Samstag, 27. Juli 2019

schön geschrieben, selbstverliebt und larmoyant


Emmanuel Berls Buch Geisterbeschwörung hat mich mal fünf Mark gekostet. Es war ein Band aus der Reihe Die andere Bibliothek. Auf dem Pappschuber kann man Sätze wie diesen finden: Deutsche Erstausgabe und Sein umfangreiches Werk ist in Deutschland völlig unbekannt geblieben. In Frankreich gilt er heute als ein grand écrivain seiner Epoche. Wenn man so etwas im Grabbelkasten findet, muss man es mitnehmen. Und lesen. Vor allem, wenn auf dem Schuber steht: Diese Texte halten zwischen Erzählung und Autobiographie die Schwebe und verbinden die Präzision von Momentaufnahmen mit der schillernden Mehrdeutigkeit des Traums. Ich war letztens schon kurz vor dem Einschlafen, schon beinahe beim Träumen, als mir das Buch wieder einfiel. Sollte ich jetzt das Licht anmachen und mir etwas in dem kleinen Notizbuch auf dem Nachttisch notieren? Ich schlief lieber ein, der Buchtitel würde wiederkommen. Es brauchte einige Tage, bis ich mich wieder an den Buchtitel erinnerte. Ich ging zu dem Regal hinter dem Lautsprecher, wo die französische Literatur steht. Das Buch war nicht da, wo es stehen sollte.

Ich fand es Tage später, wieder als ich das Lexikon der französischen Literatur von Winfried Engler aus dem Regal nahm. Berls Geisterbeschwörung stand daneben. Das hier auf dem Bild ist nicht die Originalausgabe von Englers Lexikon, das ist die Billigversion des Komet Verlags, ich habe die schon in dem Post Literaturgeschichte erwähnt. Schlechtes Papier, billiger Einband, aber derselbe Text. Man kann dieses Lexikon, das ursprünglich beim Lexikonspezialisten Kröner erschienen war, antiquarisch noch sehr preiswert finden. Es gibt wirklich nichts Besseres. Von dem verdienstvollen Romanisten, der alle französischen und deutschen Orden bekommen hat, gab es bei Kröner auch eine schöne Geschichte des französischen Romans: Von den Anfängen bis Marcel Proust im Programm. Der schon erwähnte Komet Verlag hat nicht nur den Engler, sondern auch das Kindler Literatur Lexikon als Lizenzausgabe preiswert herausgebracht.

Und da ich gerade bei dem KLL bin, möchte ich doch etwas Gehässiges zur neuesten Ausgabe des Lexikons sagen. So sieht mein alter Kindler aus, es war die Ausgabe der WBG, die ich mir in meinem Studium vom Mund abgespart hatte. Ich verdanke, wie wohl jeder Besitzer der Bände, diesem Lexikon der Weltliteratur viel. Vor zwanzig Jahren hat mich Dr Henning Thies von der Kindler Redaktion gefragt, ob ich für die beiden geplanten Ergänzungsbände für die zweite Auflage des KLL einige Lexikoneinträge schreiben würde. Ich habe sofort zugesagt, ich kannte ihn vom Namen her, denn er hatte für Kindler die Bände Hauptwerke der amerikanischen Literatur und Hauptwerke der englischen Literatur (2 Bände) herausgegeben. Die Zusammenarbeit mit ihm war ganz wunderbar.

Das sollte sich ändern, als man darauf verfiel, das von Walter Jens in der zweiten Auflage herausgegebene KLL völlig neu zu konzipieren. 18 Bände mit insgesamt 14.760 Seiten brachte der zum Holtzbrinck Konzern gehörende Metzler Verlag auf den Markt. Kostete damals 2.400 Euro, der Preis ist gefallen. Als Herausgeber gewann man Heinz Ludwig Arnold, der als Herausgeber von Zeitschriften und Lexika einen guten Ruf gehabt hatte. Den hat der ehemalige Privatsekretär von Ernst Jünger mit diesem Machwerk aber gründlich beschädigt. Im Wikipedia Artikel kann man zu der dritten Auflage des KLL lesen: Zu manchen Werken sind die Lexikonartikel in der neuen Auflage auch erheblich kürzer ausgefallen als bisher, z. B. umfasst der Eintrag zum Gilgamesch-Epos, der in der 2. Auflage noch mehr als 9300 Wörter aufwies, in der 3. Auflage insgesamt nur mehr knapp über 800 Wörter. Die Literaturhinweise wurden durchgehend auf ein Minimum gekürzt. Und dann steht da auch noch: In der aktuellen Ausgabe sind zuweilen philologisch interessante Details gestrichen worden, so dass es sich lohnen kann, auch die vorhergehende Ausgabe zu konsultieren.

Jetzt, wo das Lexikon bei Metzler gelandet war, gab es keine Zusammenarbeit mit dem netten Herrn Dr Thies mehr, jetzt hatte ich es mit Hilfskräften an einer Uni zu tun. Die, sagen wir es zurückhaltend, ein klein wenig doof waren und schon mit einem Word Dokument überfordert waren. Natürlich wurden auch meine Lexikonartikel kastriert. Und die Literaturangaben und Hinweise auf Verfilmungen, die einst ein Highlight beim KLL waren, fielen dem Rotstift (oder sollen wir sagen dem Skalpell?) zum Opfer. Lassen Sie die Finger von diesem Werk, für einen Fuffi bekommen Sie Kindlers Neues Literaturlexikon, und die beiden Supplementbände werden sich auch finden lassen. Ich nahm das klägliche Honorar des Metzler Verlags an, überwies es an eine wohltätige Organisation und vergaß das Ganze. Bis ich wenige Jahre später das Lexikon in einem Laden namens Joker's fand, Paperback, jeder Band 1 Euro. Sic transit gloria mundi.

Den Kampf gegen das Internet werden die voluminösen Lexika verlieren, der Brockhaus hat mit seiner letzten Auflage Millionenverluste gemacht. Quantität statt Qualität scheint die Devise. Beim dritten Kindler war man stolz, einen Text von Björk, Harry PotterPippi Langstrumpf und Carl Barks im Lexikon zu haben. Warum? Mein Plädoyer für Lexika in Buchform kann nicht bedeuten, dass die Werke fehlerfrei sind. Sie enthalten nicht so viele Fehler wie ein Wikipedia Artikel, aber Fehler sind da.

Dazu ein kleines Beispiel: Der junge Arthur Conan Doyle hat in Edinburgh Medizin studiert. Laut Gero von Wilperts Lexikon der Weltliteratur bei einem Psychiater namens Bello. Das ist nun vollkommener Unsinn, ich habe Gero von Wilpert vor beinahe vierzig Jahren auf den Fehler hingewiesen. Der Doktor, bei dem Doyle gelernt hat und dessen phänomenale Beobachtungsfähigkeit er in seinen Sherlock Holmes hinein geschrieben hat, hieß Joseph Bell (Bild). Er war der berühmteste Arzt Schottlands, war der Arzt von Königin Victoria, und Scotland Yard zog ihn als Sachverständigen bei den Morden von Jack the Ripper hinzu. Professor Bell war not amused, sich in den Romanen seines Schülers wiederzufinden. Gero von Wilpert hat mir damals einen netten Brief geschrieben und gesagt, dass das in der nächsten Auflage geändert wird. Der Bello ist aber immer noch drin.

Ich hätte das Buch von Emmanuel Berl nicht zu suchen brauchen, ich hätte nur mal in meinen Blog gucken müssen. Da steht am 10. Juli 2011 in dem Post Marcel Proust: Bei den Biographien steht noch ein Buch, das da eigentlich nicht hingehört (obwohl Marcel Proust darin vorkommt), ich wusste nie, wo ich es hinstellen soll. Und so ist es bei Proust gelandet. Was auch passt, weil es viel vom Geist von Proust hat und der Verfasser ein entfernter Verwandter von Proust ist. Das Buch, das ich im Grabbelkasten fand wo man die beste Literatur entdecken kann), heißt Geisterbeschwörung und ist von Emmanuel Berl. Es ist in der Reihe Die andere Bibliothek erschienen. Emmanuel Berl ist in Deutschland kaum bekannt, das ist eigentlich schade, weil Geisterbeschwörung (frz. Sylvia und Rachel et autres grâces) ein wunderschönes Buch ist. Im ZVAB gibt es noch Reste davon.

Das Buch kam in der Schattenwelt des Halbschlafs in meine Gedanken, weil ich gerade an einem Post schreibe, der über die Erinnerung und über Frauen geht. Und über Erinnerung und Verlust schreibt Emmanuel Berl in Sylvia auch: Le domaine du souvenir est trop vaste pour que je ne m'y perde pas, fût-ce dans ses moindres parcelles, et celui de l'oubli l'est encore davantage. Sie kennen das Thema schon, ich komme häufiger darauf zurück, mögen die Posts Vergil, Sommerkino oder Wiederholungen heißen. Vielleicht würde ich das alles auch nicht schreiben, wenn ich nicht Proust und Berls Sylvia gelesen hätte: Parmi les ouvrages d'Emmanuel Berl, 'Sylvia' (1952), un récit autobiographique, occupe une place à part aux yeux des admirateurs. Quand le livre paraît, l'auteur a soixante ans et n'est plus vraiment lu. On a alors oublié cet écrivain qui a été au cœur de l'activité littéraire pendant une vingtaine d'années, mais qui depuis la fin de la guerre vit retiré dans un appartement de la rive droite parisienne. Sylvia ne fait pas l'unanimité. Jean Paulhan, l'une des éminences grises des éditions Gallimard, affirme que Sylvia est 'tellement mauvais qu'après un tel livre tout le monde devrait renoncer à écrire'. Pourtant, le livre charme dès les premières lignes, et très vite le lecteur comprend qu'il a entre les mains un récit sans concession et formellement d'une maîtrise éblouissante. En outre, avec le recul, on comprendra que Sylvia est 'un livre décisif dans l'ordre de la culture autobiographique', comme le dit Jacques Lecarme.

Emmanuel Berl war mit der Komponistin und Sängerin Mireille Hartuch verheiratet. Die einst der jungen Françoise Hardy sagte, dass sie mit Mon amie la rose großen Erfolg haben werde. Emmanuelle und Mireille Berl haben nicht immer im selben Haus wie Jean Cocteau gewohnt, als die Deutschen kamen, flüchteten die beiden nach Südfrankreich und schlossen sich der Résistance an. Nach dem Krieg zogen sie wieder in die Rue Montpensier 36, wo heute die Plakette an sie erinnert.

Man kann Emmanuel Berls Geisterbeschwörung bei Amazon Marketplace noch preiswert finden. Dort schreibt ein Rezensent: Ein 60jähriger schreibt über die Frauen in seinem Leben, über das, was er noch erinnert und das, was seine Erinnerungen überdeckt. Das ist manchmal sehr schön geschrieben, aber über weite Strecken doch sehr selbstverliebt und larmoyant. Diese Formulierung, so platt sie ist, hat mir gefallen, denn dieses sehr schön geschrieben, sehr selbstverliebt und larmoyant, das trifft auch auf vieles in meinem Blog zu.

1 Kommentar:

  1. Emmanuel Berls Roman "Geisterbeschwörung" ist von Ihnen auf so eine saloppe Art gelobt worden, dass er gleich den Weg zu mir fand. Zwei Beispiele, warum ich froh darüber bin. Einmal lobt Berl die Dordogne Fenélons - auf zwei drei Seiten - das geht zu Herzen! Eine Welt vor unserer Welt.
    Dann eine Baronin, die ihm irgendwie entgleitet - er lässt es sein, trauert ihr nicht nach, beobachtet sie aber weiter mit Interesse, wie sie, gesund, verwöhnt und anmutig, durchs französissche Leben gleitet..."Ihre spürbare Robustheit war immer noch aus der Belle Epoque. (...) Die Kriege, die Revolutionen, die Zerstörungen hatten alles verändert; Sie gerihte nicht einmal, es zu merken; für sie gab es keine Psychoanalyse und keinen Bolschewismus; für sie gab es keinen Surrealismus; sie bewahrte sich weiterhin ruhig, von einem Palast zum andern und von einem Schloß zu andern ihre Schönheit, ihre Gesundheit und ihren Duft. (...) sie begehrte nicht zu leben, es genügte ihr zu existieren." - Das ist toll (also toll geschrieben)!

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