Sonntag, 16. Januar 2011

Sigrid Combüchen


Sie hat heute Geburtstag, und ich möchte es nicht versäumen, herzliche Glückwünsche nach Lund in Schweden zu schicken. Ihren Roman Byron habe ich vor Jahren im Grabbelkasten eines Antiquariats gefunden. Hat mich 2,50 DM gekostet und er war, neben Erwin Einzingers Blaue Bilder über die Liebe, das schönste Leseerlebnis seit vielen Jahren. Über den Österreicher Erwin Einzinger werde ich gerne noch einmal schreiben. Wenn es mir gelungen ist, die Lektüre von Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik endlich zu beenden. Das ist nicht so einfach, weil das Lesen ständig durch Lachanfälle unterbrochen wird. Aber über die Schwedin aus Solingen da kann ich heute schreiben, weil sie Geburtstag hat. Sie ist ein Jahr jünger als Faye Dunaway, die hier vorgestern zu sehen war. Schauen Sie sich doch einmal Sigrid Combüchen im schwedischen Fernsehen an. Tausend Fältchen, viele Lachfältchen. Ein Gesicht, wie das Leben es prägt, keine künstliche Maske aus den Laboren von Max Factor und aus den OP-Sälen amerikanischer Schönheitschirurgen.

Sigrid Combüchen ist in Solingen geboren, aber 1948 ist sie mit ihren Eltern nach Schweden ausgewandert. Obgleich sie Deutsch als ihre Muttersprache bezeichnet, spricht und schreibt sie heute Schwedisch. Auch ihren Roman Byron hat sie auf Schwedisch geschrieben, übersetzt wurde er ins Deutsche von Sven Gunnar Feldstein. Aber ich nehme mal an, sie hat die Übersetzung durchgelesen, bevor Klett-Cotta das 1991 druckte. Ins Englische wurde der Roman von Joan Tate übersetzt. Es gibt den Roman auch in französischer Übersetzung (Übersetzerin: Elena Balzamo) und noch in anderen Sprachen (Dänisch: Annelise Malmgren; Holländisch: Karts Woudstra), man kann schon von einem Welterfolg sprechen. Sigrid Combüchen, die mit siebzehn ihren ersten Roman schrieb (Ett rumsrent sällskap), ist vielleicht in Deutschland nicht so bekannt (obgleich man in Solingen stolz auf sie ist), aber in Schweden ist sie eine wirkliche Größe in der Literatur. Ich lasse mal den Selma Lagerlöf Preis und die vielen anderen Preise aus, aber den August-Preis im letzten Jahr für Spill. En damroman, den muss man erwähnen. Mehr kann man in Schweden nicht bekommen. Aber das scheint mir nicht genug an Anerkennung für diese Autorin zu sein. Der deutsche Wikipedia Eintrag ist mal gerade eben vier Zeilen lang, und in den Supplementband 21 von Kindlers Neues Literatur Lexikon hat sie es auch nicht geschafft. Wenn mir das damals jemand gesagt hätte, ich hätte sofort den Byron Artikel geschrieben statt über einen amerikanischen Autor zu schreiben.

Byron ist, wenn man so will, ein historischer Roman. Aber nicht nach dem Strickmuster von Sir Walter Scott, der Roman ist eher mit Thomas Pynchons Mason & Dixon oder John Fowles' The French Lieutenant's Woman zu vergleichen, experimentell, postmodern. Das merkt man schon auf der ersten Seite, die Epilog überschrieben ist. Normalerweise steht das auf der letzten Seite. Von Zeit zu Zeit ordnet die Autorin das ausufernde Erzählen, so beginnt das Kapitel Und alle Löwen Londons mit den Sätzen: Es ist Sonntag im Park. Nachdem sie vorweg gelaufen ist, um wie ein losgelassener Hund an diesem und jenem hinter der nächsten Straßenecke herumzuschnuppern, kehrt die Geschichte jetzt zu ihrer Herrin zurück, der Chronologie. Das ist bezaubernd gesagt. Der Leser ist manchmal wie erschlagen von dem Meer brillanter Formulierungen und witzigen Aperçus, wie ein schwedischer Kritiker es formulierte.

Die Geschichte neigt dazu, immer wieder fortzulaufen, weil es mehrere Ebenen gibt. Zum einen ist da die kleine Schar von Byron Verehrern, die sich im England des Jahres 1938 darauf vorbereiten, den 150. Geburtstag des Dichters zu feiern. Was die Mitglieder dieser ein klein wenig exzentrischen Gruppe aus dem Leben Byrons vorzutragen haben, hat sich die Autorin in Jahren der Lektüre, des Vergessens und von Wanderungen zu den europäischen Orten, an denen sich Byron aufgehalten hat angeeignet. Und in all diesen kleinen Binnenerzählungen tritt ein immer wieder neuer Lord Byron auf die Bühne. Wie die Autorin das handhabt, historisch Belegtes mit witzig Erfundenem zu mischen, auch wenn sie den Hund der Erzählung von Zeit zu Zeit an die Leine nehmen muss, ist schon großartig. Aber noch großartiger ist die Sprache des Romans. Man hat das Gefühl, dass hier eine Dichterin am Werk ist, die zum ersten Mal die Prosa entdeckt hat, es aber nicht vergessen kann, dass sie eigentlich Dichterin ist. Manchmal werden diese atmosphärisch verdichteten Momente der Beschreibung dem Leser schon etwas zu viel. Aber vielleicht liegt das auch daran, dass wir es gewöhnt sind, dass unsere Sprache peu à peu so verarmt, dass wir angesichts einer solchen Bilderflut nur staunen können. Das einzige, was uns alle zu Genies macht, ist ein bezwingender Rhythmus, heißt es an einer Stelle des Romans über Byron. Und den Rhythmus des Genies, den hat die Autorin.

In der Mitte des Romans steht eine bemerkenswerte Schilderung der Schlacht von Waterloo. Die findet - in dem Kapitel Die Untiefen ertrinken vor den Tiefen, in dem auch schon Luftschutzräume und ein bevorstehender Krieg eine Rolle spielen - in der Dorfkneipe statt. Wo einige der Byron Verehrer mit Hilfe der Tischplatte, einer Spalte darin sowie zwei Brieftaschen, einigen Gläsern, einer Flasche, die hin und her gerollt wurde, und einer Hand, die sich ab und zu um Gläser und Brieftaschen schloß, die Schlacht von Waterloo nachstellten. In dem Buch des Militärtheoretikers John Keegan The Face of Battle sieht die vielleicht ein wenig anders aus, aber es ist eine unvergessliche Szene. Zumal die Schlacht immer wieder durch das wirkliche Leben im Pub unterbrochen wird. So haben wir am Ende nicht nur Pulverdampf und Rauch über dem Schlachtfeld, sondern auch im Pub herrscht dichter Rauch: Ein Gast hatte gedankenverloren seine Pfeife angezündet und das glühende Streichholz in die Tasche zurückgesteckt. Alles begann zu brennen: die Hosentasche des Herrn und sein Taschentuch, das er wie eine wirkungslose weiße Fahne herausgezogen hatte, das Glas mit Rum, das plötzlich platzte und kleine hellblaue Alkoholflammen zur Tischkante züngeln ließ. Feuer hat etwas Dämonisches an sich.

Dieser Nachsatz Feuer hat etwas Dämonisches an sich ist ebenso wie die wirkungslose weiße Fahne des Taschentuchs etwas, womit die Autorin immer wieder verblüfft. So sehr mich das fasziniert, muss ich an dieser Stelle mal eben etwas mäkeln: der Herzog von Wellington hat in der Schlacht von Waterloo nicht die königliche Uniform wie sein Stab getragen. Er trug einen blauen Frack und ein blaues Cape. Das sollte man bei Klett-Cotta bei der nächsten Auflage unbedingt ändern. Die es hoffentlich einmal geben wird. Hombre, wenn Du das hier liest, ruf Deine ehemaligen Kollegen im Verlag an und sag ihnen, dass Byron unbedingt wieder aufgelegt werden muss! Die dürfen dann auch diesen Post zu Werbezwecken verwenden! Falls Sie, meine Leser, nicht so lange warten wollen - denn vielleicht muss man doch bis zum Sankt Nimmerleinstag warten - kaufen Sie doch einfach die restlichen Exemplare beim ZVAB und bei Amazon Marketplace auf. Sie werden das nicht bereuen.

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