Sonntag, 19. Februar 2023

Das Marcel Proust Alphabet


Mein Freund Götz hat mir letztens einen französischen Zeitungsartikel über Proust vorbeigeschickt, von der rothaarigen Ute habe ich die Kopie eines langen Artikels aus einer deutschen Sonntagszeitung bekommen. Der Friedhard hat mir zu Weihnachten ein Buch über Proust geschickt, das ich noch nicht besaß. Und die witzige Proust Karte von Heidi steckt immer auffindbar im Proust Regal. Meine Freunde denken immer alle an mich, wenn ihnen Proust irgendwie begegnet, das ist schön. Obgleich ich sagen muss, dass ich nicht wirklich ein richtiger Proust Fan bin und niemals den Wunsch hatte, in die Proust Gesellschaft einzutreten. Ich habe nichts von dem Fanatismus des Dr Reiner Speck an mir, der die größte private Proust Sammlung besitzt. Weshalb die Bücher in seiner Bibliotheca Proustiana vergittert sind, weiß ich nicht. 

Ich hatte begonnen, Proust zu lesen, als mir mein Freund Peter sagte: Wir müssen jetzt Proust lesen. Damals waren wir achtzehn. 1962 war ich beim dritten Band. Als ich das Abitur in der Tasche hatte, war ich mit der Recherche durch. Aber natürlich ist man nie mit dem Roman fertig, man fängt immer wieder an einzelnen Stellen zu lesen an. Marcel Proust war von Anfang an in diesem Blog. Das begann am 13. Februar 2010 in dem Post Leser mit dem Zitat: In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst hätte nicht erschauen können. Am 22. Februar 2010 gab es hier den Post Bilder, das war der erste einer Vielzahl von Posts. Den haben damals anderthalb tausend Leser angeklickt, aber das wusste ich nicht, weil ich meine Statistikseite noch nicht entdeckt hatte. Ich war noch ziemlich hilflos in der digitalen Welt. Als ich Proust vor sechzig Jahren las, gab es kein Internet. Es gab noch keine Chat Groups und Jochen Schmidt las noch nicht Proust. Es gab auch keine Wikipedia, die man hätte fragen können. Und es gab in Deutschland auch nicht diese Masse von Büchern über Proust. Ich war damals schon froh, dass ich Claude Mauriacs Marcel Proust mit Selbstzeuugnissen und Bilddokumenten besaß. Das Taschenbuch war als Marcel Proust par lui-même 1953 in Paris erschienen und dann von der Proust Übersetzerin Eva Rechel-Mertens für Rowohlt übersetzt worden. Jean-Yves Tadié, dem wir die wohl beste Proust Biographie verdanken, findet in seinem Werk lobende Worte für Mauriacs Buch.

Als ich mit der Lektüre der Recherche so ziemlich ans Ende gekommen war, erschien bei Suhrkamp in zwei Bänden (1962 und 1965) die Proust Biographie von George Duncan Painter. Der arbeitete am British Museum und war weltweit bekannt als Kapazität für mittelalterliche Inkunabeln. In der Welt der Proust Forscher war er ziemlich unbekannt. Im Vorwort zum ersten Band seiner Biographie sagt Painter 1959: I have endeavoured to write a definitive biography of Proust: a complete, exact and detailed narrative of his life, that is, based on every known or discoverable primary source and on primary sources only. Hier liegen Stärken und Schwächen von Painter. Als er seine Biographie schrieb, lebten noch Zeitgenossen, die Proust gekannt hatten. Er hat niemanden interviewt. Hat sogar behauptet, dass ein Treffen mit Proust für ihn von keinem Nutzen gewesen wäre. 

1989 erschien bei Chatto und Windus eine revised and enlarged edition von Painters Biographie, aber nichts von dem revised and enlarged war wahr. Der Verlag druckte lediglich den originalen Text nach, und Painter schrieb ein neues vierseitiges Vorwort und füllte die Bibliographie auf. Die Ergebnisse von dreißig Jahren Proust Forschung wanderten nicht in das Buch. Und dennoch bleibt es eine großartge Biographie, auch wenn wir heute die Biographie von Jean-Yves Tadié haben (zu den Biographien gibt es hier den ausführlichen Post Temps Retrouvé). In England  lobte man die Biographie. One of the great English biographies of all time, urteilte Philip Toynbee. Und mit der ihm eigenen Zurückhaltung sagte Anthony Powell: Mr Painter has done his work so well that it is hard to speak in moderate terms of his skill and unobtrusive wit. Aus dem Munde des Mannes, der mit seinem zwölfbändigen Werk A Dance to the Music of Time ein Äquivalent zu der Suche nach der Verlorenen Zeit geschrieben hat, wiegt dieser Satz schwerer als er aussieht. Painter ist einundneunzig Jahre alt geworden, er ist leider nicht mehr dazu gekommen, seine zweibändige Stendhal Biographie zu beenden. Einen Titel hatte er schon: The Hunt for Happiness.

Ich habe im November 2022 in dem Post Marcel Proust geschrieben: Rechtzeitig hat der nimmermüde Luzius Keller ein Marcel Proust Alphabet fertig, das in manchem wie ein recycling seiner Proust Enzyklopädie aussieht. Leider ist seine vegriffene Proust Enzyklopädie antiquarisch niemals im Preis gesunken, Antiquare wollen dreihundert Euro für das Buch haben, werden es aber nicht los. Erfreulicherweise hat Reclam die durchgesehene Neuauflage von Bernd-Jürgen Fischers Handbuch zu Marcel Prousts 'Auf der Suche nach der verlorenen Zeit' als preisgünstiges Taschenbuch herausgebracht. Das passt zu der überarbeiteten und erweiterten Neuauflage von Ulrike Sprengers Das Proust-ABC. Mit den beiden Büchern ist sicher vielen Proust Lesern geholfen, die sich zum erstenmal in die riesige Kathedrale des Textes der Recherche begeben. Für Preise, die zwischen zehn und achtzig Euro liegen, kann man das hervorragende Marcel Proust Lexikon von Philippe Michel-Thiriet noch antiquarisch bekommen. Das hätte Suhrkamp ja mal als Neuauflage herausbringen können, aber ich habe das Gefühl, die verschlafen alles. 

Das alles würde ich heute genauso schreiben, aber ich möchte noch einmal auf Luzius Kellers Marcel Proust Alphabet zurückkommen. Ich habe lange gezögert, es mir zu kaufen, aber dann fand ich letztens einen Händler, der das Buch zum halben Preis anbot. Seitdem lese ich in dem Buch, aber ich weiß immer noch nicht, ob die sechsunddreißig Euro gut angelegt sind. Vielleicht hätte ich ein Exemplar für 19,95 € kaufen sollen, so etwas gibt es inzwischen auch. Die Preise für das Buch, das 68 Euro kosten soll, sind in einem halben Jahr stark gesunken. Die Basis des Marcel Proust Alphabet ist die Proust Encyklopädie aus dem Jahre 2009, deren Entstehungsgeschichte interessant ist. Weil das Buch eigentlich nichts als eine Übersetzung des Dictionnaire Marcel Proust von Annick Bouillaget und Brian G. Rogers ist. Bouillaget hatte mit La pratique intertextuelle de Marcel Proust dans 'A la recherche du temps perdu': les domaines de l'emprunt ihren Doktortitel erhalten. Brian G. Rogers hatte seinen Doktor vom Trinity College und schrieb 1965 sein erstes Buch über Proust. Das alles hat Melanie Walz übersetzt, und Luzius Keller hat noch ein paar hundert Artikel dazu geschrieben.

Und jetzt wird das Ganze noch einmal recycelt, 1.336 Seiten, mit Mitteln der Dr Reiner Speck Stiftung gedruckt, wahrscheinlich tausend Stichwörter. Ich habe keine Lust, die zu zählen. Manche Lexikonartikel sind sehr kurz, manche lang. Viele zu lang. Einige Stichworte sind neu, auf andere habe ich verzichtet, schreibt Keller im Vorwort. Sagt aber nicht, was neu und was weggefallen ist. Die Familie Guermantes bekommt bei Ulrike Sprenger fünf Seiten, bei Luzius Keller fünfzehn Seiten. Muss die berühmte Madeleine sechs Seiten haben? Ulrike Sprenger hat in ihrem Proust ABC zwei Seiten und ein Photo von sich beim Verzehr einer Madeleine. Ihr Lexikon besticht immer wieder durch Humor und Esprit, zwei Kategorien die dem Proust Alphabet vollständig fehlen. Und wenn man dem kulinarischen Erlebnis der Madeleine (die zuerst ein Zwieback war) nachgehen will, dann sollte man einen Artikel wie diesen im Internet lesen.

Das Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung enthält Namen von Romanfiguren, Namen von Personen, die etwas für Proust bedeuteten, Ortsnamen und allgemeine Übersichtsartikel. Es enthält keinerlei Abbildungen. Es gibt keinen Artikel zu James Joyce, obgleich sich Proust und Joyce einmal getroffen haben. Es gibt auch keinen Arikel zu Rolls Royce, obgleich ein Rolls Royce im Werk vorkommt. Es gibt erstaunlicherweise einen Artikel zu Fortuny, der auch in der Recherche erwähnt wird: Das Kleid von Fortuny, das Albertine an diesem Abend angelegt hatte, kam mir wie ein lockender Schatten jenes unsichtbaren Venedig vor. Morgenländische Ornamente überzogen es überall, die unzählige Male auf dem schillernden Gewebe von tiefem Blau wiederkehrten, das unter meinem vorwärtstastenden Blick sich in schmiegsames Gold verwandelte durch eine ähnliche Metamorphose, wie sie vor der vorwärtsgleitenden Gondel flammendes Metall aus der Azurtönung des Canale Grande macht. Wir finden bei Keller auch einen Artikel über Mode, aber der ist sehr, sehr schwach, da findet sich hier im Blog (zum Beispiel in den Posts Damenmode und Une fillette d’un blond roux) mehr als bei Luzius Keller.

Lothar Müller hat in der Süddeutschen in seiner Rezension moniert (die eine der ganz wenigen Rezensionen ist), dass das Buch keinen Artikel zum Ersten Weltkrieg enthält. Das ist nun wirklich erstaunlich, denn der Krieg interessierte Proust, der täglich ein halbes Dutzend Zeitungen las, schon sehr. Und der Krieg wandert auch in die Recherche, nicht nur weil Robert de Saint-Loup sein Croix de Guerre im Bordell verliert. Der deutschen Proust Gesellschaft war das Thema so wichtig, dass sie den Band Marcel Proust und der Erste Weltkrieg herausbrachte, und dann gibt es auch noch das Buch Marcel Proust und der Krieg von Alexis Eideneier und Reiner Speck, aber in diesem Handbuch findet der Krieg nicht statt. Das Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung enthält viele Artikel zur Rezeption Prousts und zu den Proust Übersetzungen. Diese Artikel muss das Buch haben, das steht im Titel. Der englische Biograph  George D. Painter ist Luzius Keller der Erwähnung nicht wert. Der deutsche Übersetzer Rudolf Schottländer bekommt sechzehn Zeilen, die der Leistung dieses Mannes nicht annähernd gerecht werden. Das ist ziemlich armselig. Hermann Hesse, der Schottländers Übersetzung gelobt hatte und sich bei Peter Suhrkamp für die deutsche Gesamtübersetzung stark gemacht hatte, hat auch keinen Eintrag.

Nicht alle Artikel in dem Marcel Proust Alphabet sind von Luzius Keller oder den Autoren des Dictionnaire Marcel Proust. Manche Artikel sind von anderen, die aber namentlich genannt werden und mit einer Quellenangabe versehen sind. So ist zum Beispiel der Artikel Judentum von Melanie Walz, der Übersetzerin des Dictionnaire Marcel Proust. Ich weiß nach wochenlanger Lektüre immer noch nicht, für wen dieses Lexikon ist. Nicht für den normalen Leser, der wird mit Ulrike Sprengers Proust-ABC, mit  Bernd-Jürgen Fischers Handbuch oder dem Lexikon von Philippe Michel-Thiriet auskommen. Bücher wie das Proust-ABC oder Michel-Thiriets Lexikon sind mit Vergnügen zu lesen. Weil sie nicht diese blutleeren Artikel wie Kellers Handbuch enthalten. Universitäts- und Seminarbibliotheken werden das Buch kaufen, aber Sie wahrscheinlich nicht, wenn Sie diesen Post gelesen haben. 



Und wenn Sie alles über Proust auf einer Seite haben wollen, dann kann ich Ihnen diese Seite von ⥤Lars Hartmann empfehlen.

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