Sonntag, 14. Februar 2021

Longfellow


Das Buch war gelb, es war einmal gelber gewesen, der Leinenumschlag war mit denen Jahren ausgebleicht. Ich hatte es bei den Büchern von meinem Opa gefunden, der mir das Lesen beigebracht hatte. Er war Lehrer gewesen, jetzt war er frisch pensioniert und langweilte sich. Also bringt er seinem Enkel das Lesen bei. Das Buch hieß Das Lied von Hiawatha, es handelte von Indianern, war aber lange nicht so spannend wie der Tecumseh Roman, der auch einen gelben Leineneinband hatte. Das Buch war in Versen geschrieben, aber es war langweilig. Sehr langweilig. Wenn man sechs Jahre alt ist, dann will man etwas anderes lesen als Henry Wadsworth Longfellow. Den Namen merkte ich mir, den wollte ich nie wieder lesen. Er begegnete mir viele Jahre später im Studium wieder. Er war immer noch langweilig. Als ich Dozent wurde und Seminare über amerikanische Lyrik abhielt, stand Longfellow da niemals auf der Leseliste. Und wenn ich im April zum Poetry Month hier Gedichte serviere, dann ist er auch nicht dabei.

Der Langweiler Longfellow ist mir aber gerade wieder begegnet, allerdings in einem ganz anderen Zusammenhang. Weil einer von Trumps Anwälten in dem Impeachment Verfahren ein Gedicht von Longfellow zitiert hat. Er war sehr ergriffen von dem Gedicht und hatte beinahe Tränen in den Augen, seine Hände, die das Manuskript hielten, zitterten. Der Anwalt heißt David Schoen, er sprach nach einem anderen Anwalt, der Bruce Castor hieß. Die beiden Herren sind offenbar das Pat und Patachon Gespann der amerikanischen Rechtsanwälte, der juristische Bodensatz. Sie waren erst seit einer Woche die Rechtsvertreter des ehemaligen Präsidenten. Alle anderen Anwälte hatten Trump verlassen oder waren von ihm gefeuert worden. Die ersten fünfundvierzig Minuten des Plädoyers gehörten dem Anwalt Bruce Castor, der sich versehentlich als lead prosecutor vorstellte. Man muss das gesehen haben (klicken Sie hier), so viel Hilflosigkeit und Tüddeligkeit ist einfach unglaublich. Niemand von den kritischen Beobachtern wusste, worauf Castor hinauswollte. Alan Dershowitz sagte: There is no argument. I have no idea what he's doing. I have no idea why he's saying what he's saying. Die New York Times schrieb: Mr. Castor delivered a rambling, almost somnambulant defense of the former president for nearly an hour. Man kann verstehen, dass Trump in seinem Domizil in Florida vor dem Fernseher getobt hat. The first thing we do, let's kill all the lawyers, hat er nicht gesagt, weil er Shakespeare nie gelesen hat.

Aber dann kam David Schoen, ein criminal lawyer. Der hat normalerwiese mit Kriminellen zu tun, da ist Trump bei ihm schon gut aufgehoben. David Schoen hatte mal Jeffrey Epstein zum Klienten, und er hat Roger Stone verteidigt. Der wurde zwar verurteilt, aber weil er ein Kumpel von Trump war, ist er jetzt wieder begnadigt. Das lassen wir mal beiseite, und Sie schauen sich hier an, wie Mr Schoen am Ende seiner Rede Longfellow zitiert:

Thou, too, sail on, O Ship of State!
Sail on, O Union, strong and great!
Humanity with all its fears,
With all the hopes of future years,
Is hanging breathless on thy fate!
We know what Master laid thy keel,
What Workmen wrought thy ribs of steel,
Who made each mast, and sail, and rope,
What anvils rang, what hammers beat,
In what a forge and what a heat
Were shaped the anchors of thy hope!
Fear not each sudden sound and shock,
'T is of the wave and not the rock;
'T is but the flapping of the sail,
And not a rent made by the gale!
In spite of rock and tempest's roar,
In spite of false lights on the shore,
Sail on, nor fear to breast the sea!
Our hearts, our hopes, are all with thee,
Our hearts, our hopes, our prayers, our tears,
Our faith triumphant o'er our fears,
Are all with thee, — are all with thee!


Wenn wir uns fragen, warum ein Gedicht in dem Impeachment Verfahren zitiert wird und warum denn gerade dieses Gedicht, dann hatte David Schoen darauf eine Antwort. Der Dichter habe das Gedicht at a time fraught with division and risk geschrieben, und The message from that other time of division is a call for hope and unity, and to bring strength -- has special meaning today. Wenn er von dem hic et nunc als a time of division spricht, dann hat er sicher Recht, er sollte aber dazu sagen, dass es niemand anderer als sein Mandant ist, der diese division herbeigeführt hat.

Longfellows Gedicht The Building of the Ship, aus dem das Zitat stammt, war ursprünglich achtzig Seiten lang, das erspart David Schoen dem Kongress. Wusste Schoen, dass dieses Gedicht schon ganz andere zu Tränen gerührt hat? Zum Beispiel Abraham Lincoln? Carl Sandburg, den ich vorgestern zitierte, weiß in seinem Band Lincoln: The War Years zu berichten, dass Lincolns Privatsekretär John George Nicolay dem Präsidenten Teile des Gedichts rezitiert hat: Nicolay was surprised at the way these lines hit the President. He seemed to be reading them for the first time. Nicolay had memorized the piece at school. He recited it for Lincoln to the last lines: 'Our hearts, our hopes, our prayers, our tears, Our faith triumphant o'er our fears.' They stirred something deep in Lincoln. 'His eyes filled with tears, and his cheeks were wet,' said Nicolay. 'He did not speak for some minutes, but finally said with simplicity: 'It is a wonderful gift to be able to stir men like that'.

Ein anderer Präsident Amerikas in einer schweren Zeit wird aus diesem Gedicht die ersten fünf Zeilen abschreiben und den Versen den Satz I think this verse applies to you people as it does to us hinzufügen. Er wird das Blatt in einen Umschlag tun, den er to a certain naval person adressiert. Der Adressat ist niemand anderer als der Premierminister Winston Churchill, der einmal der First Lord of the Admiralty, also eine naval person, war. Und Churchill wird diesen Brief von Franklin Delano Roosevelt am Tag nach Erhalt in der BBC vorlesen. Und hinzufügen: What is the answer that I shall give in your name to this great man? The thrice chosen head of a nation of 130 million. Here is the answer which I will give to President Roosevelt. Put your confidence in us - give us your faith and your blessing and under Providence all will be well. We shall not fail or falter, we shall not weaken or tire - neither the sudden shock of battle nor the long drawn trails of vigilance or exertion will wear us down. Give us the tools and we will finish the job.

Wir schreiben den 9. Februar 1941. Punktgenau achtzig Jahre später, am 9. Februar 2021 wird David Schoen Longfellows Zeilen im Kongress vorlesen. Hat er gewusst, was er da tat? Können Gedichtszeilen, die die Schauspielerin Fanny Kemble 1850 dreitausend Leuten vorträgt (standing out upon the platform, book in hand, trembling, palpitating and weeping, and giving every word its true weight and emphasis. It was grandly done, schreibt Longfellow in sein Tagebuch), die Abraham Lincoln 1861 zu Tränen rühren, und die Winston Churchill 1941 dem englischen Volk in einer Kriegsnacht vorliest, Trump davor retten, verurteilt zu werden?

Die originale Fassung von Longfellows Gedicht hatte ein ganz anderes Ende, vielleicht passt das eher zu dem Zustand Amerikas:

But where, oh where,
Shall end this form so rare?
... Wrecked upon some treacherous rock,
Rotting in some loathsome dock,
Such the end must be at length
Of all this loveliness and strength!


Was der criminal lawyer David Schoen mit Tränen vorträgt, das, was er für so großartige Gedanken hält, ist allerdings ein ganz alter Hut. Den Staat sinnbildlich als ein Schiff zu sehen, das von Wellen und Sturm hin- und hergeworfen wird, das können wir schon bei den alten Griechen und den Römern lesen. Zum Beispiel hier bei Horaz. Und dann gibt es die berühmte Stelle in Platons Politeia, wo von einem Mob die Rede ist, der den Schiffsführer entmachtet, das wäre doch mal ein Zitat für das Impeachment Verfahren gewesen (sie finden es in dem Post Niedergang). Und da ich bei der Schiffsbildlichkeit bin, kann ich nicht umhin, wieder einmal Petronius zitieren: Si bene calculum ponas, ubique naufragium est. Trumps Anwälte hätten, statt Longfellow zu zitieren, aus einem Micky Maus Heft vorlesen können, das Ergebnis im Senat wäre dasselbe gewesen.

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