Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer erschien beim S. Fischer Verlag Günter de Bruyns Buch Deutsche Zustände, durchgehend illustriert mit Photos von Barbara Klemm, die mit ihrer Ruhe und Ausgewogenheit hervorragend zum Ton des Buches passen. Nicht zuletzt die Duotone Druckqualität der Photos und das ruhige Layout des Buches tragen zum sinnlichen Vergnügen der Lektüre bei. Dies war ein Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer ein Buch, das ein anderes Deutschland jenseits des peinlichen politischen Tagesgeschäfts und der bunten Versprechungen der Werbewelt zeigte. Ich halte es eigentlich für eine perfekte Einführung in die Welt von Günter de Bruyn. Deshalb erwähne ich es mal ganz am Anfang, obgleich dies natürlich nicht der Anfang seiner schriftstellerischen Karriere ist.
Er hatte schon immer eine ganze Menge mit Fontane (von dem er auch eine schöne Auswahl der Gedichte herausgegeben hat) gemein: die Konzentration auf eine Region, die liebevolle Landschaftsbeschreibung, das Aufzeigen von Geschichte und Geschichten dahinter. Aber jetzt im Alter nähert sich Günter de Bruyn immer mehr - auch stilistisch - seinem großen Vorbild an. Und die Fontane Essays in diesem Buch sind sicherlich das Herzstück dieses wunderbaren, leicht elegischen Bandes. Nach zehn Jahren des neuen Deutschlands macht Günter de Bruyn eine unaufgeregte, abgeklärte Bestandsaufnahme von Brandenburg (und Umgebung). Wobei die Region sicher nicht austauschbar ist, aber doch symbolisch für das andere Deutschland steht, das wir jahrzehntelang nicht kannten.
Manches in diesem Band gibt es in längerer Fassung, wie sein anrührendes Buch über die Grafen Finckenstein, die auch hier im Kapitel Musenhöfe eine Rolle spielen. Denn das Buch Die Finckensteins. Eine Familie im Dienste Preußens war wieder einmal Günter de Bruyn at his best, Familiengeschichte und Kulturgeschichte in einem. Und natürlich auch ein Kapitel Literaturgeschichte, weil hier die Liebesgeschichte zwischen Rahel und Karl Finckenstein noch einmal erzählt wird. Die Briefe der beiden hatte de Bruyn ja unter dem Titel Rahels erste Liebe: Rahel Levin und Karl Graf von Finckenstein in ihren Briefen auch herausgeben. Das Berlin der Zeit Rahels ist ein Ort, an dem sich Günter de Bruyn offensichtlich zuhause fühlt. Man kann das an dem vor fünf Jahren erschienen Buch Als Poesie gut: Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807 sehen, in dem der Autor in einem halben Hundert wunderbarer Kapitel (die sich alle auch einzeln lesen lassen) demonstriert, dass das geistige Zentrum Deutschlands nicht Weimar sondern Berlin war. Wir lassen diesen Lokalpatriotismus mal durchgehen. Berliner sind so.
Und an dieser Stelle muss ich unbedingt Zwischenbilanz: Eine Jugend in Berlin erwähnen, es ist ein lesenswertes Buch, das mit den Sätzen beginnt: Mit achtzig gedenke ich, Bilanz über mein Leben zu ziehen; die Zwischenbilanz, die ich mit sechzig beginne, soll eine Vorübung sein: ein Training im Ich-Sagen, im Auskunftgeben ohne Verhüllung durch Fiktion. Nachdem ich in Romanen und Erzählungen lange um mein Leben herumgeschrieben habe, versuche ich jetzt, es direkt darzustellen, unverschönt, unüberhöht, unmaskiert. Und Zwischenbilanz wird uns unverschönt, unüberhöht, unmaskiert in das Berlin seiner Jugend entführen. Und übergangslos vom Kinobesuch (es gab Emil und die Detektive) zu etwas historisch Wichtigerem zu kommen. Weil der Nachbar Herr Mägerlein, angetrunken und in bester Laune, davon redet, daß es nach all den bösen Jahren nun mit Deutschland wieder aufwärts gehe, denn endlich sei, seit vormittag 11 Uhr der Adolf dran. Und davon wird dies Buch auch handeln, besonders davon, dass jetzt alles aufwärts geht.
Das erste, das ich von de Bruyn las, war vor Jahrzehnten Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter, seine Jean Paul Biographie. Dann kam Märkische Forschungen, dann fiel mir Der Hohlweg in die Hand, und irgendwann begann ich in Antiquariaten alles mitzunehmen, wo Günter de Bruyn drauf stand. Was mir eine schöne Übersicht über das Werk gibt. Und ich könnte jetzt weiter schreiben und weiter schreiben. Aber ich höre hier einfach mal auf. Die Geburtstagsgrüsse darf ich natürlich nicht vergessen. Und ich sollte vielleicht noch sagen, dass es am 24.11.2011 im Berliner Schloss Bellevue ein Fest für Günter de Bruyn zum 85. Geburtstag gibt, das offensichtlich vom Bundespräsidialamt und dem S. Fischer Verlag ausgerichtet wird. Viele Schriftstellerkollegen werden bei der Soiree aus seinem Werk lesen. Das Deutschlandradio sendet eine Aufzeichnung am 18.12. um 00.05, eine bessere Zeit ist ihnen wohl nicht eingefallen.
Niemand redet heute noch über die angeblich zwei deutschen Literaturen. Diese vom Zentralkomitee der SED in die Welt gesetzte These, die auch schon zur Zeit ihrer Entstehung von Klardenkenden als unsinnig erkannt wurde, überlebte ihre Urheber nicht. Die gemeinsame Sprache und die literarischen Traditionen waren stärker als die Doktrinen des Kalten Krieges, hat Günter de Bruyn in seiner Dankesrede bei der Verleihung des Preises der Deutschen Gesellschaft e.V. für Verdienste um die deutsche und europäische Verständigung an ihn und Martin Walser gesagt. Und er ist, und das mag manchem als altmodisch erscheinen, gegen die Sprachverluderung mit Anglizismen und anderen Unsinn eingetreten: Der Widerstand gegen die Sprachverluderung zeugt weder von Fortschrittsfeindschaft noch von Nationalismus, wohl aber von Sorge um unsere kulturelle Identität. Deshalb sollten wir unsere Sprache wie unsere Baudenkmäler und die Regeln unseres Zusammenlebens zu schützen versuchen, auch wenn diese Abwehr dem Kampf gegen Windmühlenflügel zu gleichen scheint. Hat es doch auch ein Don Quijote zu ewigem Nachruhm gebracht.
Sie können die Rede hier nachlesen. Es lohnt sich, einmal einen Augenblick darüber nachzudenken. Sie haben es beim Lesen gemerkt, dass dieser Text für den 85. Geburtstag des Schriftstellers im Jahre 2011 geschrieben wurde. Günter de Bruyn ist vor einigen Tagen im Alter von fast 94 Jahren gestorben, deshalb stelle ich das heute noch einmal ein, es ist eigentlich immer noch gut. Den zweiten Band seiner Autobiographie, Vierzig Jahre, hätte ich noch erwähnen sollen. Günter de Bruyn hat Ehrungen erhalten wie kaum ein anderer deutscher Schriftsteller. Zu Recht. Die Annahme vom Nationalpreis der DDR hat er 1989 abgelehnt. Ich habe immer gedacht, dass man ihn in Stockholm auch mal auf die Liste der Nobelpreisträger hätte setzen können. Ich weiß nicht, wer Louise Glück ist, vielleicht hat sie den Nobelpreis ja verdient. Aber jemand wie Peter Handke hätte den nie bekommen dürfen. Günter de Bruyn schon.
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