Reiner Kunze
Die mauer
zum 3. Oktober 1990
Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht,
wie hoch sie ist
in uns
in uns
Wir hatten uns gewöhnt
an ihren horizont
Und an die windstille
In ihrem schatten warfen
alle keinen schatten
Nun stehen wir entblößt
jeder entschuldigung.
Aus dem Haiku-Gebiet
Das neue Jahr:
Winde Aus alten Zeiten
Machen mir Zahnweh.
Unter dem Himmel des
Neuen Jahrs gehen die
Neuen Jahrs gehen die
Alten Leute.
Wie der Schnee sie auch
Verklärt — meine Heimat
Wie der Schnee sie auch
Verklärt — meine Heimat
Sieht erbärmlich aus.
Den Mond über der Havel
Hatte Schalck wohl
Hatte Schalck wohl
Zurückgelassen.
Heul, sag ich, heul! Der Hund
Hilft mir das Jahr
Zu Ende zu bringen.
Normannenstraße ich sehe
Den Leuten zu beim
Normannenstraße ich sehe
Den Leuten zu beim
Beinemachen fürs neue Jahr.
Das Jahr geht hin
Noch immer trage ich
Reisekleider.
Kurt Drawert
Mit Heine
Das Land, von dem die Rede geht,
es war einst nur in Mauern groß,
dies Land, von Lüge zugeweht,
ich glaubte schon, ich wär es los.
Ich glaubte schon, es wär entschieden,
daß wer nur geht, auch gut vergißt.
Doch war nun auch ein Ort gemieden,
der tief ins Fleisch gedrungen ist.
Als fremder Brief mit sieben Siegeln
ist mir im Herzen fern das Land.
Doch hinter allen starken Riegeln
ist mir sein Name eingebrannt
Es gibt natürlich noch viel, viel mehr. Der berühmte Germanist Karl Otto Conrady, der im Juli im Alter von vierundneunzig Jahren gestorben ist, hatte zwei Jahre nach seiner Emeritierung bei Suhrkamp ein interessantes Buch herausgebracht. Von einem Land und vom andern: Gedichte zur deutschen Wende 1989/1990 heißt es. Man kann es noch antiquarisch preiwert finden. Die Germanistik hat inzwischen ein neues, eigentlich schreckliches, Wort: Wendeliteratur. Es ist viel aufzuarbeiten, nicht nur von der Germanistik.
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