Dienstag, 28. Juni 2022

The Way by Swann’s


Ich lese gerade ein Buch, das ich kenne. Ich habe es schon mehrmals gelesen, sogar in verschiedenen Übersetzungen. Ich besitze auch den ersten Band im französischen Original, den habe ich aber in die zweite Reihe gestellt. Jetzt lese ich das Buch wieder in einer Übersetzung, aber es ist diesmal eine englische Übersetzung. Darauf war ich noch nie gekommen, dass man die ➽Recherche a la temps perdu auch in einer englischen Übersetzung lesen konnte. Es gibt einen vielzitierten Satz, dass man philosophische und andere schwere Texte, die man kaum versteht, in der englischen Übersetzung leichter lesen könne. Es ist ein Satz, der immer mal wieder für das Werk von Karl Marx und Sigmund Freud gebraucht wurde. Nie für das Werk von Hegel oder Heidegger, da versagt auch die Common Sense Struktur der englischen Sprache.

Proust und Englisch, das ist so eine Sache. Seine Mutter beherrschte die englische Sprache, er kaum. Aber er bewundert die Engländer und den englischen Stil. Er trägt Schlipse und Querbinder von der englischen Firma Liberty's (er hat sie in allen Farben) und kauft seine Schuhe in dem Luxusgeschäft Old England am Boulevard des Capucines (das Geschäft gibt es leider seit zehn Jahren nicht mehr). Schwarze geknöpfte Lackstiefel, Halbstiefel natürlich. Nichts anderes. Sie können ihn mit solchen Schuhen in dem Post Morning Coat sehen. Seine Anzüge und seine Morning Coats kommen von der Firma Carnaval de Venise in der Rue Halevy, die haben einen englischen Schneider, der kommt zu Proust ins Haus.

Alles über Prousts Anglophilie kann man bei Professor Daniel Karlin in dem hochinteressanten Buch Proust's English (Oxford University Press 2005) lesen. Und wenn Proust auch kaum Englisch kann, liebt er doch die englische Literatur, das hat er selbst gesagt: C’est curieux que dans tous les genres les plus différents, de George Eliot à Hardy, de Stevenson à Emerson, il n’y a pas de littérature qui ait sur moi un pouvoir comparable à la littérature anglaise et américaine. L’Allemagne, l’Italie, bien souvent la France me laissent indifférent. Mais deux pages du 'Moulin sur la Floss' me font pleurer. Er liest das alles natürlich in Übersetzungen, zum Übersetzer seines eigenen Werkes hätte er nicht getaugt. Obgleich er sich daranmacht, einen Text des vom ihm verehrten John Ruskin zu übersetzen. Lesen Sie dazu mehr in dem Post Notre Dame d'Amiens.

Im Jahre 1919 offerierte der schwerverletzt aus dem Krieg zurückgekommene Captain C. K. Scott Moncrieff dem Constable Verlag eine Übersetzung von Prousts Roman Du côté de chez Swann, der gerade neu überarbeitet bei Gallimard erschienen ist. Bei dem Verlag Gallimard sollte Proust für den kurzen Rest seines Lebens bleiben. Der Constable Verlag teilte Scott Moncrieff, der gerade eine Übersetzung des Rolandsliedes und Stendhals Kartause von Parma beeendet hatte, mit, sie hätten noch niemals etwas von diesem Herrn Prévost gehört. Sie konnten nicht einmal den Namen Proust richtig schreiben. Immerhin kannten sie Herman Melville, denn sie hatten gerade mit der Herausgabe seiner Werke begonnen. Scott Moncrieff ließ sich davon nicht einschüchtern und übersetzte den ersten Band der Recherche. Als er den fertig hatte, ließ er sich als Captain der King’s Own Scottish Borderers malen.

Das Buch hat Proust einen Monat vor seinem Tod noch bekommen. Proust, despite his shaky acquaintance with the half-learned and half- forgotten English language, was relieved a little as he struggled through his own copy by the beauty he dimly perceived, schreibt George Duncan Painter in seiner Proust Biographie. Der Titel des ersten Bands Swann's Way gefiel Proust nicht, der bei Shakespeare entlehnte Titel Remembrance of Things Past auch nicht, aber er bedankte sich brieflich (in englischer Sprache) beim Übersetzer. Proust hatte seit dem Dezember 1921 gewusst, dsss die englische Übersetzung im Entstehen war, Gaston Gallimard hatte ihn informiert. Scott Moncrieff wird bis zu seinem Tod im Jahre 1930 beinahe die ganze Recherche übersetzt haben. 

Seine Übersetzung bleibt, bis sie 1981 von Terence Kilmartin auf der Basis der Pléiade Edition von 1954 revidiert wurde, die englische Standardausgabe des Werkes. Wenn Sie wollen, können Sie sie ➽hier lesen. Die schottische Schriftstellerin Jean Findlay hat mit Chasing Lost Time vor sieben Jahren eine hervoragende Biographie von Scott Moncrieff vorgelegt. Sie ist die Urgroßnichte des Übersetzers und konnte auf bisher unbekannte familiäre Unterlagen zurückgreifen. Sie hatte in Edinburgh Romanistik studiert und wollte eine Dissertation über Prousts Recherche schreiben, aber ihr Onkel riet ihr ab: it killed Proust to write it, it killed CK to translate it; it'll probably kill you to read it ... Sie gab Proust auf und schrieb über Balzac. Aber dann kam sie doch auf Proust zurück und schrieb die Biographie von CK, der niemand anderer als Charles Kenneth Scott Moncrieff ist.

Ich komme auf das Thema, da ich letztens das im ersten Absatz abgebildete Buch The 14-Minute Marcel Proust für 2,47 € bei ebay gekauft hatte und dort alles über die verschiedenen englischen Proust Übersetzungen lesen konnte. Sie brauchen sich das Büchlein nicht zu kaufen, es steht alles in diesem Blog des Autors, der uns die verschiedenen Übersetzungen und Übersetzungsversuche der einzelnen Bücher der Recherche präsentiert. Das brachte mich dazu, den von den Kritikern gelobten ersten Band der neuen Penguin Ausgabe in der Übersetzung von Lydia Davis zu kaufen, die jetzt The Way by Swann’s heißt. Vladimir Nabokov hatte vorgeschlagen, man solle das Buch The Walk by Swann’s House nennen. Das ist etwas anderes als Scott Moncrieffs Swann's Way. Ich kannte den Text, von dem ich verschiedene deutsche Übersetzungen gelesen habe. Das französische Original mehr oder weniger auch.

Ich begann zu lesen und konnte nicht aufhören. Unglaublich. Wie klar und verständlich alles war. Die Schriftstellerin Lydia Davis, die einmal mit Paul Auster verheiratet war, hatte schon dreißig Jahre aus dem Französischen übersetzt (unter anderem Flauberts Madame Bovary), als sie der Penguin Verlag fragte, ob sie an einer neuen Proust Übersetzung teilnehmen wollte. Nach einigem Nachdenken wollte sie. Sie können hier im Yale Review alles lesen, was sie zu ihrer Übersetzung des Werkes, über das Henry James schrieb: inconceivable boredom associated with the most extreme ecstasy which it is possible to imagine, zu sagen hat. Diese Übersetzung zu lesen war mehr ecstasy als boredom. Aber, alle schönen Dinge haben ein Aber, ich weiß nicht, wie der Rest von In Search of Lost Time aussieht. Lydia Davis hat leider nur den ersten Band übersetzt. 

Der Herausgeber der Penguin Ausgabe Christopher Prendergast, der gerade das Buch Living and Dying with Marcel Proust veröffentlicht hat, hat für seine Wahl etliche Gründe, ohne zu sagen, dass sich niemand auf der Welt finden würde, der die ganze Recherche mit dem Anspruch übersetzte, besser zu sein als Scott Moncrieff. James Alter kritisierte die Edition im Times Literary Supplement sicherlich zu Recht: Anyone reading through the seven volumes in French comes to sense a unifying Proustian sensibility in the prose even as it shifts gear according to the exigencies of the particular narrative moment. Prendergast's assertion to the contrary looks suspiciously like an excuse for having made no editorial effort to bring the sundry volumes into full stylistic consonance with each other, and this inaction in certain ways compromises the project as a wholeAlain de Botton, dem wir das schöne Buch How Proust Can Change Your Life verdanken, verteidigte dagegen das Penguin Projekt in der Times: For a start, Prendergast has picked on a distinguished range of translators, so that even if one ends up with a favourite (mine was James Grieve, who did Volume 2), there’s never a sense of an awkward shift as one moves from book to book. Und dann kommt der Satz: It is Proust’s voice that one follows; the translators remain self-effacing handmaidens, their task helped by a general editor who has taken care to impose a uniformity of names and other details. Man könnte diesen Satz negativ umformulieren: Proust ist so gut, dass man ihn überall erkennt, egal wie schlecht die Übersetzungen sind. Im Internet ist eine sehr gute Magisterarbeit von Camille Gippa zu lesen, in der Sie alles über die Rezeption der Übersetzungen finden.

Der zweite Band der Penguin Ausgabe wurde von dem Australier James Grieve übersetzt, der viel freier als Davis an den Text herangeht. Er bekam die schlechtesten Rezensionen, die einzige Ausnahme war die von Alain de Botton. Grieve hatte schon zwanzig Jahre zuvor einen Band aus der Recherche übersetzt. Das war ein Wagnis gewesen, das wusste Grieve. Und er hat hat seiner Übersetzung ein Zitat vorangestellt, das aus der Übersetzung von Montaignes Werken durch Charles Cotton stammte: My Design in attempting this Translation, was to present my Country with a true Copy of a very brave Original; How far I have succeeded in that Design is left to every one to judge; and I expect to be the more gently censured, for having my self so modest an Opinion of my own Performance, as to confess that the Author has suffered by me, as well as the former Translator; though I hope, and dare affirm, that the misinterpretations I shall be found guilty of, are neither so numerous, nor so gross. I cannot discern my own Errours, it were unpardonable in me if I could, and did not mend them; but I can see his (except when we are both mistaken) and those I have corrected; but am not so ill natur’d as to shew where. Was Charles Cotton hier 1685 formuliert, sollte jeder Übersetzer vor sein Werk schreiben. Grieve hatte Swann's Way (hier im ➽Volltext) den Satz vorangestellt: This new Proust in English I dedicate to all those who once read him in the belief that he was abstruse; and to those who, in the same belief, never read him.

Lydia Davis ist mit ihrer Übersetzung Scott Moncrieffs Übersetzung verpflichtet, das hat sie in Interviews und Leserbriefen gesagt, das hat sie im Vorwort der Penguin Ausgabe geschrieben. Es plagte sie bei ihrer Arbeit eine Frage: Another early question that haunted me was whether a new translation was needed at all. Scott Moncrieffs Übersetzung ist von Terence Kilmartin überarbeitet worden, diese Revision war eigentlich mehr oder weniger eine Neuübersetzung. Und diese neue Version war von D.J. Enright auf der Basis der Pléiade Edition von 1984 noch einmal überarbeitet worden, warum eine neue Übersetzung? Enright hatte den Titel des Werks von Remembrance of Things Past geändert, das Werk heißt jetzt In Search of Lost Time. Das hätte Proust gefallen, der an Scott Moncrieffs Titel Anstoß genommen hatte.

Der Leser hat heute die Wahl, was er kaufen will. Es gibt nach hundert Jahren Scott Moncrieffs Übersetzung immer noch. Antiquarisch oder neu von der Yale University Press. Herausgegeben und kommentiert von William C. Carter. Das liest sich in der Verlagswerbung so: Esteemed Proust scholar William C. Carter celebrates the publication centennial of Swann's Way with a new, more accurate and illuminating edition of the first volume of In Search of Lost Time. Carter corrects previous translating missteps to bring readers closer to Proust's intentions while also providing enlightening notes to clarify biographical, historical, and social contexts. Presented in a reader-friendly format alongside the text, these annotations will enrich and deepen the experience of Proust's novel, immersing readers in the world of an unsurpassed literary genius. Für Harold Bloom, der immer für eine schräge Meinung gut ist, war Carter Proust's definitive biographer, ich fand Carters Biographie furchtbar langweilig, kein Vergleich mit Tadié.

Aber ich sollte auch etwas Nettes über Professor Carter sagen, ich brauche ihn noch für den Schluss. Zum einen, dass er der Ko-Produzent des Films Marcel Proust: A Writer's Life ist, den Sie hier sehen können. Zum anderen, weil er ein Buch über Shelby Foote herausgegeben hat. Der Schriftsteller und Historiker, der eins der besten Geschichtswerke über den amerikanischen Bürgerkrieg geschrieben hat, ist hier schon häufig erwähnt worden. Aber was hat er mit Marcel Proust zu tun? In dem Film über Proust sagt er, dass Proust the man who hung the moon in my mind gewesen sei. Zu seinem siebzehnten Geburtstag hat er ein Exemplar von Remembrance of Things Past bekommen und das Buch immer wieder gelesen. What I got from Proust is the handling of multiple plots, the infinite compassion for all kinds of scoundrels - just a whole way of looking at the world... Proust called style 'a quality of vision.' He gave me that. Und in dem von Carter herausgegeben Band sagt Foote in einem Interview, dass er ohne die Kenntnis von Homers Ilias und Prousts Remembrance of Things Past niemals die drei Bände von The Civil War: A Narrative hätte schreiben können. Ein Werk, das im Übrigen genau so lang ist, wie Prousts Recherche.

Und Shelby Foote hat noch etwas anderes, etwas ganz Erstaunliches, gesagt. Immer, wenn er ein Buch fertig hätte, würde er A la recherche du temps perdu lesen: I’ve always given myself a reward when I finish something and the reward I give myself is always the same thing. I read 'A la recherche du temps perdu'. That’s my big prize. C’est mon grand prix. I think I’ve read it nine times, now. It’s like a two-month vacation because it takes that long to read Proust. I like it better than going to Palm Beach.



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