Samstag, 22. Januar 2011

Victoria


Heute vor 110 Jahren ist die englische Königin Victoria gestorben. Als John Bernard Books das in der Zeitung liest, weiß er, dass auch er bald sterben wird. Obgleich Books kein Untertan Ihrer Majestät ist, berührt ihn der Tod der Königin von England und Kaiserin von Indien doch. John Bernard Books ist der Held des Filmes The Shootist, und er wird verkörpert von John Wayne. Der in diesem Spätwestern ein Relikt aus einer anderen Zeit spielt, so wie Victoria bei ihrem Tod ein Relikt aus einer anderen Zeit war. John Wayne hatte eine ähnliche Rolle schon in True Grit gespielt. Damals sagte Leslie Fiedler über den Duke - und das gilt sicher auch für The Shootist:

Aber der Film von John Wayne, dieser schöne komische Film, wo er mit dem jungen Mädchen spielt, 'True Grit', das ist wirklich ein wunderbarer Film, denn erstens sehen wir hier nicht einen jungen Gunfighter oder jungen Cowboy, sondern einen alten Mann in dieser Periode seines Lebens, wo er nicht sicher ist, ob er mit einem Pferd über einen Zaun springen kann, und zweitens wird diese Rolle ausgerechnet von John Wayne gespielt, und der Film wird zu einer Parabel des Lebens von John Wayne, dieser elenden reaktionären Kanaille, die das Image des Westens auf die Leinwand projiziert hat und der nun zum ersten mal seine Rolle mit Humor spielt, als Selbstparodie, als Travestie seiner eigenen Figur. Das ist sehr zart, sehr schön, sehr komisch. Dieser Film hat mich tief gerührt.

Nach dem Tod von Victoria trauert das Land. Wenn die Engländer unter Victoria eins gelernt haben, dann ist es das Trauern. Als ihr geliebter Prinzgemahl Albert stirbt, trauert die Königin für drei Jahre. Ein Jahr weniger wird sich für alle Witwen als die Norm durchsetzen, manche tragen ihre Trauerkleidung fünf Jahre. Andere ihr Leben lang. Wie Victoria. Im 19. Jahrhundert, das in England auch das Victorian Age genannt wird, wird immer getrauert, Kinder sterben früh, irgendeinen Trauerfall gibt es immer in der Familie. Von den vielen Soldaten, die für das immer größer werdende Empire ihr Leben lassen, wollen wir gar nicht reden.

Und es gibt ein rigides System von Äußerlichkeiten, die zu beachten sind. Wenn getrauert wird, werden selbst Kleinkindern schwarze Fäden in die Unterwäsche genäht. Fabrikanten von Trauerkleidern und machen jetzt riesige Geschäfte. Samuel Courtauld zum Beispiel, der als Seidenfabrikant angefangen hat. Sein Name wird eines Tages für einen der größten Chemiekonzerne der Welt stehen, aber auch für eins der wichtigsten kunsthistorischen Institute der Welt. Wenn man all die viktorianischen Bekleidungsvorschriften für den Trauerfall beachten will, braucht man ständig neue Kleidung, was bei der working class häufig zur Verschuldung führt. Gegen Ende des Jahrhunderts setzt das Parlament sogar eine Kommission ein, die Vorschläge gegen die exzessive Trauerkultur erarbeiten soll.

Die Viktorianer geben nicht nur für Trauerkleidung viel Geld aus. Wenn man den Statistiken von Mrs C.S. Peel  (Constance Dorothy Evelyn Peel [née Bayliff]) in ihrem Kapitel Homes and Habits in dem Buch Early Victorian England Glauben schenken kann, geben Unter- wie Oberschicht gleichermaßen verhältnismäßig viel Geld für Kleidung aus. Die einen, um ihren Status in der jetzt entstehenden Dreiklassengesellschaft zu zeigen, die anderen um bei dem Spiel dabei zu sein, das den Namen hat keeping up with the Joneses.

In der viktorianischen upper class führt die Farbe Schwarz für die Damenwelt zu immer neuen Varianten, Kunstseide und Industriefarben bieten jetzt immer neue Möglichkeiten. Denn normalerweise war das keine Farbe für eine Dame, schwarz war etwas für das Dienstpersonal und die Gouvernante. Jane Eyre, die im gleichnamigen Roman normalerweise einen black stuff dress trägt, zieht bei besonderen Gelegenheiten one of a black silk an. Der Amtsantritt der Königin markiert in der Herrenmode - und das ist sicherlich eher ein Zufall - einen mehr oder weniger abrupten Wechsel der Gentlemen zur Farbe schwarz. Die blauen, braunen und grünen Fräcke verschwinden, respectability heißt das viktorianische Zauberwort. Und die kann der Gentleman nur in schwarzer Kleidung und mit weißer Hemdbrust ausstrahlen. Die vielen kleinen clerks in den Romanen von Charles Dickens wechseln ihr weißes Hemd nicht jeden Tag, und ihr schwarzer Anzug sieht schon etwas schäbig aus, aber sie bemühen sich, respectable zu sein und ein Abbild des Gentleman abzugeben. Die Verkäufer bei P+C, einem Konzern, der von einer calvinistischen Familie kontrolliert wird, halten sich noch immer an dies Ideal.

Die Viktorianer erschienen der Krämerstochter, die es zur Premierministerin gebracht hatte, das richtige Vorbild für die Nation zu sein. Immer wieder predigte sie öffentlich die Victorian values. Das war auch der Titel des Buches des Historikers James Walvin (der einzige Geschichtsprofessor, der ein Buch über den englischen Fußball geschrieben hat). Da sehen bei einer genauen Betrachtung die Victorian values nicht so toll aus. Prüderie und Prostitution (brillant beschrieben in Ronald Pearsall The Worm in the Bud), Wohltaten und Ausbeutung, Savile Row und sweatshops, Oberschicht und Unterwelt.

Wer immer diesen Satz Sie sagen Gott und meinen Kattun zuerst formuliert hat, er hängt den Engländern an. Samuel Courtauld (der mit der Marotte der Königin schwarz zu tragen so reich geworden ist) gilt in der viktorianischen Zeit als jemand, der allen Reformen aufgeschlossen gegenübersteht. Aber gegen den Factory Act von 1833 da ist er schon ganz entschieden: Legislative interference in the arrangement and conduct of business is always injurious, tending to check improvement and to increase the cost of production. Bevor Sie jetzt sagen, dass das auch im Parteiprogramm derjenigen steht, die schwarze Anzüge mit gelben Schlipsen kombinieren, sollte ich vielleicht sagen, dass der Factory Act etwas mit der Kinderarbeit zu tun hatte. Und mit der Kinderarbeit in seinen Fabriken macht Cortauld sein Geld.

Bevor wir jetzt die Viktorianer verdammen, sollten wir bedenken, es hat sich nicht so viel geändert. Die Zeit hat letztens den Weg eines Hennes&Mauritz T-Shirts für 4,95 € nachverfolgt. Falls Sie es verpasst haben, dann sollte Sie dies doch mal schnell lesen. Falls Sie sich aber schon vor einem Jahrzehnt Naomi Kleins No logo gekauft haben, können Sie sich die Lektüre sparen. A propos Lektüre, die großartige Biographie zu Victoria ist auch noch nicht geschrieben, vielleicht ist diese Queen auch zu langweilig. So taugt sie gerade als als Namensgeberin eines Zeitalters und eines Passagierschiffes. Die Biographien von Karl-Heinz Wocker, Stanley Weintraub und Herbert Tingsten sind ganz nett, und auch den Band von Jürgen Lotz in der Reihe von rowohlts monographien kann man lesen. Aber das ist ja nichts im Gegensatz zu der zum Teil brillanten Literatur zum viktorianischen Zeitalter. Wenn ich mal viel Zeit habe und mir nichts anderes einfällt, stelle ich die hier vor. Und solange müssen Sie mit dem hervorragenden Victorian Web vorliebnehmen.

John Bernard Books stirbt in The Shootist kurz nach der Königin Victoria. John Wayne stirbt wenige Jahre nach diesem Film. Viele werden seinen Tod betrauern. Victoria hatte das Leben ihrer Untertanen bestimmt, John Wayne die Träume seiner Fans. He determined for ever the shape of certain of our dreams hat Joan Didion in John Wayne: A Love Song gesagt. Der Essay ist das Schönste, was über John Wayne geschrieben wurde. Man kann ihn in Slouching towards Bethlehem lesen, oder hier im Independent... it was there, that summer of 1943 while the hot wind blew outside, that I first saw John Wayne. Saw the walk, heard the voice. Heard him tell the girl in a picture called 'War of the Wildcats' that he would build her a house, 'at the bend in the river where the cottonwoods grow'.
   As it happened I did not grow up to be the kind of woman who is the heroine in a Western, and although the men I have known have had many virtues and have taken me to live in many places I have come to love, they have never been John Wayne, and they have never taken me to that bend in the river where the cottonwoods grow. Deep in that part of my heart where the artificial rain forever falls, that is still the line I wait to hear.


1 Kommentar:

  1. Lieber Jay,

    gestern Abend hörte ich einen wunderbaren Vortrag über die Dresscodes im Wien der Ringstraßenzeit, also zwischen 1857 und 1914. Trauerkultur war auch in Wien ein wichtiges Thema, das ist aber auch nicht weiter verwunderlich. Toll aber, wie ihr Post dieses Thema weiterführt. Allgemein finde ich interessant und spannend zu lesen, wie sie sich mit Mode auseinandersetzen.

    Beste Grüße aus Berlin

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