Donnerstag, 4. Mai 2023

Søren Aabye Kierkegaard


In meinem Philosophiestudium in den sechziger Jahren kam Kierkegaard nicht vor. Es wurden die alten Griechen angeboten und Hegel und Heidegger (an anderen Unis Deutschlands stand in dieser Zeit hauptsächlich Karl Marx auf dem Programm). Hegel und Heidegger haben hier schon Posts. Die nicht sehr nett sind, ich mag sie beide nicht. Schopenhauer mochte Hegel auch nicht. Schopenhauer kann man immer lesen. Kierkegaard auch. Als ich der Dozentin, die mich im Rigorosum prüfte, Schopenhauer und Kierkegaard als Prüfungsthemen vorschlug, guckte sie mich an, als käme ich von einem anderen Stern. Sie empfahl mir, ihre Hegel Vorlesung zu besuchen. Mein kleiner Scherz, dass Schopenhauer Hegels Gesicht als Bierwirtsphysiognomie bezeichnet hatte, kam bei ihr nicht so gut an. Ihre Hegel Vorlesung bei mir auch nicht. Wir einigen uns für die Prüfung auf das Thema des Staatsvertrags bei Hobbes, Locke, Rousseau und Kant. Ist ein nettes Thema, concédé, ist aber eben kein Kierkegaard. Man braucht auch nicht Philosophie zu studieren, um Kierkegaard zu lesen. 

Søren Aabye Kierkegaard wurde heute vor 210 Jahren geboren, er war von Anfang an in diesem Blog, zuletzt wohl in dem Post exis (von dem es auch eine englische Version gibt). Der Post hat eine Menge mit Kierkegaard zu tun, weil ich da den Professor Gordon Marino erwähnt habe, der Kierkegaard in the Present Age und The Quotable Kierkegaard veröffentlicht hat und Mitherausgeber des Cambridge Companion to Kierkegaard ist. Gordon Marino ist auch Direktor der Kierkegaard Bibliothek des St Olaf College in Northfield (Minnesota), und dass die kleine Universität die vielleicht beste Kierkegaard Bibliothek der Welt besitzt, verdankt sie diesem Herrn hier. Er heißt Howard Hong und hat keinen Wikipedia Artikel, die Bibliothek, die er aufgebaut hat, hat allerdings einen Artikel. Dieses Internet Lexikon weiß auch nicht, was es tut. Wir nehmen einmal für die Beschreibung seines Lebens diesen Nachruf aus der Star Tribune. Und wir sollten noch erwähnen, dass Howard Hong zusammen mit seiner Gattin den ganzen Kierkegaard ins Englische übersetzt hat.

Ich stelle heute einmal meinen ersten Kierkegaard Post aus dem Jahre 2010 ein, den ich noch ein wenig überarbeitet und angereichert habe. Sie werden das gerne lesen, denn Sie lesen immer alles, was ich über Philosophie schreibe. Der Post Philosophenwitze ist zur Zeit mal wieder ein Bestseller, er geht beharrlich auf die zehntausend Klicks zu.

Kierkegaard ist fünf Jahre älter als Marx. Als Marx 1843 sein Buch Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie veröffentlichte, da hatte Søren Aabye Kierkegaard schon seine Dissertation sowie Entweder – Oder, Tagebuch des Verführers, Zwei erbauliche Reden, Die Wiederholung, Furcht und Zittern, Drei erbauliche Reden und Vier erbauliche Reden fertig. Als Karl Marx sein Hauptwerk Das Kapital schreibt, da ist Kierkegaard längst tot. Kierkegaard konnte genug Deutsch, um Hegel zu lesen und in Berlin Schellings Vorlesungen zu folgen (die Friedrich Engels damals auch hörte). Kierkegaard hat Marx niemals gelesen, Marx andererseits hat Kierkegaard auch nie gelesen. Das einzige, das die beiden gemeinsam hatten: sie rauchten Zigarren.

Ich fand das Buch Der letzte Dandy: Ein Kierkegaard Roman in einem Grabbelkasten. Ich kannte weder Buch noch Verfasser, aber der Titel war verlockend. Und dann gab es da noch dieses schöne Motto: Ich bin genau so wie das Lüneburger Schwein. Mein Denken ist eine Leidenschaft. Ich kann vortrefflich für andre Trüffeln aufwühlen, selbst habe ich an ihnen keine Freude. Ich nehme die Probleme auf meine Nase; aber ich vermag mit ihnen nicht mehr zu tun, als sie nach rückwärts über meinen Kopf zu werfen.  Das beschrieb wunderbar meine Tätigkeit als Blogger. War es wirklich von Kierkegaard, wie der Autor Klaas Huizinga behauptete? Auf jeden Fall gab es den Ausschlag zum Kauf des Buches. Das Zitat steht wirklich bei Kierkegaard in Entweder - Oder, ich habe es auch schon in meinem sehr lesenswerten Post Schweine zitiert. Und der Romanautor Huizinga ist nebenbei Professor für Theologie, der irrrt sich nicht. 

Das Buch fängt auch gut an, mit einem Prolog, der Der Club der falschen Propheten heißt: Mein lieber Sören, lassen Sie uns bei diesem weichen Wetter einen Spaziergang an den Strand unternehmen. Er erinnert mich aufs Angenehmste an die Sommerfrische auf der Kurischen Nehrung. Wir hatten in Nidden, ich weiß nicht, ob Sie es von hier oben verfolgt haben, ein sehr kommodes Ferienhaus. Vielleicht verflüchtet sich bei unserem kleinen Wandel auch mein leichtes Sodbrennen, denn ich habe gestern sehr unbedacht meinen Nachmittag damit vertan, allerlei Beeren und Trauben zu essen. Meine leichte Luftröhrenaffektion meldet sich zudem zurück. Und heute Abend erwartet mich der Heidenlärm eines Mozart-Konzertes. Der Maestro persönlich spielt auf seinem albern-mattweißen Flügel. Dieses genialisch-neckische Spiel! Wie er seine Leidenschaften ausstellt! Erschreckend!
   Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten? Irdische Importware aus Bremen, Maria Mancini, meine kleine Favoritin, natürlich handgedreht, mausgraues Deckblatt, mit einem kräftigen blauen Leibring. Die Zigarre entfaltet eine gepflegte Blume, würzig, aber sehr fügsam auf der Zunge, nur gelegentlich gegen Ende etwas launisch. Ein kleiner Tipp, streifen Sie sie allenfalls zweimal ab, sie liebt es, wenn man sie wenig ascht. Bitte sehr.
   Unsere Promenaden, die wir manches liebe Mal unternommen haben, sind mir sehr teuer geworde
n.

Hier spricht Thomas Mann. Nicht der wirkliche Thomas Mann, sondern der, den der Autor Klaas Huizinga für seinen Roman erfunden hat. Der sich offensichtlich bei Thomas Mann gut auskennt. Denn die Maria Mancini aus Bremen kommt auch schon im Zauberberg vor: »Wie schmeckt der Krautwickel, Castorp? Lassen Sie mal sehen, ich bin Kenner und Liebhaber. Die Asche ist gut: was ist denn das für eine bräunliche Schöne?«  »Maria Mancini, Postre de Banquett aus Bremen, Herr Hofrat. Kostet wenig oder nichts, neunzehn Pfennig in reinen Farben, hat aber ein Bukett, wie es sonst in dieser Preislage nicht vorkommt. Sumatra-Havanna, Sandblattdecker, wie Sie sehen. Ich habe mich sehr an sie gewöhnt. Es ist eine mittelvolle Mischung und sehr würzig, aber leicht auf der Zunge. Sie hat es gern, wenn man ihr lange die Asche läßt, ich streife nur höchstens zweimal ab. Natürlich hat sie ihre kleinen Launen, aber die Kontrolle bei der Herstellung muß besonders genau sein, denn Maria ist sehr zuverlässig in ihren Eigenschaften und luftet vollkommen gleichmäßig. Darf ich Ihnen eine anbieten?«

Ich weiß zwar nicht so ganz, was Zigarren in einem Lungensanatorium verloren haben, aber die Firma Maria Mancini gab es wirklich. Sie ist inzwischen von der deutschen Manufaktur August Schuster in Bünde, wo ja seit dem 19. Jahrhundert der größte Teil der deutschen Tabakindustrie sitzt, wiederbelebt worden. Nicht, dass die da in Bünde Tabak anbauten. So etwas wie Bahndamm Sonnenseite, was mein Opa nach dem Krieg auf dem Dachboden trocknete. Nein, Bünde verdankt seinen Status als Zigarrenstadt wahrscheinlich dem Tönnies Wellensiek, der in Bremen Zigarrenmacher (die Bremer Zigarrenmacher kommen schon in diesem Post vor) gelernt hatte. Und dann mit einer Kiepe voll Tabak nach Bünde gewandert ist und eine Fabrik aufgemacht hat. Die Bremer werden ihm nicht nachgeweint haben, die Zigarrenmaakers in den 78 Tabakfabriken in Bremen galten als aufrührerisches Gesindel. Wahrscheinlich, weil sie die erste organisierte Arbeiterschaft in Bremen waren. Die Marke Maria Mancini aus Bünde hat neuerdings auch ein Modell namens Magic Mountain im Programm. Soviel zum Thema Literatur und Tabakwerbung.

Nicht nur Thomas Mann ist den Zigarren (und Zigaretten) zugetan. Auch Kierkegaard verschmähte die Coronas nicht. In Kierkegaards Geburtsjahr erlaubt der dänische König Frederik VI, dass auch in Dänemark Zigarren hergestellt werden durften. Handgefertigt natürlich. Das Zigarrenrauchen war in Dänemark eine neue Mode, es war erst in den 1830er Jahren aufgekommen. So hört man um 1831 aus Paris (wo es unwesentlich früher chic geworden war): Die Cigarre ist ein Bedürfnis, eine Sucht, eine Mode, ein Zeichen der Fashionabilität geworden, welcher man sich nicht mehr entledigen kann. Das, was noch vor wenigen Jahren ein Gegenstand der Verwerfung war, ist nun zum Typ der guten Gesellschaft geworden. Die Cigarre ist von den Tabakstuben in die Kaffeehäuser, von den Kaffeehäusern auf die Promenade gedrungen; von hier in die Salons ist es nur ein Schritt, und wenn das fort geht, so werden wir bald in den Boudoirs den Weihrauchduft der Cassoletten durch den Tabakdampf verdrängt sehen

Der junge Philosoph Kierkegaard hat diese Mode, die auch der dänische König förderte, weil er seinen royalen Gästen Zigarren anbot, schnell adaptiert. So notiert er in seinem Journal im Jahre 1835 bei einem Besuch in Gilleleje: Ebenso wie ich nun bei meiner Ankunft nicht zu befürchten hatte, zum Gegenstand von deren Spott zu werden, denn in einem Menschen mit moderner Kleidung, mit Brille und einer Zigarre im Mund erwarteten sie eher ein Wesen zu finden, das auf dem gleichen Gipfel der Erkenntnis steht wie sie. Und in der fiktiven Welt vom Tagebuch des Verführers widersteht der moderne Don Giovanni allen Verlockungen, wenn er seine Zigarre genießt: sieh dich nur nach mir um, mein Auge folgt dir; rufe und locke mich, das kannst du nicht, die Sehnsucht reißt mich nicht hin, ich sitze hier ruhig am Graben und rauche meine Zigarre. – Ein ander Mal – vielleicht. Und der Kierkegaard Forscher Joakim Garff weiß in seiner hervorragenden 958-seitigen Kierkegaard Biographie sogar einiges über Kierkegaards Tabakkonsum:

Seine faustische Periode hat Kierkegaard einiges gekostet, existentiell wie finanziell. Aus dem in Wolle gezwängten Jüngling, den die Schulkameraden Socken-Sören nannten, entwickelte sich damals ein eitler Dandy, der wie maßgeschneidert zur Spätromantik paßte. Mit Hilfe von Darlehen und Krediten und ganz im Gegensatz zur herrnhutischen Genügsamkeit im Elternhaus hat er sich ungeheure extravagante Marotten angewöhnt. Da gab es einen immensen Konsum an Theatervorstellungen, an philosophischer und ästhetischer Literatur, Cafébesuchen, extravaganten Mänteln (der rotkohlfarbene wird durch einen zitronengelben ersetzt), Hüten, Fiakern, Speisen, Weinen, kistenweise Zigarren der Marken Las tres Coronas und La Paloma mit zugehörigen Futteralen sowie monatlich 500 Gramm Pfeifentabak der venezulanischen Variante Varinas, eine echte, reine und erstklassige Ware, die in Packungen à 6 Rollen in Binsenkörben gestapelt waren. Darüber hinaus figurieren Spazierstöcke, Seidenschals, Handschuhe und anderer Lebensbedarf, darunter etliche Flaschen Eau de Cologne, auf den Rechnungen.

Was wäre Karl Marx (oder Groucho Marx) ohne seine Zigarre? Was wären Sartre und Camus ohne ihre Gauloises? Bei Sartre ist das ja schon pathologisch, bei Camus sieht es aus es aus, als hätte er die Fluppe nur für Cartier-Bresson in den Mund gesteckt. Aber was wäre Kierkegaard ohne seine Coronas? Die Existenzphilosophen von Kierkegaard bis Camus scheinen für den Tabak besonders anfällig zu sein. Heidegger verschmähte die Zigarre nicht, seine zeitweilige Geliebte Hannah Arendt rauchte Zigarren mit Leidenschaft. Da bleibt einem doch nur das schöne Zitat von Tieck: Vielleicht soll sich zu Zeiten der Mensch mehr betäuben, und dann ist es wohl möglich, daß er jenen alten verrufenen blauen Dunst für ein wirkliches Gut hält. Nicht bloß Taback, auch philosophische Phrasen, Systeme, und manches andre wird heut zu Tage geraucht, und beschwert den Nichtrauchenden ebenfalls mit unleidlichem Geruch.

1830 hat Kierkegaard mit dem Studium an der Kopenhagener Universität begonnen. Er ist unsicher, was er werden soll: Was mir eigentlich fehlt, ist, dass ich mit mir selbst ins Reine darüber komme, was ich tun soll, nicht darüber, was ich erkennen soll. Es kommt darauf an, meine Bestimmung zu verstehen, zu sehen, was die Gottheit eigentlich will, dass ich tun solle; es gilt eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit für mich ist, die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will. Und was nützte es mir dazu, wenn ich eine so genannte objektive Wahrheit ausfindig machte; wenn ich mich durch die Systeme der Philosophen hindurcharbeitete. Man kann diese Sätze, die die condition humaine beschreiben, als den Beginn des Existentialismus sehen. Der junge Kierkegaard wird noch fünf Jahre brauchen, bis er sein Studium mit der Magisterarbeit Über den Begriff der Ironie. Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates (hier im Volltext) abschließt. Es musste das Thema Ironie sein, das ihn immer wieder beschäftigt und das ihn 1844 in seinem Tagebuch schreiben läßt: Seit meiner frühesten Kindheit hat ein Pfeil in meinem Herzen gesessen. Solange er dort sitzt, bin ich ironisch – wird er herausgezogen, sterbe ich. 

Kierkegaard ist mit dem Dänemark, in dem er lebt, nicht glücklich. Something is rotten in the state of Denmark. Das steht zwar in Shakespeares Hamlet, aber es könnte auch über dem Werk von Kierkegaard stehen. Das geistige Klima Dänemarks ist nach Kierkegaard vergiftet, und die Kirche ist daran schuld. Sagt Kierkegaard, der Psychoanalytiker der dänischen Gesellschaft. Der den Blick des unschuldigen Kindes bewahrt hat: ich unterhalte mich am liebsten mit Kindern: denn von ihnen darf man doch hoffen, daß sie noch vernünftige Wesen werden. Der keine wirkliche Kindheit gehabt hat, nur die verquasten religiösen Lehren seines Vaters: er hat mich in jeder Hinsicht so unglücklich gemacht wie möglich, hat meine Jugend in eine endlose Qual verwandelt. Der ein Vermögen geerbt hat, und ein großer Dandy ist. Der im rotkohlfarbenen oder zitronengelben Mantel über seinem Buckel die Ströget entlang flaniert. Der auf seinen Storchenbeinen durch Kopenhagen stakst, verfolgt von den nicht so unschuldigen Kindern, die den Philosophen verlachen. Der seine Liebesgeschichte in seine Bücher schreibt, die seinen Namen nicht tragen. Die angeblich von einem Johannes Climacus oder einem Johannes de Silentio sind. Ein Verbalerotiker. Ein verhinderter Don Juan, der seine Empfindungen philosophisch sublimiert. Mancher Philosoph ist durch Frauengeschichten aus seiner Bahn geworfen worden. Seltener ist es, dass einer durch eine Frau überhaupt erst auf die Bahn gerät. Und dies nicht durch eine bedeutende Dame von Welt, sondern durch ein einfaches Bauernmädchen von ganzen fünfzehn Jahren. Eben dies widerfährt Sören Kierkegaard. Denn ohne Regine Olsen wäre er nicht geworden, was er geworden ist, und hätte er nicht geschrieben, was er geschrieben hat.

Reden kann er, der Disputierteufel aus dem Norden, wie sie ihn in Göttingen genannt haben. Und schreiben kann er auch, die Grenzen zwischen Phantasie und Wirklichkeit verwischen sich bei ihm. Die arme Regine Olsen weiß nicht, was sie von all der Schwärmerei halten soll. Immerhin treibt der melancholische Troubadour aus Kopenhagen seine Geliebte nicht in den Wahnsinn wie der melancholische Dänenprinz aus Helsingör die arme Ophelia. Regine wird die berühmteste Frau der Philosophiegeschichte werden. Von Xanthippe mal abgesehen. Verheirate dich, du wirst es bereuen; verheirate dich nicht, du wirst es auch bereuen. Heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen. Verlache die Thorheiten der Welt, du wirst es bereuen; beweine sie, beides wirst du bereuen. Traue einem Mädchen, du wirst es bereuen; traue ihm nicht, du wirst auch dies bereuen. Wohin bringt einen diese Einstellung? Außer meinem sonstigen zahlreichen Umgangskreise habe ich noch einen intimen Vertrauten: meine Schwermut. Mitten, in meiner Freude, in meiner Arbeit, winkt er mir, ruft mich auf die Seite, auch wenn ich dem Leibe nach am selben Flecke bleibe. Meine Schwermut ist die treueste Geliebte, die ich kennen gelernt! Was Wunder, daß ich sie wieder liebe?

Chateubriands Satz Die großen Leidenschaften sind Einsiedler; sie in die Wüste schicken, heißt sie in ihr Reich zurückversetzen stellt er als Motto vor den zweiten Teil von Entweder - Oder. Von großen Leidenschaften und von der Einsamkeit handelt sein Werk. Das vielleicht das Werk eines Philosophen ist, aber auf jeden Fall das Werk eines Dichters. Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der heiße Schmerzen in seinem Herzen trägt, dessen Lippen aber so geartet sind, daß, während Seufzer und Geschrei ihnen entströmen, diese dem fremden Ohr wie schöne Musik ertönen. Es geht ihm, wie einst jenen Unglücklichen, die in Phalaris' Stier durch ein sacht brennendes Feuer langsam gemartert wurden, deren Geschrei nicht bis zu den Ohren des Tyrannen dringen konnte, ihn zu erschrecken: ihm klangen sie wie heitere Musik. Und die Leute umschwirren den Dichter und sprechen zu ihm: »Sing uns bald wieder ein Lied;« das heißt: mögen neue Leiden deine Seele martern, und mögen deine Lippen bleiben, wie sie bisher gewesen; dein Schreien würde uns nur ängsten, aber die Musik, ja, die ist lieblich. Und die Rezensenten treten herzu und sprechen: So ist es richtig; so soll es gehen nach den Regeln der Ästhetik. Nun, das versteht sich, ein Rezensent gleicht einem Dichter auf ein Haar, nur daß er nicht die Pein im Herzen, nicht die Musik auf den Lippen hat. Siehe, darum will ich lieber Schweinehirte sein auf Amagerbro und von den Schweinen verstanden werden, als Dichter sein und von den Menschen mißverstanden werden. Er wird aber nicht Schweinehirte in Amagerbro, er wird Dichter sein und von den Menschen missverstanden werden.

Kurz vor seinem Tode hat Kierkegaards Vater seinen Kindern von der schweren Schuld erzählt, die ihn sein ganzes Leben zu Boden gedrückt hatte. Der Schrecken eines Mannes, der damals als kleiner Junge Schafe auf der jütländischen Heide hütete, unter Hunger und Kälte litt und Gott verfluchte - und dieser Mann war nicht imstande, es zu vergessen, als er 82 Jahre alt war, schreibt Kierkegaard in seinem Tagebuch. In dieser Welt des religiösen dänischen Kleinbürgertums ist nicht alles hyggelig, dawird nichts vergessen und nichts vergeben.

Man hat den Eindruck, daß der junge Theologiestudent eher Betrachter als Teilnehmer ist und selbst nicht soviel zu bereuen hat; man kann sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, daß, während es den Vater ob seiner Jugendsünden, die er bitter bereut hat, gereute, der Sohn bereute, daß er niemals irgend etwas begangen habe, das zu bereuen sich lohnte. Das sagt Joakim Garff in seiner Kierkegaard Biographie. Die eine hervorragende Biographie ist und sicherlich die Biographie von Johannes Hohlenberg aus dem Jahre 1940 ablöst. Und von der neuesten Biographie der Engländerin Clare Carlisle Philosopher of the Heart: The Restless Life of Søren Kierkegaard, die auf deutsch bei Klett-Cotta erschienen ist, nicht annähernd erreicht wird. An Garffs Biographie gibt es gar nichts zu bemängeln. Außer der Tatsache, dass er Harald von Mendelssohn nicht erwähnt. Ist das das kleinbürgerlich spießige Dänentum, das Harald von Mendelssohn in seinem Buch Kierkegaard: Ein Genie in einer Kleinstadt so geißelt? Wenn die Kritiker sich vor Jahren nicht mehr einholen konnten zu betonen, dass Garff in seiner Biographie ein Panorama Dänemarks im 19. Jahrhundert entwirft, ja gut. Das macht er, und er macht es gut. Aber Harald von Mendelssohn hat das schon fünf Jahre vorher gemacht. Und siebenhundert Seiten kürzer. Aber das ist dem Doktor der Theologie Joakim Garff keiner Erwähnung wert. Seltsam.

Harald von Mendelssohn (ein Vetter des Thomas Mann Biographen Peter de Mendelssohn) wurde in Kopenhagen geboren und hat in Dänemark seine Kindheit verbracht, seine Mutter war Dänin, sein Vater Deutscher. Als Jude verfolgt, floh er 1934 von Deutschland nach Dänemark, ohne Papiere, ständig auf der Hut vor der dänischen Fremdenpolizei. Er hat aus dieser Zeit gewisse Ressentiments gegen die Dänen. 1938 ist er nach Schweden emigriert aber nach dem Krieg nach Kopenhagen zurückgekehrt. In einer tiefen persönlichen Krise in den dreißiger Jahren suchte er bei Søren Kierkegaard Halt, er wurde enttäuscht. Denn mir bot Kierkegaards subjektive Wahrheit keinen Ausweg; sie schloß den Fanatismus nicht in dem Maße aus, wie ich es nach meinen Erfahrungen wünschte. Auch schien mir der Widerspruch zwischen seinem Lebenswandel und seinen religiösen Forderungen erheblich. Aber später wurde ihm Kierkegaard ein Freund, den ich nicht aus dem wenn auch kritischen Blick verlor

Und so schrieb er nach seiner Pensionierung dieses sehr persönliche Buch, das wahrscheinlich Søren Aabye Kierkegaard näher kommt als viele andere Bücher. Wenn Ihnen mein Blog heute Appetit auf den dänischen Philosophen macht, dann kann ich ihnen nur raten: kaufen Sie dieses Buch! Gibt es bei ebay ab 3,79 € Das Buch ist bei Klett-Cotta erschienen. Die haben da ein Händchen für gute Autoren. Wie den ganzen Erwin Chargaff, die irrwitzige Solal Romantrilogie von Albert Cohen oder den schönen Roman Byron von Sigrid Combüchen. Vom Gesamtwerk Wilhelm Lehmanns mal ganz zu schweigen. Aber die guten Bücher verkaufen sich nicht, Albert Cohens Meisterwerk Die Schöne des Herrn wird genau so verramscht wie Harald von Mendelssohns Kierkegaard Buch. Ist irgendwie Sünde, aber auch eine Chance für den Leser.

Stendhal hatte 1841 an seinen Freund Domenico Fiore geschrieben, er würde es nicht lächerlich finden, unabsichtlich auf der Straße zu sterben. Nicolas Freeling lässt seinen Kommissar Van der Valk das auch in A Long Silence sagen. Stendhal wird auf der Straße sterben. Kierkegaard stürzt auf der Straße, wahrscheinlich ist es ein Schlaganfall. Er war auf dem Weg zur Bank, um die letzte Rate des vom Vater geerbten Vermögens abzuholen. Wenige Tage später ist er im Königlichen Frederiks Hospital in Kopenhagen. Der Medizinalassistent Harald Krabbe ist noch neu in seinem Beruf. Was er in die Krankenakte schreibt, ist nicht die Sprache eines Mediziniers. Das sind Sätze eines Philosophen: Er kann für seine jetzige Krankheit keinen bestimmten Grund anführen. Er hält die Krankheit für tödlich. Sein Tod ist für die Sache vonnöten. Will er leben, muss er seinen religiösen Kampf fortsetzen, aber der wird ihn ja ermüden, wohingegen er bei seinem Tod seine Stärke erhalten wird und, wie er meint, seinen Sieg. Kierkegaards Vater hatte nicht geglaubt, dass sein Sohn zweiundvierzig Jahre alt werden würde. 1835 waren von seinen Kindern alle drei Töchter und zwei Söhne gestorben. Kierkegaards erstes Buch, das er mit fünfzehn Jahren schreibt, hatte den Titel Papiere eines Überlebenden.

Kierkegaard begleitet mich jetzt seit mehr als einem halben Jahrhundert. Ich brauchte keine existentielle Krise wie von Mendelssohn, um den melancholischen dänischen Philosophen (ich lasse mal den anderen dänischen Melancholiker beiseite: schon 1953 hatte Denis de Rougemont von den beiden dänischen Prinzen gesprochen und den Vergleich zwischen Hamlet und Kierkegaard gesucht) zu lesen. Ich arbeitete mich damals durch mein persönliches Programm Lektüre der Weltliteratur mit Hilfe von Fischers Taschenbuchreihe exempla classica und Rowohlts Rowohlts Klassiker Reihe hindurch. Und bei Rowohlt erschienen Kierkegaards Werke, Der Begriff Angst war 1960 der erste Band der Werkausgabe. 1962 leistete ich mir schon die Tagebücher in der teuren Ausgabe des Eugen Diederichs Verlags. Und im Lauf der Zeit kam immer mehr hinzu. 

Denn er gehört, wie Schopenhauer (dessen Werk er erst kurz vor seinem Tod richtig entdeckte) zu den Philosophen, die man ohne Hilfe von anderen lesen kann. Jeder Leser wird ihn anders verstehen, aber es ist ein Vergnügen ihn zu lesen. Weil er ja eigentlich ein Dichter ist, auch wenn er sagt: Die Dichterexistenz ist darum als solche eine unglückliche Existenz; sie steht über der Endlichkeit und erhebt sich doch nicht zur Unendlichkeit. Es gibt gute Einführungen, wie zum Beispiel How to Read Kierkegaard von John D. Caputo (aus dem englischen Granta Verlag) oder der Band Sören Kierkegaard zur Einführung von Konrad Paul Liessmann, der in dieser vorzüglichen Reihe Zur Einführung des Hamburger Junius Verlags erschienen ist. Und Walther Rehms Kierkegaard und der Verführer mag ich sehr, weil ich alle Schriften von Rehm mag. Auch wenn sein Kierkegaard Buch sechshundertzwanzig Seiten lang ist.


Aber man kann sich auch Entweder - Oder nehmen und anfangen zu lesen. Ich gerate dabei immer ins Träumen und denke an den schönen Sommer oben in Jütland (da wo der kleine Michael Pedersen Kierkegaard in seiner Not seinen Gott verfluchte), wo der Wind über die einsame Heide fegte und ich diese schöne Frau zu gewinnen suchte. Und ihr massenweise Zitate aus dem Tagebuch des Verführers in die Liebesbriefe schrieb - wofür man Kierkegaard nicht alles gebrauchen kann, wenn man achtzehn ist! Sie können sich auch zur Einstimmung mal eben das wunderschöne alte dänische Lied anhören, wie Maggie es nachts in ihrer Küche singt. Und dann Kierkegaard lesen. 

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