Dienstag, 18. Dezember 2012

A.G. Macdonell


Am 28. Dezember 1940 schreibt ein deutscher Philologe über einen englischen Roman: Kürzlich ist auch auf dem deutschen Buchmarkt unter dem Titel 'Selbstbildnis eines Gentleman' der Roman eines Engländers mit Namen Macdonell in Übersetzung erschienen, den man gelesen haben muß, wenn man das Wesen und die Seele der heute auf den britischen Inseln und im englischen Weltreich regierenden plutokratischen Herrenschicht ganz verstehen will. Man wird dieses Buch nicht aus der Hand legen, ohne auf das tiefste erschüttert zu sein. Ja, ein Mensch, der sich noch einen letzten Rest von natürlichem moralischem Empfinden bewahrt hat, kann es überhaupt nur in Etappen verdauen. Soviel Frivolität, soviel kaltschnäuziger Zynismus, soviel aufreizende Verachtung von Anstand, Sauberkeit des Denkens und Handelns und soviel empörende Heuchelei ist darin enthalten. Man könnte ihm auch den Titel "Selbstentlarvung der britischen Plutokratie" geben. Es ist einfach grauenhaft. Eine schlimmere sittliche Verwilderung in gesellschaftlichen, geschäftlichen und politischen Dingen läßt sich überhaupt gar nicht denken. Dieses Buch würde, von einem Deutschen in Deutschland über eine deutsche Führungsschicht geschrieben, bei uns wahrscheinlich zu einer ganz schweren Erschütterung des öffentlichen Lebens führen. In England dagegen macht das gar nichts aus. Man kann es sich leisten; die Plutokratie ist so alleinherrschend, daß sie gar keine Rücksicht mehr auf die misera plebs zu nehmen braucht. Sie enthüllt bereits ihre geheimsten Praktiken, ein Beweis dafür, daß sie den Höhepunkt ihres Siegeszuges längst überschritten hat und schon auf dem rasenden Weg nach unten ist. 

Und wenig später notiert er in seinem Tagebuch: Lange noch diktiert und gelesen. Macdonell 'Selbstbildnis eines Gentleman'. Einfach grauenhaft. Man kann das Buch nur mit Empörung zuende lesen. Irgendwie scheint der Doktor der Philosophie Joseph Goebbels den Roman Autobiography of a Cad von Archibald Gordon Macdonell nicht so ganz verstanden zu haben. Allerdings rubrizieren manche Antiquariate den Titel heute noch unter der Kategorie Biographie/Autobiographie und sortieren ihn nicht unter Roman ein. Aber die ersten Sätze - Ich, der ich dieses kleine Buch schreibe, stehe im fünfzigsten Lebensjahr; denn ich bin 1889 geboren und schreibe dies 1938. Aber ich lege Ihnen nur die Geschichte der ersten achtunddreißig Jahre meines Lebens vor - sollen uns nicht täuschen. Dies ist keine Autobiographie, dies ist ein Roman. Ob es Goebbels eine stille Befriedigung verschafft hätte, wenn er erfahren hätte, dass der Autor dieses grauenhaften Buches drei Wochen nachdem er das Buch gelesen hatte, in Oxford gestorben ist?

Sie waren die gleiche Generation, Goebbels und Macdonell, aber was sind das für unterschiedliche Lebenswege! Der eine kommt aus einer Familie von Akademikern und besucht die Public School Winchester, der andere kommt aus kleinbürgerlichen, armen Verhältnissen. Der eine ist Leutnant im Ersten Weltkrieg und wird verwundet nach Hause geschickt, da studiert der andere, den keine Armee nimmt, schon Germanistik. Der eine arbeitet als Privatsekretär von Gilbert Murray im Londoner Büro des Völkerbunds, der andere wird Geschäftsführer der NSDAP in Wuppertal-Elberfeld. Der eine ist als Journalist und Schriftsteller erfolgreich, der andere scheitert als Journalist und Schriftsteller. Der eine besucht 1934 die USA und schreibt darüber (A Visit to America, ➱hier im Volltext), der andere ist da schon Reichspropagandaminister.

In Lovat Dickson’s Magazine (einer kurzlebigen Literaturzeitschrift, deren Verleger später seinen Verlag verkaufte und Direktor bei Macmillan wurde) findet sich 1934 eine kurze biographische Skizze: A. G. MACDONELL is the son of Doctor W. R. Macdonell, formerly managing director of the Bombay Company, and LL.D. of Aberdeen University, and grandson of Doctor J. F. White, the famous art, collector and critic, and Greek scholar, also LL.D. of the same University. He served during the War with the Artillery of the 51st Highland Division and spent two years and a half in France. After the War, he worked with the Quakers, first in the reconstruction of the devastated areas in East Poland, and later in the valley of the Volga during the Great Famine. Then, after travelling extensively in Central Europe and the Balkans he joined the staff of the League of Nations Union, and worked in the London office for five years, during which time he was private secretary to Professor Gilbert Murray, and, for a short time, to Doctor Nansen. His first book was published last year and called England Their England and his second, Napoleon and His Marshals, was published in January 1934. He has twice stood for Parliament in the Liberal interest.

Macdonells Roman Lords And Masters wird Dr. Goebbels 1936 nicht gelesen haben. Und so wird ihm diese schöne Stelle entgangen sein: 'Veronica, dear,' said Mrs. Hanson admiringly, 'aren’t you being a little impertinent?''No, seriously, Daddy, that atrocity stuff is all rot. Hitler wouldn’t allow it for a moment. He isn’t that sort of man. A few Jews have been beaten up perhaps, but that’s nothing.' Veronica, who heartily despised the physical appearance of any male under about six-foot-three, was not so narrow-minded as to despise male intelligence simply because it was encased in a relatively dwarfish body. After all, no one could call the Fuehrer particularly handsome, and yet what a mammoth intellect he had got! Dr. Goebbels was positively ugly, but look how he scattered the non-Aryans with his inner fires of patriotism and genius! Dieses bescheuerte Früchtchen Veronica ist wahrscheinlich eine Parodie von Hitlers Lieblingsblondine Unity Mitford. Mit solchen Leuten hat Macdonell, der vergeblich für die Liberale Partei kandidiert hatte, nichts am Hut. Er versprüht sein satirisches Gift gegen die reiche West End Society, die mit dem Faschismus flirtet. Für die Neuauflage 2012 bewarb der Verlag (Fonthill) das Buch mit: A masterpiece of character depiction. An expose of the Mayfair Mussolini fans and war profiteers One of A. G. Macdonell's most biting books - a perceptive look at the rise of Nazism and its inevitable outcome. A novel, but with such prescience it could have been fact; illustrating the fondness for the right wing fascist movements among monied set.

Von daher gesehen ist die Autobiography of a Cad eine logische Fortsetzung von Lords And Masters. Vielleicht war es auch etwas gewagt von der deutschen Übersetzerin Karin von Schab gewesen, die Satire von Macdonell noch etwas weiter zu treiben und für die deutsche Ausgabe von Autobiography of a Cad, das Wort cad mit Gentleman zu übersetzen. Die Autobiography of a Cad ist eine böse Satire, und sie ist von einem Schotten geschrieben, der stolz war, ein Schotte zu sein. Sein Buch über Schottland My Scotland erregte 1937 bei manchen einen gewissen Unwillen, aber für Harold Nicolson war es The most brilliant book on Scotland in recent years. Publishers Weekly schrieb The story of a hardy race and a rugged land A well-known novelist and satirist paints a three- dimensional portrait ofhis nation, in which his love for Scottish history and tradition is tempered by his profound knowledge of Scottish faults and weaknesses. Das ist nett gesagt, eigentlich ist es ein eher böses Buch. Ich gebe hier einmal den Text wieder, mit dem der Verlag die Neuauflage vorstellte, weil der Text auch sehr informativ über Macdonell ist:

For those who have read and enjoyed Macdonell's humorous and affectionate book 'England Their England', this book, 'My Scotland', will come as a shock. There are some lighter moments with the occasional flash of the Macdonell genius, but these apart it is a choleric tirade in a style which is not apparent in his other books. At the time of writing he was going through a messy divorce - brought about through his own extra-marital adventures - and this may have added to his mood. He was born in India, brought up in London, educated at Winchester, provided with further excellent character-forming life-experience in France in muddy conditions, and then spent his working life in London. His formal address on his War Record documentation is Bridgefield, Bridge of Don, Aberdeen, but it does not seem that he ever spent a great deal of time in Scotland. Therefore, the spleen and invective coming from someone who adopted England seems out of character. The only explanation is that it came about as the pent-up frustration out of forty years of hearing comments which he viewed as his national heritage being treated as a joke. From those that knew him he was remembered as a complex individual, 'delightful - but quarrelsome and choleric' (this was by Alec Waugh, who called him the Purple Scot). J. B. Morton (Beachcomber) remembered him as a man of conviction, with a quick wit and enthusiasm and, surprising in a military man, 'a sense of compassion for every kind of unhappiness'. What is surprising, given his depth of knowledge of the English, and the fact that they joke about anything, is that he took it so seriously. Nevertheless, despite Macdonell's exhortations for a 'clamour for independence' towards the end of the book, he did not practice what he preached, and instead of 'leading from the front' by preaching his new gospel from Edinburgh, he remained in England for the remainder of his days. For all those who feel that Scotland has been 'hard-done-by' this is a must-buy book.

Dass Macdonell Schotte ist, merkte man auch seinem bekanntesten Buch England, Their England an, das 1933 den renommierten James Tait Black Preis gewann. Das Buch ist in England (und Schottland) ein ewiger Klassiker. Die Beschreibung des dörflichen Cricketspiels in diesem Buch ist beinahe in jeder Anthologie der Cricket Literatur abgedruckt (sie können das berühmte siebte Kapitel auch ➱hier lesen). Die Cricketmannschaft, die hier beschrieben wird, hat es im übrigen wirklich gegeben. Sie hieß The Invalids, sie war berühmt dafür, dass sie nur aus Literaten bestand (also ein Vorläufer von Harold Pinters Cricketmannschaft war), die auch gerne sehr viel Alkohol zu sich nahmen. Der Gründer der Mannschaft war der einflussreiche Sir John Squire, der seinen Freund Macdonell immer protegiert hat. Squire hat eine kleine Geschichte seiner Mannschaft geschrieben (The Invalids: A Chronicle), die aber nicht so berühmt geworden ist wie England, Their England. Das Buch ist seit beinahe siebzig Jahren immer lieferbar gewesen, alle Bücher von Macdonell kann man neuerdings wieder kaufen. Da muss man dem Verlag Fonthill für ➱The Fonthill Complete A.G. Macdonell schon dankbar sein. Natürlich sind bei den Neuauflagen auch die sechs Krimis dabei, die Macdonell zwischen 1928 und 1933 geschrieben hat.

Ich kann England, Their England immer wieder lesen. Doch das liebste Buch von Macdonell ist mir Napoleon and his Marshals aus dem Jahre 1934 (das 1936 auch in Deutschland erschienen war). Es war lange vom Markt verschwunden, bis es in der Reihe Prion Lost Treasures 1996 wieder aufgelegt wurde. Und prompt mehrfach nachgedruckt wurde. 1996 schrieb Englands führender Militärhistoriker John Keegan: Even a Napoleon hater, which I am, will love this book. Still after 60 years, a thrilling gallop through the Napoleonic Wars. Und Nigel Nicolson rubriziert es in seiner Bibliographie von seinem Buch Napoleon 1812 als invaluable.

Archibald Gordon Macdonell, von seinen Freunden Archie genannt, kann schreiben. Seine 300-seitige Napoleon Biographie ist wahrscheinlich die kürzeste von allen, die amüsanteste ist sie auf jeden Fall. Ein Parforceritt mit dem kleinen Caporal und seinen Marschällen über die Schlachtfelder Europas. Dies ist nicht das Buch eines Historikers, dies ist das Buch eines Schriftstellers. Es gibt keine Bibliographie der benutzen Literatur. Jeder könne eine Hilfskraft im Britischen Museum alle Buchtitel über Napoleon abschreiben lassen, die Liste hinten ins Buch tun und die Leser mit angeblicher Gelehrsamkeit beeindrucken, sagt Macdonell. Aber er sagt auch, dass er für alles einen Beleg hätte. Wir glauben ihm, und es kümmert uns auch nicht. Das Buch endet mit dem Tod des letzten Marschalls im Jahre 1852 und den Worten Que de souvenirs! Que de regrets! Und an dieser Stelle geht der Leser zurück zum ersten Kapitel und beginnt das Buch aufs Neue zu lesen.

Kurz bevor Joseph Goebbels sein Exemplar von Selbstbildnis eines Gentleman in der Hand hatte (damals waren schon 40.000 Exemplare verkauft), schrieb Mcdonell an seinen Verleger Lovat Dickson: I don't see much chance of having a book ready for the autumn. At the moment my war work consists of broadcasting to America at two in the morning, which leaves me a little jaded after breakfast on the same day!! Dreimal die Woche ist Macdonell in der Sendung Britain Speaks zu hören, und seine Stimme bedeutet vielen etwas. Vielleicht auch Joseph Goebbels, der es nicht gerne hören wird, wie Macddonell satirisch seine Propaganda auseinander nimmt. Macdonell ist nicht mehr dazu gekommen, ein neues Buch zu schreiben. Die Londoner Times bezeichnete ihn in ihrem Nachruf als one of the leaders of the younger school of satirical novelists. Es lohnt sich immer noch, ihn zu lesen.

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