg und ihrer Lande VI, Urk. 151) zuerst erscheint. - Wappen.: In Silber eine aufwärtsgebogene rechtsgekehrte goldbewehrte schwarze Bärentatze. Auf dem Helme mit silbernen Decken eine mit drei Pfauenfedern besteckte silberne Säule zwischen sieben goldgeschafteten mit der Bärentatze belegten silbernen Fähnlein (vier rechts, drei links gewendet). (S. 675, Gotha. Genealog. Taschenbuch der Uradeligen Häuser, 11. Jg. 1910). Einer von diesen Schleppegrells ist uns schon bei der Belagerung von Gibraltar begegnet, hier ist er auf dem Bild von John Singleton Copley im Hintergrund neben dem Colonel von Hugo.

Aber mit diesen hannöverschen Schleppegrells ist der Pastor in Fontanes Roman, der das Adventsgedicht (und eine Ballade) beisteuert, nur entfernt (wenn überhaupt) verwandt. Mit dem dänischen General ist er allerdings (in Fontanes Roman) verwandt. Er ist eine imponierende Erscheinung: Dieser andre war Pastor Schleppegrell von Hilleröd, ein stattlicher Fünfziger, der seine Stattlichkeit durch seinen langen Predigerrock noch um ein erhebliches gesteigert sah. Er küßte der Prinzessin die Hand, aber mit mehr Ritterlichkeit als Devotion, und betonte dann seine Freude, seine Gönnerin wiederzusehen. Er ist am dänischen Hofe kein Unbekannter: »Nein«, lachte die Prinzessin. »Schleppegrell ist kein Dissenter-General, aber er ist freilich der Bruder eines wirklichen Generals, der Bruder von General Schleppegrell, der bei Idstedt fiel. Vielleicht zu rechter Zeit. Denn de Meza übernahm das Kommando.« »Ah«, sagte Holk. »Also daher.« »Nein, lieber Holk, auch nicht daher; ich muß leider noch einmal widersprechen. Das, was Sie ›seine Sicherheit‹ nennen hat einen ganz andern Grund. Er kam mit zwanzig Jahren an den Hof, als Lehrer, sogar als Religionslehrer, verschiedener junger Prinzessinnen, und das andre können Sie sich denken. Er hat zu viel junge Prinzessinnen gesehen, um sich durch alte noch imponieren zu lassen. Übrigens sind wir ihm und seiner klugen Zurückhaltung zu großem Danke verpflichtet, denn es lag dreimal so, daß er, wenn er gewollt hätte, jetzt mit zur Familie zählen würde. Schleppegrell war immer sehr verständig. Nebenher habe ich nicht den Mut, den Prinzessinnen von damals einen besondern Vorwurf zu machen. Er war wirklich ein sehr schöner Mann und dabei christlich und ablehnend zugleich. Da widerstehe, wer mag.«

Der Bruder des Generals von Schleppegrell wäre mir entgangen, wenn nicht mein alter Pastor Klaus Nebelung einmal einen Vortrag über die Pastoren bei Theodor Fontane gehalten hätte. Und da tauchte der Pastor Schleppegrell natürlich in aller Wichtigkeit auf. Der Pastorin Schleppegrell legt Fontane im Übrigen ein Zitat in den Mund, das sehr schön ist: Man muss sich untereinander helfen, das ist eigentlich das Beste. Sich helfen und unterstützen und vor allem nachsichtig sein und sich in das Recht des andern einleben. Denn was ist Recht? Es schwankt eigentlich immer. Aber Nachgiebigkeit einem guten Menschen gegenüber ist immer recht. Und so nehmen wir heute für einen besinnlichen Advent einmal das Adventsgedicht vom Pastor Schleppegrell und die weisen Worte seiner Gattin mit.



Donnerstag, 2. Dezember 2021

Der Louis ist Napolium

Heute vor hundertsiebzig Jahren hat Charles-Louis-Napoléon Bonaparte mit einem Staatsstreich eine Diktatur errichtet, ein Jahr später ernennt er sich zum Kaiser und heißt Napoleon III. Victor Hugo nennt ihn Napoléon le Petit und verlässt Frankreich. Der Titel des Posts heute ist dem Napoleonspiel von Wilhelm Busch entnommen. Das habe ich hier vor zehn Jahren schon einmal zitiert, als ich den Post Napoleon III schrieb. Erwähnt wird in dem Post Karl Marx nicht, ich weiß nicht, weshalb ich den ausgelassen habe. Denn er hat die Machtergreifung in seinem Werk Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte kommentiert. Das Werk beginnt mit dem schönen Satz: Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce.

Die lumpige Farce endet zwanzig Jahre später, dann sitzen Napoleon III und Bismarck in Donchery auf einer Bank vor dem Haus eines armen Webers. Das steht schon (mit Bild) in dem Post les grandes horizontales. Und der Louis kommt auch noch in dem Post Paris vor. Mehr Platz hat er in diesem Blog nicht verdient.

Sonntag, 28. November 2021

Kohl und Pinkel


Falls Sie sich jetzt an dem Wort Pinkel im Titel stoßen sollten, in Bremen heißt das Bremer Nationalgericht wirklich so. Und da es heute Mittag bei mir Grünkohl gibt, habe ich mich entschlossen, meinen Lesern noch einmal diesen Post aufzutischen, der schon häufig hier stand. Wenn Sie den Post lesen, wissen Sie alles über Kohl und Pinkel. Ein Gericht, das in Norddeutschland traditionell zwischen Buß- und Bettag und Gründonnertag gegessen wird, und das schon mal in der Diskussion war, zum immateriellen Kulturerbe erklärt zu werden.

Grünkohl für Holland heißt ein Theaterstück von Otto Jägersberg. Der Autor hat sich mal vor dem Straßenschild der gleichnamigen Kieler Straße Jägersberg photographieren lassen und dann scherzhafterweise behauptet, sie sei nach ihm benannt. Kann man noch auf Diogenes Paperbacks aus den siebziger Jahren sehen. Ich habe alles gekauft, was Otto Jägersberg geschrieben hat, habe es gelesen und im Regal stehen. Das habe ich nur von wenigen deutschen Autoren gemacht, die mein Leben begleitet haben: Rolf Dieter Brinkmann, Uli Becker und Arno Schmidt. 

Arno Schmidt hat nette Dinge über den ersten Roman von Jägersberg gesagt, und wenn Diogenes einen als Autor nimmt, dann kann man nicht ganz schlecht sein. Jägersberg (Bild) ist so alt wie ich, er kommt aus Westfalen. Wie Uli Becker. Und die Gegend, wo Brinkmann herkommt, ist ja eigentlich auch schon Westfalen. In Jägersbergs ersten Romanen habe ich in Diktion und Akzent die ganze Verwandtschaft von Opa wieder reden hören. Irgendwann hat Jägersberg aufgehört zu schreiben, er hat noch Drehbücher geschrieben und ich habe mal im Nachtprogramm des Fernsehens einen Film über Mode von ihm gesehen. Aber er schreibt leider nicht mehr so tolle Dinge wie Weihrauch und PumpernickelNette Leute oder Grünkohl für Holland. Das hat er selbst fürs Fernsehen inszeniert, die ARD hat es am 5.6.1973 um 21 Uhr gezeigt. Das war ein Dienstag, ich weiß das noch, weil ich mir in jener Woche am Freitag beim Fußball den Daumen gebrochen hatte.

Grünkohl für Holland gehört mit zwei anderen Stücken zu einem kleinen Band, der Cosa Nostra: Drei Stücke aus dem bürgerlichen Heldenleben, heißt. Die Stücke haben viel gemeinsam, aber nur in einem wird über Grünkohl geredet. Die da reden, haben keine Namen, sie heißen SIE und ER. Eigentlich haben sie eine Ehe- und Lebenskrise, aber sie reden die ganze Zeit über übers Essen. Das absurde Theater hat die deutsche Küche erreicht. Das Stück ist eine Kreuzung aus Beckett und Loriot. Der wird das sicher gelesen haben, denn sein Schwiegersohn ist der Cheflektor von Diogenes. Jägersberg hatte der Verlagschef Daniel Keel schon Anfang der sechziger Jahre entdeckt und sofort Weihrauch und Pumpernickel: Ein westpfählisches Sittenbild auf den Markt gebracht, wahrscheinlich auch deshalb, weil ihm Arno Schmidt diesen lobenden Brief geschrieben hat. 

Die großen Fragen der Menschheit, die in Grünkohl für Holland behandelt werden, sind Leitsätze für jeden Grünkohlliebhaber in Bremen. Dass Holländer keinen Grünkohl anbauen können und dass der Kohl den ersten Frost gehabt haben muss, damit er so richtig knackig ist. Beides stimmt wahrscheinlich nicht, aber man gibt seine Vorurteile ungern auf. Hier reden zwei Menschen in der Küche über Tomatenmark, Paprika, Rosenkohl, Käse und Bratkartoffeln, aber eigentlich reden sie über etwas anderes. Dies ist die Vorwegnahme von Unterhaltungen von Yuppies, deren Leben so inhaltsleer ist, dass sie nur noch die Namen von angesagten Lokalen austauschen können. Die amerikanische Soziologin Deborah Silverman schilderte auf dem Höhepunkt dieses Unwesens eine Gesprächsrunde, bei der der New Yorker Gastgeber (dem das stundenlange Aufzählen von Insiderlokalen zu blöd wird) den Namen Proust ins Gespräch bringt. Die Gäste halten das für ein neues angesagtes Lokal.

Der Ehemann in Jägersbergs Theaterstück schwärmt vom Hotel Graf Anton Günther in Oldenburg, wo er 1957 diesen tollen Grünkohl gegessen hat, seine Frau hat die Geschichte schon tausendmal gehört, wie alle seine Geschichten. Im Graf Anton Günther haben wir häufiger gegessen. Wenn man in Oldenburg ist, muß man da einfach essen. So wie man in Bremen damals ins Essighaus ging, wenn man fein essen wollte. Ansonsten ist der gastronomische Tourismus in den fünfziger Jahren noch nicht ausgebrochen. Das einzige Lokal von einer gewissen Berühmtheit ist der Blaue Fasan in Wiesmoor. Und im Fernsehen gibt es damals noch keine dreißig Kochsendungen, sondern bestenfalls den Fernsehkoch Clemens Wilmenrod, der allerdings nur Schauspieler war und niemals Koch gelernt hatte. Das Hotel in Oldenburg, das nach dem berühmtesten Landesherrn heißt (der sein Land aus allen Wirren des dreißigjährigen Krieges herausgehalten hat), ist alt und hat Butzenscheiben. Und ein großes Fresko aus dem Jahre 1894 vorne an der Wand, das den Grafen auf seinem Lieblingspferd Kranich zeigt.

Aber Grünkohl haben wir da nie gegessen, den isst man am besten bei Muttern zu Hause oder auf einem Grünkohlausflug. Der führt uns immer mit den Familien der Skatklubgruppe nach Bookholzberg am Rande des Hasbruch. Und da sitzen dann fünf Familien mit Kind und Kegel an langen Tischen und essen Kohl und Pinkel. Letzteres verwirrt Nicht-Bremer immer sehr. Laut dem Bremisches Koch- und Wirthschaftsbuch von der Pädagogin Betty Gleim mit dem barocken Untertitel: enthaltend eine sehr deutliche Anweisung wie man Speisen und Backwerk für alle Stände Gut zubereitet. Für junge Frauenzimmer, welche ihre Küche und Haushaltung selbst besorgen und ihre Geschäfte mit Nutzen betreiben enthält die Pinkelwurst Hafergrütze, Nierenfett, Zwiebeln, Pfeffer und Salz. Diese Masse wird in den Pinkeldarm (den Mastdarm des Rindes) gefüllt und (mit dem Kohl gekocht) als Beilage zum Grünkohl serviert. Zusätzlich zu Kassler Rippenspeer, durchwachsenem Speck und Kochwurst. Die Fleischbeilagen können in Norddeutschland regional etwas anders ausfallen, in Emden kriegt man keinen Pinkel zum Kohl. Die Kartoffeln, die dazu gereicht werden, sind häufig in Zucker glasiert oder Röstkartoffeln. Meine Mutter wirft beim Kochen immer noch einen Esslöffel Zucker in den Kohl, ich einen kleinen Löffel von Händelmeiers süßem bayrischen Senf.

Dazu muß man natürlich Bier (in Bremen trank man gerne ein Remmer) und Doppelkorn trinken, etwas anderes geht nicht. Für ständigen Nachschub an Kohl, Kartoffeln und Fleisch sorgen die Kellner, die immer wieder ungefragt Schüsseln auf den Tisch stellen. Kohl und Pinkel satt heißt es in den Werbeanzeigen, die man jetzt in jeder Zeitung lesen kann (die erste ist 1843 in den Bremer Nachrichten belegt). Dennoch, die Fleischbeilagen können so satt sein wie sie wollen, wenn es mit dem Kohl nicht stimmt, dann fährt man da im nächsten Jahr nicht wieder hin. Wer am meisten essen kann, wird Kohlkönig. Manche Vereine auf Kohl- und Pinkelfahrt bringen eine Waage mit, auf der die Vereinsmitglieder vor und nach dem Essen gewogen werden. Das ist alles schon streng ritualisiert. Diese Kohl- und Pinkelfahrten gibt es in Norddeutschland (sprich Bremen, Oldenburg und Ostfriesland) seit dem frühen 19. Jahrhundert. Aus einer solchen Fahrt ist 1829 die Bremer Eiswette hervorgegangen. Anfänglich hatten sie auch den Namen Langkohlpartien und waren eine reine Herrengesellschaft der besseren Gesellschaft. Der Schriftsteller Eduard Beurmann (der Bremen wegen einer Liebesaffaire verlassen musste) schreibt 1836 etwas boshaft über die Bremer:

Gott! Ein bremischer Tabak- oder Weinreisender würde er nicht an den Quellen des Nils, in Is-und Lappland als Bremer zu erkennen seyn? Er würde dem Vicekönig von Egypten die Bremer Cigarren vor dem türkischen Rauchtabak anempfehlen, dem Isländer würde er 'Pinkeln' und Braunkohl anpreisen, dem Lappen würde er den Bremer Wallfischthran rekommandieren ... wie er im Winter, beim Anblick der Schweizer Gletscher, ausrufen möchte: 'Es flimmert und glänzt wie Silber, aber der Braunkohl von Bremen wächst nicht unter dem Schnee der Gletscher, und wenn ich jetzt in Bremen wäre, ich würde eine 'Langkohlparthie' nach Horn mitmachen.' 

Die Langkohlpartien werden zunehmend demokratisiert, auch Frauen werden zugelassen und irgendwann sind sie etwas, was jeder in Bremen einmal im Jahr macht. Obgleich der braune Langkohl des 19. Jahrhunderts, von dem die Bauern die unteren neunzig Prozent an das Vieh verfütterten, gar nicht mehr angebaut wird. Angeblich sagt man in Oldenburg Grünkohl und in Bremen Braunkohl, aber das kann ich nicht bestätigen, weil ich in Bremen noch nie jemanden Braunkohl habe sagen hören. Da, wo Opa herkommt, heißt das Zeug etwas ironisch Lippische Palme. Diese Kohlsorte ist im Übrigen sehr alt, schon die alten Römer haben sie gekannt. Die Oldenburger und Bremer streiten sich immer darüber, wer das Gericht als erster auf den Tisch gebracht hat. Da siegen die Bremer ganz einwandfrei: seit 1545 steht Kohl und Pinkel auf der Speisekarte der Schaffermahlzeit. In diesem Jahr ist die Schaffermahlzeit ausgefallen, ob sie im Februar 2022 stattfindet, das weiß niemand.

Aus den Langkohlpartien werden die Kohl- und Pinkelfahrten, raus aus Bremen, rein in die Landgasthöfe der Umgebung. Die haben im Januar und Februar Hochsaison. Diese Fahrten werden von Kegelklubs, Schützenvereinen, Fußballvereinen, Lehrerkollegien und Betrieben gemacht und sind aus dem Bremer Leben im Januar und Februar (wenn der Kohl schön knackig angefroren ist) nicht mehr wegzudenken. Sogar die Wissenschaft hat sich schon auf sie gestürzt. Seit dem Jahre 1988 gibt es eine Doktorarbeit mit dem schönen Titel Kohl- und Pinkelfahrten: Geschichte und Struktur einer Festzeit in Norddeutschland, die soziologisch volkskundlich alles über diesen Brauch enthält. Einschließlich ausgewerteter Fragebögen von hunderten von Teilnehmern. Ich weiß nicht, ob der Verfasser Martin Westphal an der Uni Münster zum Dr. phil. promoviert wurde oder ob er Dr. kohl ist. Die Arbeit hat seiner Karriere nicht geschadet, er ist heute der Leiter des Historischen Museums in Rendsburg. Sein Buch gehört zu den am häufigsten angefragten Titeln in der Bibliothek der Oldenburger Grünkohl-Akademie. Auch so was gibt es, die Nordddeutschen nehmen ihren Grünkohl schon sehr ernst.

Auch bei uns am Tisch ist das Essen eine ernste Sache, alle Teile des Gerichtes werden sachkundig kommentiert und mit anderen Kohl-und Pinkelgerichten verglichen, die man irgendwann irgendwo gegessen hat oder selbst gekocht hat. Jedes Jahr werden wieder Rezepte ausgetauscht, an die sich aber niemand hält. Butenbremer, die jetzt schon studieren, bekommen von ihren Eltern Pinkelwurst an den Studienort nachgeschickt, außerhalb Bremens kriegt man vielleicht Kohl, aber keinen Pinkel. Nach dem Essen gehen wir erstmal stundenlang im Hasbruch spazieren, das ist besonders schön, wenn der Boden gefroren ist und Schnee liegt. Wenn der Boden vom Regen naß und matschig ist, kann man den Hasbruch vergessen. Das ist nämlich ein echter Urwald. Tausendjährige Eichen. Die vierhundertjährigen Franzosenbuchen mussten gerade gefällt werden, weil sie eine Gefahr für Spaziergänger darstellten. Nach dem Verdauungsspaziergang geht es wieder zurück in den Gasthof für Kaffee und Kuchen, es ist eigentlich unglaublich, dass der Magen schon wieder aufnahmefähig ist. Wenn die Kegelbahn frei ist, kegeln wir vorher alle noch eine Runde.

Mittlerweile sind die Tische umgestellt worden, eine Tanzfläche wurde freigeräumt. Eine Kapelle ist erschienen und spielt langsame Tanzmusik. Dicke Bäuerinnen mit Strickjacken überm Kleid tanzen miteinander, ihren Kerl kriegen die jetzt nicht mehr vom Tisch hoch. Nachdem der Kaffee und Kuchen und fett Sahne intus hat, fängt er an Konjäckchen zu schnasseln. Den Asbach lass’ mal gleich hier auf dem Tisch stehen, sagt er gönnerhaft zur Serviererin. Danach wird es bei den meisten Festivitäten gemischt, wie man so schön sagt. Auch das hat Dr. Westphal untersucht. Wir bekommen davon aber nichts mit, weil wir alle wieder in unsere Limousinen gestiegen sind und auf dem Weg nach Bremen sind. Aber für viele ist das jetzt der Ersatz für Karneval. Geben auf dem Fragebogen von Westphal viele an. Es gibt auch einen Fragebogen für das Personal, wo auch Fragen nach alkoholisierten Übergriffen der Gäste auf weibliche Bedienstete drinstehen. Der Doktor, der seinen Titel den Kohl- und Pinkelfahrten (KPF) verdankt, hat an alles gedacht. Ist natürlich scheinwissenschaftlicher Tüddelkram. Wenn man einmal eine KPF bis zum bitteren Ende mitgemacht hat, dann weiß man, wie das läuft. 

Die Gattin in Jägersbergs Theaterstück, die die Geschichte mit dem Hotel Graf Anton Günther in Oldenburg, mit dem besten Grünkohl aller Zeiten und dem Frost, den der Kohl braucht, um knackig zu werden, schon tausendmal gehört hat, hat diesmal im sanften Ehekrieg etwas Neues. Grünkohlflöhe. Hat ihr der Gemüsehändler gesagt, der Kohl braucht den Frost, damit die Grünkohlflöhe absterben. Grünkohlflöhe, ich werde wahnsinnig, sagt der Mann. Die Dialoge werden lauter. Sie schreit Wenn Du immer mit Deinem Grünkohl anfängst, und Dein blöder Grünkohl. Am Ende, nach ein paar gehässigen Bemerkungen über die Langsamkeit der Holländer scheinen sie wieder versöhnt. Es könnte jetzt aber auch ein Mord passieren. 

Donnerstag, 25. November 2021

Schweizer Oberhemden

Als die Bremer Baumwollbörse vor über hundert Jahren gebaut wurde, sah sie noch etwas anders aus, auf dem Turms des Kontorhauses war noch eine gotische Spitze. Der Entwurf des Gebäudes stammte von Johann Georg Poppe, der neben Heinrich Müller der berühmteste Architekt Bremens war. Müller, der auch die Bremer Börse am Markt baute (heute das Gebäude der Bürgerschaft), war schon einmal in diesem Blog, weil er in Vegesack die Villa Fritze gebaut hat. 

Der protzige Bau der Baumwollbörse, in dem die gleichen Geschäfte gemacht wurden wie in New Orleans auf diesem Bild von Degas, wies schnell Mängel im Material auf und bekam in den 1920er Jahren eine neue Fassade. Diesmal aus dem Wesersandstein der Obernkirchener Sandsteinbrüche; aus diesem Stein waren schon Jahrhunderte zuvor das Ratshaus und der Schütting gebaut worden. Und das Gewerbehaus und der Sockel des Rolands. Die Renovierungsarbeiten wurden dem Architekten Otto Blendermann übertragen, der hier schon einen Post hat und auch in dem Post Hohehorst vorkommt. Man will das Gebäude jetzt modernisieren, es hat eine Ausschreibung gegeben, aber so richtig glücklich ist man mit den preisgekrönten Entwürfen nicht.

Die Bremer Baumwollbörse beherbergt den gleichnamigen Verein, der die Wahrung und Förderung der Interessen aller am Baumwollhandel und an der Erstverarbeitung von Baumwolle Beteiligten zum Ziel hat. Seit dem Jahre 1906 sitzt ein Vertreter des Schweizer Spinner-, Zwirner- und Webervereins im Vorstand der Bremer Baumwollbörse. Das ist noch heute so, Peter Spoerry, dessen Familie seit 150 Jahren Baumwolle webt, ist eins der Bremer Vorstandsmitglieder. Hier ist er beim Betrachten von Baumwolle, nicht etwa im schweizerischen Glarus, sondern in der Karibik. 

Weil die Firma Spoerry da eine Plantage hat und unbestritten der Weltmarktführer bei West Indian Sea Island Cotton (WISIC) ist. Das ist nun das Feinste vom Feinsten, weil die Fasern der WISIC Baumwolle länger sind als die der feinsten Giza Baumwolle. Die meisten Sea Island Hemden, die auf dem Markt angeboten werden, sind allerdings nicht aus Sea Island Cotton, sondern aus ägyptischer Baumwolle. Peter Spoerry steht mit seiner Fabrik gut da, was man von seiner Konkurrenz, der Alumo AG, im Augenblick leider nicht sagen kann.

Denn die ist gerade von der Firma Cilander übernommen worden, der schon vorher Teile der Alumo gehört haben. Cilander veredelt Baumwolle und ist schon seit dem 19. Jahrhundert im Geschäft. Alumo, 1918 gegründet, hieß zuerst nach seinen Gründern Albrecht und Morgen, daraus wurde dann AluMo. Die Firma stellt nach eigenen Angaben die besten Baumwollstoffe der Welt her. Ich habe die Firma schon in dem Post englische Oberhemden erwähnt, weil Emma Willis auf den Stoff von Alumo schwört. Und auch italienische Luxusfirmen wie Finamore weisen darauf hin, dass der Stoff ihrer Hemden von Alumo kommt. Cilander und Alumo, das bedeutete bisher eine problemlose Kooperation, aber jetzt hat Cilander beschlossen, die Weberei in Appenzell aufzugeben. Fortan wird in Ägypten gewebt, in das Gebäude der Appenzeller Weberei wird wahrscheinlich ein Supermarkt einziehen. Die umtriebige Chefin von Alumo, Sandra Geiger, wird jetzt Schwierigkeiten haben, ihre Produkte mit dem Gütesiegel Swiss Made zu verkaufen. Und Parties wie die zum hundertjährigen Bestehen der Firma wird es wohl erst einmal nicht mehr geben.

Dass die Schweiz zu einem Zentrum der Seiden- und Baumwollweberei wurde, hat etwas damit zu tun, dass Ludwig XIV das Edikt von Nantes widerrufen hat und hundertausende von Hugenotten Frankreich verlassen, die Schweiz wird zu einem Asylland. Brandenburg auch, wo der Große Kurfürst das Edikt von Potsdam erlässt, die calvinistischen Glaubensflüchtlinge werden ihm Preußen aufbauen. Es sind nicht nur diejenigen, die mit Tuchen und Stoffen umgehen können, die in der Schweiz eine Industrie begründen. Wären die Hugenotten nicht gewesen, dann hätten die Schweizer wohl keine Uhrenindustrie. Der aus Frankreich geflohene Industrielle Daniel Vasserot gründet in Genf die ersten Webereien. Und auch die Kattun- und Calicodruckerei siedelt sich hier an. Um 1720 gibt es in Genf schon sieben Fabriken, die bedruckte Baumwolle (auch Indiennes genannt) herstellen. 1785 wurde das Werk Fabrique-Neuve in Cortaillod, Neuchâtel, der größte Hersteller von Indiennes in Europa. Es produzierte damals 160.000 der bunt bedruckten Stoffbahnen im Jahr. Der schöne Stoff auf diesem Bild wurde wohl um 1800 in Neuchâtel gewebt.

Von Schweizer Oberhemden war bisher noch keine Rede, die kommen aber noch. Zuerst kommen Taschentücher, Bett- und Tischwäsche und Trikotagen. Die Firmen Zimmerli und Calida sind ja weltweit für ihre Qualität bekannt, die Firma Lehner für ihre Taschentücher auch. Und das Glarner Tüchli lebt immer noch. 

Wir sollten auch die Seidenweberei nicht vergessen, in der Mitte des 19. Jahrhunderts nannte man den Ort Horgen im Kanton Zürich Klein-Lyon, weil es dort zehn Seidenwebereien gab. Die Baumwollwebereien, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehen, sind heute zum größten Teil Industriegeschichte. Vieles wird jetzt von Historikern aufbereitet, wie zum Beispiel in diesem ausführlichen Artikel über die Spinnerei Felsenau 1864–1975 von Christian Lüthi, dem Vizedirektor der Universitätsbibliothek Bern. Wenn man genügend sucht, dann ist das Internet voll mit einzelnen Beiträgen zur Unternehmensgeschichte der Schweiz.

Eine der ersten Hemdenfabriken war die 1902 in Stabio gegründete Camiceria Realini. Pietro Realini war nicht nur der Fabrikbesitzer, er war auch der Bürgermeister des Ortes. Die Devise, die er ausgab war: Il lavore è fatica ma grazie alla fabbrica si puo evitare l'emigrazione. Wir sind ganz im Süden der Schweiz, da spricht man noch Italienisch. Und man ist arm, man ist dankbar für jede Fabrik, die Arbeitspätze bringt. Das Geschäft floriert, 1923 kann man ein neuen Gebäude beziehen, und Petro Realini und seine Gattin tun mit ihren Stiftungen gute Werke, die von einem Waisenhaus bis zu einem Altersheim reichen. 1976 wird die Hemdenfabrik von der Ermenegildo Zegna Gruppe übernommen und heißt jetzt Consitex.

Die Luxuslinie Zegna Couture kam auch aus Stabio, wurde aber nicht in Zegnas Hemdenfabrik genäht. Da vertraute Zegna doch auf eine ganze andere Firma. Die hatte den Namen Brülisauer, ein Name, den man sich schlecht merken kann. Herbert Brülisauer hatte die Firma 1961 gegründet, er produzierte Qualitätshemden unter dem Namen Resisto und belieferte Großkunden wie PKZ oder die Warenhauskette Manor. Doch denen wurde die Swiss Made Qualität bald zu teuer, und da verlegte sich Brülisauer, dessen Sohn Marco 1993 in die Firma gekommen war, auf das Luxussegment, Klasse statt Masse. 

Und nähten die Hemden für Zegna und Tom Ford. Aber diese Kunden ließen keine Kreativität und Originalität zu und wollten immer weniger zahlen, und so beschloss Marco Brülisauer, auf Zegna und Tom Ford zu verzichten und nur noch Hemden der eigenen Marke herzustellen. Unter dem Namen Bruli. Den Namen kann man sich leicht merken. Man hat aber für alles Fälle des Namens Resisto behalten, das braun-gestreifte da unten ist meins. Heißt Resisto, hat aber ein kleines Etikett innen drin: Made in Switzerland und prodotto da Bruli.

Marco Brülisauer arbeitet eng mit der Firma Alumo zusammen, beide Firmenchefs loben den anderen (beziehungsweise die andere) in höchsten Tönen: 'Alumo ist bei mir das höchste Segment an Stoffen', sagt Marco Brülisauer. 'Marco macht wirklich wunderschöne Hemden', sagt Sandra Geiger. konnte man im letzten Jahr im Schweizer Wirtschaftsmagazin Bilanz lesen. Der Hemdenhersteller Bruli, nach eigenen Angaben der letzte unabhängige Hemdenhersteller der Schweiz, scheint gut im Geschäft zu sein, die Firma hat jetzt sogar einen Online Store. Die Hemden kosten zwischen 300 und 500 Euro, sie haben ein unverwechselbares Zeichen, an dem man ein Bruli Hemd erkennt. Und das ist ein im Ärmelschlitz des linken Ärmels eingewirkter, beinahe unsichtbarer, silberner Farben. So etwas nennt man Understatement. Diese Bruli Anzeige ist das Gegenteil von Understatement, sie ist völliger Unsinn. Das Zitat ist nicht von Leonardo da Vinci, es wurde zum erstenmal in einer Apple Reklame im Jahre 1977 verwendet.

Viele Schweizer Firmen sind untergegangen, über viele sucht man vergebens etwas zu erfahren. Die sind in der Schweiz nicht nur bei Banken verschwiegen, Hemden der Firma Diamant's Habillement de Luxe, die es früher bei Terner in Hannover gab, gibt es nicht mehr. Terner auch nicht. Wer die erstklassigen Linea hB Swiss Hemden (von denen ich eins aus Rottach-Egern habe), produziert hat, habe ich lange nicht gewusst. Inzwischen habe ich das herausgefunden: die Linea hb Hemden wurden auch von Bruli hergestellt, das hb stand offenbar für Herbert Brülisauer. Die besten Schweizer Hemden, die ich besitze, stammen von zwei inzwischen untergegangen Firmen. Sie haben alle ein Swiss Made Label eingenäht, aber ich weiß nicht, wer die Hemden hergestellt hat. Die eine untergegangene Firma ist die von Werner Baldessarini, dessen Hemden damals den Vergleich mit den besten italienischen Hemden aushielten. Tun sie nach zwanzig Jahren immer noch. Hemden halten bei mir lange, weil ich so viele habe. 

Die andere nicht mehr existierende Firma ist Hein Gericke Classic. Da hatte sich der König der Biker Lederjacken (er wird schon im Post Lederjacken erwähnt) eine kleine Luxuskollektion zugelegt. In aufwendig gemachten Katalogen bepries Gericke seine Hemden: Aus feinsten naturbelassenen Baumwollstoffen italienischer Weber im schweizer Tessin nach alter Shirtmakertradition genäht. Das alles stimmte, sogar der Musterverlauf war angepasst und die Knopflöcher waren handgenäht. Das ist man bei Fray (die 1991 auch die Firma pegaso kauften) und Borrelli gewöhnt, aber hier? Die Hemden kosteten 169 Mark, das teuerste 298 Mark. Der Preis fiel aber bei Gericke schnell ins Bodenlose. Es muss ja einen Grund dafür geben, weshalb er in den letzten zwanzig Jahren fünf Insolvenzen hingelegt hat. Ich habe noch zwei aus der teuersten Kategorie, die irgendwann ganz preiswert geworden waren, und ich rätsele noch immer, wer im Tessin die damals gemacht hat.

Wenn wir an die Schweiz denken, dann fallen uns Banken und Uhren ein, nicht unbedingt die Mode. Aber die Modeindustrie hat für die Schweiz eine große Bedeutung. 1939 waren in der Modeindustrie eine Viertelmillion Menschen beschäftigt, und die exportierten Waren machten fünfunddreißig Prozent des gesamten Schweizer Exports aus. Ich habe diese Zahlen von der ersten Schweizer Modewoche 1942 in Zürich, zu der Hans Aeschbach dies Plakat entwarf: Baumwollstoff als Kunstwerk. Wir sind im Krieg, aber noch kommen Kunden aus dem Ausland in die Schweiz und staunen, was man zu zeigen hat. 

Die einzige Hemdenfirma, die in dem Bericht auftaucht, ist die Herrenwäschefabrik Beltex in Arzo. Die ist in den folgenden Jahren immer wieder mit Anzeigen in Schweizer Zeitungen und bewirbt ihre Produkte mit dem Satz Die Wahl des Herrn der sich zu kleiden weiß. 1948 kann die Fabrlque de lingerie pour messieurs Beltex ihrer Anzeige im L'Impartial noch hinzufügen: L'expédition suisse à l'Himalaya de l'été dernier était équipéede chemises Beltex. Elles ont admirablement fait leurs preu-ves. Les sportifs qui choisissent notre marque pour les jeux olympiques

Ich weiß nicht, was aus der Beltex geworden ist, in Arzo gab es noch die Hemdenfabrik Carristar, aber die ist seit sieben Jahren auch nicht mehr existent. Einen Teil der Belegschaft und der Ausrüstung der Carristar hat Yari Copt übernommen und seine Hemdenfirma Old Captain Co gegründet: Premetto che purtroppo, un mese fa, la Carristar di Arzo, una delle fabbriche con le quali collaboravo, è stata costretta a chiudere i battenti. Sono comunque riuscito ad integrare parte del personale e dei macchinari all’interno della fabbrica di moda Dresdensia di Pregassona, l’altro nostro laboratorio con cui collaboriamo creando un angolo di camiceria. Und da macht er jetzt bunte Hemden, das Tessin lebt wieder.

Ein Dauererfolg von Schweizer Hemden ist natürlich das Edelweiss Hemd. Die Familie Jenni in Meiringen näht die seit 1978 mit der Hand, hundertzwanzig bis hundertvierzig Hemden in der Woche. Der Preis beträgt achtzig Franken. Es gibt sie aber billiger. In den Landi Läden werden sie für 22,90 Franken verkauft. Die kommen dann aber nicht von der Märithüsli AG der Jennis, die kommen aus Kolumbien. In den letzten Jahren hat es an Schweizer Schulen immer wieder Vorfälle gegeben, bei denen Lehrer den Schülern verboten haben, diese Schweizerhemden zu tragen, weil sie fanden, dass diese Hemden rassistisch seien. Da wird sich Michelle Hunziker jetzt Gedanken machen, ob sie das Hemmli noch tragen darf. Die haben echte Sorgen in der Schweiz.

Ich besitze ein einziges Bruli Hemd, das hier. Es hat mich bei ebay zwanzig Euro gekostet, keine fünfhundert. Es ist sehr unauffällig, man fühlt und merkt ihm die Qualität und die Handarbeitet an, es hat auch handgenähte Knopflöcher, aber so richtig mitreißend ist es nicht. In Fitzgeralds Roman The Great Gatsby schleppt Jay Gatsby seine geliebte Daisy vor seinen Kleiderschrank und zeigt ihre seine Hemden. Das ist die Stelle des Romans, wo Daisy dann They're such beautiful shirts. It makes me sad because I've never seen such beautiful shirts schluchzt. Wenn ich einer Frau den Kleiderschrank mit den Hemden zeigen würde, würde sie auch so etwas schluchzen. Mein erstes Hemd, das außer mir niemand hatte, hat mir meine Oma genäht. Das war in den Adenauerjahren, als es nur weiße Hemden gab. Ich aber wollte ein blau-weiß gestreiftes Hemd haben, gab es in ganz Bremen nicht. Selbst bei Charlie Hespen nicht, der sich ganz an England orientierte. Da hat mir meine Oma das blau-weiß gestreifte Hemd genäht. Den Kragen hat sie nicht so ganz hingekriegt, aber das machte nichts.

Sonntag, 21. November 2021

Kurt Denzer ✝

Es war ein schöner Sommertag, wir alle standen in dem Saal der Alten Muthesisschule und warteten auf das Geburtstagskind. Die Vorbereitungen für das kleine Fest waren sehr geheim gewesen, er durfte nichts davon wissen. Ich trug meinen hellen Sommeranzug, den ich mir im Winterschlussverkauf gekauft hatte, als es draußen schneite. Er war sehr preiswert gewesen, italienische Sommeranzüge sind hier oben nicht so das Ding. Als Kurt, den man von Filmarbeiten im Norden des Landes unter einem Vorwand weggelockt hatte, in den Saal kam, war er wirklich überrascht. Beinahe alle, die seine Arbeit in den letzten Jahren begleitet hatten, waren da. Vertreter der Landesregierung lasen einen Brief des Ministerpräsidenten vor, da hätten sie eigentlich auch ein Bundesverdienstkreuz mitbringen können, die Verdienstmedaille hatte er ja schon. Es sollten eigentlich keine Reden gehalten werden, aber es wurden doch kleine Reden gehalten. Die schönste Rede hielt ein Landwirt aus Delve, wo Kurt den Film über den Reetdachbau Dack ut Delv gedreht hatte. Der Landwirt besaß großes komödiantisches Talent, hinzu kam, dass er das Ganze auf Plattdeutsch vortrug. Das war der siebzigste Geburtstag von Kurt Denzer, er hat mir später eine DVD mit Photos geschickt, aber die hätte ich nicht gebraucht, ich habe keinen Moment von dem Tag vergessen. Die plattdeutsche Rede auch nicht.

Dem Staatssekretär, der 1986 so viel an Kurt Denzers Film Die Welt der Wikinger zu bemängeln hatte, hatte es nicht gefallen, dass kein Deutscher, sondern ein Däne Haithabu entdeckt hat: Und so wurde ich von der Regierung Barschel aufgefordert, im Film deutlich werden zu lassen, dass die versunkene Wikinger-Siedlung von einem schleswig-holsteinischen Schulmeister wiederentdeckt wurde. Mein Einwand, der erste Hinweis auf Haithabu stamme von dem Dänen Sophus Müller, wurde mit der Anordnung quittiert, 'da reicht ein Anruf von uns, das war so…'. Hatte der Staatssekretär bei diesen Gedanken den Lehrer Conrad Engelhardt im Kopf, der im 19. Jahrhundert das Nydam Boot (heute im Schleswiger Landesmuseum in Gottorf) ausgegraben hatte? Man weiß es nicht, aber es ist doch eher unwahrscheinlich, dass die Bildung eines Politikers aus dem Kabinett Barschel bis zu Conrad Engelhardt reicht. Die Bildung der schleswig-holsteinischen Kultusminister reichte ja nie sehr weit. Conrad Engelhardt war zwar Lehrer an einem deutschen Gymnasium, aber im übrigen war er Däne wie Sophus Müller.

Kurt Denzer tat, wie ihm geheißen. Er fand, wir sollten besser sagen, er erfand, einen schleswig-holsteinischen Landschullehrer namens Harm Harmsen und präsentierte ihn der Regierung. Nicht ohne dezent darauf hinzuweisen, dass dieser Harmsen selbst dem berühmten Herbert Jankuhn entgangen war. Dr Denzers damaliger Brief an die Landesregierung war ein Meisterwerk der Satire. Als er bei der Geburtstagfeier von Hartmut Kunkel, einem Kollegen aus Kurts Zeit an der Holstenschule in Neumünster, vorgelesen wurde, erheiterte er den ganzen Saal. Kurts Film über die Wikinger erhielt übrigens 1986 beim Festival International du Film d'Art et d'Archéologie in Brüssel den ersten Preis und bekam in Paris beim Festival du Film Archéologique den Spezialpreis der Jury.

Er wollte mit siebzig aufhören, aber er hörte nie auf. Damals hat Helmut Schulzeck ihn interviewt, das Interview steht im Internet. Wenn man das liest, dann kennt man den Filmemacher Denzer schon ganz gut. Ich habe vor elf Jahren hier den Post Kurt Denzer: Cinearchea geschrieben, er wird auch in dem Post Satyrspiel erwähnt. Und in dem Post Haithabu kommt er natürlich vor, denn Haithabu ohne Kurt Denzer geht gar nicht. Der Haithabu Post hatte ihm gut gefallen, er schickte mir gleich seinen neuesten Film zu dem Thema vorbei. Ich schreibe heute über ihn, weil er gerade im Alter von zweiundachtzig Jahren gestorben ist. Vor zwei Monaten hatten wir noch miteinander telephoniert, er fragte mich etwas zögernd, ob ich etwas gegen einen Besuch einzuwenden hätte. Ich sagte ihm, Corona hin oder her, er solle einfach vorbeikommen. Dazu ist es nun leider nicht mehr gekommen.

Film war sein Leben, Oberhausen war für ihn nicht nur ein Name auf der Landkarte. Schon als siebzehnjähriger Schüler gewann er mit einem Kurzfilm den ersten Preis beim Lippischen Amateur Filmclub Wettbewerb. Er sollte für seine Filme noch zahlreiche Preise bekommen. Er hat Latein, Germanistik und Kunstgeschichte studiert, hat aber seine Dissertation über Film geschrieben: Untersuchungen zur Filmdramaturgie des Dritten Reichs. Wenn Sie den Titel anklicken, können Sie die ganze Arbeit lesen, weil die UB Kiel die Dissertation ins Netz gestellt hat. Zu seinem Doktorvater Karl Otto Conrady hatte Kurt bis zu dessen Tod ein sehr gutes Verhältnis, kein anderer Professor der Uni hätte eine solche Dissertation 1970 angenommen als Conrady, der einmal SPD Abgeordneter im Landtag war. Bei Conrady hatte Reimer Bull seine Doktorarbeit über Arno Schmidt geschrieben, auch das war damals eine kleine Sensation, in einer Zeit, an der die Uni eher von der akademischen Tristesse der Langweiligkeit beherrscht war. Aber Kurt musste immer etwas Neues wagen. Und diese Dissertation war etwas Gewagtes, die Philosophische Fakultät hatte wegen des politischen Themas Angst gehabt und einen dritten Gutachter bestellt.

Wir standen nebeneinander in der Kunsthalle, als Björn Engholm die Eröffnungsrede zu der Günter Grass Ausstellung hielt. Barschel hätte das nicht gekonnt, flüsterte mir Kurt zu. Das war sicher richtig, aber egal ob SPD oder CDU an der Macht war, Kurt hatte mit dem Kultusministerium zu kämpfen. Engholms Rede über die Zeichnungen von Günter Grass (der in einem weißen Leinanzug gekommen war und ein wenig aussah wie Mark Twain) war so etwas wie ein Signal für einen kulturellen Neuanfang im Lande. Engholm konnte nicht nur schön über Kunst reden, unter seiner Regierung gab es etwas, das unter Stoltenberg und Barschel unmöglich gewesen war: eine Förderung der Filmarbeit im Lande, dafür sorgte die Kultusministerin Marianne Tidick, die Kurt sehr schätzte. Nicht nur weil es Geld gab.

Nach seiner Zeit an der Holstenschule in Neumünster hat der Oberstudienrat Dr Kurt Denzer ein Vierteljahrhundert die Filmarbeit der Kieler Universität geleitet. Er mochte die Arbeit an der Schule, von der er jetzt Abschied nahm, um etwas ganz Neues zu beginnen: 1970 begann ich das Referendariat, und die Schule in Neumünster hat mir sehr viel Spaß gemacht. Als ich dann im nächsten Jahr, 1971, wieder nach Oberhausen kam, in einen Hasch geschwängerten Raum, man lag ja da zum Teil auf dem Boden, um die Filme zu sehen, da dachte ich, das ist nicht deine Welt. Ich dachte, der eigentliche Klassenkampf findet ja wo anders statt, nämlich in der Schule, und mir kam das da beim Festival wie Kinderkram vor. Seitdem fuhr ich dann nicht mehr nach Oberhausen. Kurt leitete nun die Filmarbeit des Studentenwerks, gründete Kommunale Kinos (wie das KoKi Kiel in der Pumpe), und die LAG Film wäre ohne ihn ärmer gewesen. Das hat Ulrich Ehlers von der Landesarbeitsgemeinsschaft Jugend und Film zu Kurts fünfundsechzigsten Geburtstag gewürdigt, die schöne Würdigung seiner Arbeit steht glücklicherweise auch im Netz. Mein Lieblingsfilm unter Kurts Dokumentarfilmen heißt Floret Academia (der musste natürlich einen lateinischen Titel haben, weil Kurt Latein studiert hat), ein Film über die Dreihundertjahrfeier der Christian Albrechts Universität. Frech, despektierlich, schnell geschnitten. Der Film eines 68ers, obgleich es das Jahr 1968 noch gar nicht gab. Man sollte den endlich mal ins Netz stellen.

Berühmt geworden ist er für die Gründung der Cinarchea und seine Wikinger Filme, die er im Auftrag des Landes für das Wikinger Museum in Haithabu gedreht hat. Jahrzehntelanger Kampf eines auteurs mit den Geldgebern von der Kultusbürokratie. Da gibt es schreiend komische Anekdoten, und ich hatte gehofft, dass er endlich mal seine Memoiren schreiben würde. Vor fünf Jahren hat er mit A propos Haithabu … noch Fragen? ein kritisches Resüme seiner Arbeit vorgelegt. Er hat den kleinen Film eine Travestie genannt, das hat nun wieder etwas mit Harm Harmsen und dem Versuch der Geschichtsklitterung durch die Landesregierung zu tun.

Es ist traurig, diesen Nachruf schreiben zu müssen, und das auch noch am Totensonntag. Aber ich weiß, dass jeder, der Kurt gekannt hat, ihn nicht vergessen wird. Seine Kollegen aus der Zeit in Neumünster schrieben gestern in ihrer Traueranzeige: Seinen Schülerinnen und Schülern war er ein Lehrer, der ihnen den Weg in eigenständiges, kritisches Denken und in eine demokratisches Lebenshaltung wies. Uns, seinen Kolleginnen und Kollegen, war er ein gradliniger, offener, herzlicher Kollege und Freund, der unsere Treffen mit seiner Intelligenz, seinen Ideen und seinem Humor bereicherte. Wir werden Kuddel sehr vermissen.

Vor Jahren hat er mal im Urlaub die Schauspielerin Eva Mattes getroffen und sich nett mit ihr unterhalten. Als sie ihn fragte, wie er sie denn in ihrer Rolle als Klara Blum in den Bodensee Tatorten fände, hat er gesagt, dass er in seinem Leben noch nie einen Tatort gesehen hätte. Und dem entschuldigend hinzugefügt, er sei Filmemacher. Sie hat herzlich gelacht.


Zu Kurt Denzers achtzigstem Geburtstag hat Franz Obermeier von der Universitätsbibliothek Kiel alles zusammengetragen, was sich über den Filmemacher und Pädagogen im Internet und in anderen Quellen findet. Die Würdigung von Ulrich Ehlers findet sich da, das Interview von Helmut Schulzeck auch. Aber auch zwei Filmkritiken, die der Student Kurt Denzer für die Studentenzeitung Die Skizze geschrieben hat. Das über hundertseitige Werk ist auf der Seite von academia als PDF online gestellt.