Samstag, 3. Oktober 2020

30 Jahre: 3 Gedichte


Im letzten Jahr hieß der Post am Nationalfeiertag 3. Oktober 2019. Die Basis des Posts war der Post Einheit aus dem Jahre 2010. Ich stelle heute einmal etwas ganz anderes ein, obgleich ich den alten Post zum 3. Oktober mag. Er ist mit Liebe geschrieben. Ich hatte 2010 das Buch Letzten Sommer in Deutschland: Eine romantische Reise hervorgehoben, es ist ein sehr schönes Buch. Ich mag die Autorin sehr, und ich freue mich, dass sie in diesem Jahr den Uwe Johnson Preis bekommen hat. Ich habe Hölderlins Satz Was bleibet aber stiften die Dichter schon vor zehn Jahren zitiert, wir lassen die Dichter heute einmal zu Wort kommen. Ich habe drei Dichter und drei Gedichte für den heutigen Tag ausgewählt, die über das Deutschland schreiben, das ihr Deutschland war. Über das Deutschland, das Volker Braun in zwei Zeilen so beschrieb: Was ich niemals besaß wird mir entrissen. Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.

Reiner Kunze

Die mauer
zum 3. Oktober 1990

Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht, 
wie hoch sie ist
in uns

Wir hatten uns gewöhnt 
an ihren horizont

Und an die windstille

In ihrem schatten warfen
alle keinen schatten

Nun stehen wir entblößt 
jeder entschuldigung.

Sarah Kirsch

Aus dem Haiku-Gebiet

Das neue Jahr: 
Winde Aus alten Zeiten 
Machen mir Zahnweh.

Unter dem Himmel des
Neuen Jahrs gehen die 
Alten Leute.

Wie der Schnee sie auch
Verklärt — meine Heimat 
Sieht erbärmlich aus.

Den Mond über der Havel
Hatte Schalck wohl 
Zurückgelassen.

Heul, sag ich, heul! Der Hund
Hilft mir das Jahr 
Zu Ende zu bringen.

Normannenstraße ich sehe
Den Leuten zu beim 
Beinemachen fürs neue Jahr.

Das Jahr geht hin
Noch immer trage ich 
Reisekleider.

Kurt Drawert

Mit Heine

Das Land, von dem die Rede geht,
es war einst nur in Mauern groß,
dies Land, von Lüge zugeweht,

ich glaubte schon, ich wär es los.
Ich glaubte schon, es wär entschieden,
daß wer nur geht, auch gut vergißt.

Doch war nun auch ein Ort gemieden,
der tief ins Fleisch gedrungen ist.
Als fremder Brief mit sieben Siegeln

ist mir im Herzen fern das Land.
Doch hinter allen starken Riegeln
ist mir sein Name eingebrannt

Es gibt natürlich noch viel, viel mehr. Der berühmte Germanist Karl Otto Conrady, der im Juli im Alter von vierundneunzig Jahren gestorben ist, hatte zwei Jahre nach seiner Emeritierung bei Suhrkamp ein interessantes Buch herausgebracht. Von einem Land und vom andern: Gedichte zur deutschen Wende 1989/1990 heißt es. Man kann es noch antiquarisch preiwert finden. Die Germanistik hat inzwischen ein neues, eigentlich schreckliches, Wort: Wendeliteratur. Es ist viel aufzuarbeiten, nicht nur von der Germanistik.

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