Samstag, 28. Mai 2022

Sibirien


Diesen Herrn werden Sie wahrscheinlich nicht kennen, aber dafür haben Sie ja mich. Er heißt Nikolai Alexandrowitsch Bestuschew, er ist ein Korvettenkapitän der russischen kaiserlichen Flotte. Ich bin auf ihn durch ein Weihnachtsgeschenk von Friedhard gekommen, das Sibiriens vergessene Klaviere heißt, geschrieben von der Engländerin Sophy Roberts. Es liest sich wahrscheinlich im englischen Original besser als in der Übersetzung. Ich wünschte mir, dass jemand wie Adam Gopnik das Buch geschrieben hätte, auf diesem Niveau ist Roberts trotz mehrerer Hochschulabschlüsse nicht, sie geht auch etwas flusig mit den Fakten um. In einer Rezension las ich, das Buch sei in einer erfrischenden Sprache geschrieben, so etwas ist immer verdächtig. Nikolai Bestuschew kommt in dem Buch vor, obgleich alles über ihn etwas genauer und vollständiger sein könnte. Sie fragen sich jetzt natürlich, was hat ein russischer Korvettenkapitän mit Klavieren in Sibirien zu tun?

Als er noch die schöne Marineuniform trug und der Direktor des Marinemusums war, hatte der Adlige nichts mit Klavieren zu tun, aber Jahre später wird er aus Freundschaft zur Prinzessin Maria Wolkonskaja ihr Klavier in Sibirien
reparieren. Maria Wolkonskaja kennen Sie schon, weil Sie hier schon einen Post hat (sie kommt auch in dem Post der heilige Doktor vor). Als Bestuschew das Klavier repariert, ist er als einer der Dekabristen degradiert und nach Sibirien verbannt. Er kann das Klavier nur reparieren, weil er so etwas Ähnliches wie ein Universalgenie ist. In der Verbannung wird er Uhren bauen, einen Chronometer entwerfen, ein Gerät zur Registrierung von Erdbeben erfinden, ein Rettungsboot namens Bestuzhevka konzipieren und das Zielfernrohr verbessern. Diese Erfindung wird im Krimkrieg zum Einsatz kommen. Nebenbei schreibt er auch noch Erzählungen. Und malt alle Dekabristen, die crème de la crème des russischen Adels, die der Zar Nikolaus nach Sibirien geschickt hat. 

Das hier ist Bestuschews Vater Alexander, ein gebildeter Gentleman. Artillerieoffizier unter Katharina der Großen, jetzt retitiert, Schriftsteller und Zentrum eines liberalen intellektuellen Zirkels. Er wird es nicht mehr erleben, dass seine Söhne als Dekabristen verurteilt werden. Die Prinzessin Maria Wolkonskaja ist nicht als Verurteilte in Sibirien, die Freundin Puschkins ist ihrem Gatten in die Verbannung gefolgt, ihre Schwester hatte ihr aus Moskau ein Klavier geschickt. Nach siebentauend Kilometern mit Kutsche und Schlitten klang das Klavier nicht mehr so gut. 

Wir wissen, dasss Nikolai Bestuschew Englisch konnte, das können wir in den Memoiren des ehemaligen Rittmeisters Iwan Dmitrijewitsch Jakuschkin (Bild) lesen: Wir hatten sehr wenige Bücher. Murawiew hatte eine französische Bibel und Sallust in französischer Übersetzung mitgenommen; ich hatte nur Montaigne mitnehmen können, aber zum Glück hatte Bestushew zwei Bände alter englischer Journale, einen Band von Rambler und einen Band von Gärtner. Mit Hilfe Bestushews lernten Murawiew und ich Englisch. Die Bibliothek unseres Offiziers bestand nur aus zwei Büchern, die er uns beide zu lesen gab; aber er konnte sich nicht entschließen, uns Bücher aus Rotschensalm zu verschaffen; statt dessen erhielten wir, völlig unerwartet, ein Heft, in das mit lateinischer Schrift der letzte Teil von 'Childe Harold' eingetragen war. Zwei in Rotschensalm lebende Damen, Frau Tschebischewa und ihre Schwester hatten das Heft gebracht. Wir waren sehr gerührt durch diese Freundlichkeit und schätzten die Gabe hoch. Nur Frauen - von wahrem Gefühl beseelte Frauen - konnten sich so in unsere Lage hineinversetzen und ihre Teilnahme auf eine so zarte Weise äußern. Bestuschew hatte nicht nur das Journal Rambler von Samuel Johnson bei sich, er übersetzte auch Teile von Lord Byron, Sir Walter Scott und Thomas Moore ins Russische. Einen Teil von Jakuschins Memoiren kann man hier in Aus der Dekabristen-Zeit: Erinnerungen hoher russ. Offiziere (Jakuschkin, Obolenski, Wolkonski) von der Militär-Revolution des Jahres 1825 lesen.

Das hier ist nicht das Klavier, das Bestuschew repariert und gestimmt hat. Es ist eins von drei Klavieren, die die Prinzessin bessessen hat. Dieses pyramidale Klavier, wahrscheinlich 1782 in Wien gebaut, ist vielleicht durch einen Musiklehrer ins Haus gekommen. Das Klavier, das ihr der Bruder geschenkt hatte, war ein Lichtenthal Flügel aus dem Jahre 1831, das erste Klavier (das Nikolai Bestuschew reparierte) sah ganz anders aus. Das seltene pyramidale Klavier und das wahrschenlich ebenson seltene Klavier von dem St Petersburger Klavierbauer Hermann Lichtenthal stehen heute im Museum in Irkutsk.

Es wird lange dauern, bis das Ehepaar Wolkonski in dem Haus wohnt, das heute ein Museum ist. Da muss erst der Zar Nikolaus sterben, und sein Nachfolger etwas Milde walten lassen. Vier Jahre, nachdem sie in Sibirien angekommen sind, malt Nikolai Bestuschew dieses Aquarell. Wir sehen kein elegantes Wohnzimmer, wir blicken in eine Zelle. Und das hier ist das erste Klavier, das nach Siberien kam. Bestuschew repariert und stimmt es. Und malt es auch gleich für uns. 

Marias Vater, der General Nikolai Nikolajewitsch Rajewski, war ein Held des Großen Vaterländischen Krieges. Der Zar hatte ihm die Ehre zuteil werden lassen, dass er an seiner Seite in Paris einreiten durfte. Marias Ehemann ist auch ein Held des Großen Vaterländischen Krieges. Er war der Flügeladjutant von Kutusow, er verfolgt Napoleon bis an die Beresina, er erhält nach der Völkerschlacht von Leipzig den Orden des Heiligen Georg, er ist im Gefolge von Zar Alexander beim Wiener Kongress dabei. Wenn ein Mann mit solcher Biographie sich gegen den neuen Zaren wendet, dann zeigt das die Krise des autokratischen Zarentums auf. Und Wolkonski ist nicht allein, es sind viele, seien sie General wie Wolkonski, Oberst wie Trubetzkoi oder Rittmeister wie Jakuschkin. Sie alle waren im Krieg gegen Napoleon, sie alle haben in Frankreich neue Ideen aufgegriffen. Sie wollen ein liberales Rußland. Und die Abschaffung der Leibeigenschaft.  

Sie werden ihre Ideale mit nach Sibirien nehmen. Man kann mit Bestimmtheit sagen, hat Nikolai Basargin geschrieben, dass unser langwährender Aufenthalt in den verschiedensten Orten Sibiriens fuer die geistige Entwicklung der Einwohner gewissen Nutzen gebracht hat und die gesellschaftlichen Beziehungen um einige neue und wertvolle Gedanken bereicherte. Bedenkt man dazu noch den Einfluss, den die Entdeckung der Goldfelder, die Erfolge in Industrie und Handel ausuebten, was eine grosse Anzahl kluger Menschen nach Sibirien lockte, so scheint es nicht verwunderlich, dass sich in den letzten zwanzig Jahren in diesem Lande so vieles zum Besseren gewendet hat. Das hat vielleicht auch Nikolai Bestuschew geglaubt, der sich hier mit einem Bild seines Bruders in der Hand, portraitiert hat. Er ist mit seinem Bruder Michail Bestuschew, in Sibirien geblieben. Seinen anderen Bruder, den damals sehr berühmten Schriftsteller Alexander Alexandrowitsch Bestuschew hatte die Familie aus der Gefangenschaft freikaufen können, unter der Bedingung, dass er sofort wieder in die Armee eintrat. Er fiel 1837 für sein Vaterland bei Sotschi. Alle Brüder Bestuchew finden Sie hier auf dieser sehr informativenBilderseite.

Das Ehepaar Wolkonski hätte in Tolstois Roman Die Dekabristen sicher eine wichtige Rolle gespielt, aber der Roman blieb ein Fragment. Tolstoi hatte es sich beim Schreiben anders überlegt und schrieb Krieg und Frieden. In dem Roman gibt es zwei Familien, die Bolkonski  und Drubetzkoj heißen, das ist wohl kein Zufall. Die Häuser der Fürsten Wolkonski und Ttubetzkoi sind heute Museen der Dekabristen.  Die Erinnerungen von Maria Wolkonskaja (hier von Bestuschew portraitiert) stehen im Original im Internet, leider nicht in deutscher Übersetzung. Man findet das Buch aber noch leicht antiquarisch für kleines Geld. Das Nachwort der Übersetzerin Lieselotte Remané können Sie hier lesen. Das Buch von Christine Sutherland Die Prinzessin von Sibirien: Maria Wolkonskaja und ihre Zeit ist auch noch leicht zu finden.

Ich habe mit einem Korvettenkapitän, der in Sibirien das Klavier einer Prinzessin repariert, angefangen. Und dann kam, wie das häufig bei mir so ist, eins zum anderen. Sophy Robert hat das Klavier der Wolkonskaja zum Anlass genommen, um über die Klaviere in Sibirien zu schreiben. Man kann aber auch sagen, dass durch die Prinzessin nicht nur ein Klavier nach Sibiren kommt, das Klavier ist ein Symbol für die Kultur, die jetzt nach Sibirien kommt. Die Prinzessin soll auf ihrem Klavier irgendwann Stille Nacht, Heilighe Nacht gespielt haben. Das erzählen die Fremdenführer in Irkutsk gerne, aber ich weiß nicht, ob das wahr ist.

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