Dienstag, 15. Mai 2012

Arthur Schnitzler


Aber wenn Du nun, Liebste, zu "Professor Bernhardi" gehst, so ziehst Du mich an jenem zweifellosen Strick eben mit und es ist die Gefahr, dass wir beide in die schlechte Literatur verfallen, die Schnitzler zum größten Teil für mich darstellt. Um uns nun aber davor zu bewahren, hatte ich die Pflicht, dem Zug des Strickes nicht ganz nachzugeben, sondern zu Hidalla zu gehn, um Dich ein wenig von dem "Professor" abzuhalten, ein wenig wahre, gut geschnittene Wedekindsche Worte Deinem für "Professor Bernhardi" klopfenden Herzen zukommen zu lassen und die Schnitzlerischen Eindrücke, die zu mir heute abend herüberwehn und die ich gierig aufnehme, weil sie von Dir, Liebsten, kommen, ohne Schaden der Seele zu ertragen. Denn ich liebe den Schnitzler gar nicht und achte ihn kaum; gewiß kann er manches, aber seine großen Stücke und seine große Prosa sind für mich angefüllt mit einer geradezu schwankenden Masse widerlichster Schreiberei. Man kann ihn gar nicht tief genug hinunterstoßen. Die Stücke, die ich von ihm gesehen habe (Zwischenspiel, Ruf des Lebens, Medardus) sind mir noch vor dem zuschauenden Blick vergangen, und während ich zuhörte, habe ich sie vergessen. Nur vor seinem Bild, vor dieser falschen Verträumtheit, vor dieser Weichmütigkeit, an die ich auch mit den Fingerspitzen nicht rühren wollte, kann ich verstehn, wie er aus seinen zum Teil vorzüglichen anfänglichen Arbeiten (Anatol, Reigen, Leutnant Gustl) sich so entwickeln konnte.

Der hier sein Missfallen über Arthur Schnitzler äußert, heißt Franz Kafka. Ich habe schon vor einem ➱Jahr gestanden, dass er definitiv nicht zu meinen Lieblingsautoren gehört. Ich wiederhole das gerne noch einmal:

Als ich, um meine Mutter nicht zu enttäuschen, eine Dissertation schreiben sollte, blieb mir nichts anderes übrig, als über den Autor zu schreiben, der mich während meiner Studentenjahre gehindert hatte, andere Autoren wirklich zu lesen: Franz Kafka. Aber als ich über ihn schreiben wollte, stellte sich heraus, daß ich ihn nicht verstanden hatte. Mit diesem charmanten Geständnis beginnt der sehr lesenswerte kleine Band von Martin Walser Des Lesers Selbstverständnis: Ein Bericht und eine Behauptung. Der macht jedem Leser Mut, man kann auch ohne Kafka durchs Leben kommen. Ich hatte einmal eine schwere Kafka Phase, aber ich habe sie schnell überwunden. Sie hat mich nicht gehindert, andere Autoren wirklich zu lesen. Nachdem ich in Hamburg Walter H. Sokels Vorlesung über Kafka, Musik und Broch gehört hatte, habe ich meine schöne Vorlesungsmitschrift sorgfältig weggelegt, das war's. Ich habe später noch Klaus Wagenbach über Kafka gelesen, aber wenn ich eine Top Ten Liste der Literatur aufstellen sollte, Kafka wäre da nicht drauf. Aber so einfach wie ich hat Walser den unseligen Einfluss von Kafka nicht abschütteln können, noch sein erstes Werk Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten erinnerte alle Rezensenten an Kafka. Ein Kafka Schüler kämpft sich frei, schrieb Hans Egon Holthusen. Glücklicherweise für mich als Leser hat Walser dann aber irgendwann den Einfluss Kafkas abgestreift.

Aber ich mag Schnitzler, das will ich an seinem 150. Geburtstag auch gerne gestehen. Manchmal verwechsle ich Schnitzler auch mit Joseph Roth, den ich auch sehr mag. Das liegt daran, dass ich mal eine schlimme k.u.k.-Phase hatte und alles von Arthur Schnitzler und Joseph Roth hintereinander weg gelesen habe. Und natürlich hat der Leutnant Gustl Ähnlichkeiten mit all diesen Untergehern bei Joseph Roth. Das schöne Wort Untergeher habe ich mir natürlich bei Thomas Bernhard geborgt, ich bleibe mal bei den Österreichern und ihrem Schmäh. Aber Joseph Roth hat über Schnitzler nichts Böses gesagt, er verdankt ihm viel. Denn in gewisser Weise ist Radetzkymarsch die Fortsetzung von Leutnant Gustl mit anderen Mitteln.

Diese österreichischen Leutnants - wenn sie nicht gerade Romane wie Robert Musil oder schwer verständliche philosophische Bücher schreiben wie Ludwig Wittgenstein - sind ja in der Literatur bei Schnitzler und Roth gut aufgehoben. Irgendwann schaffen sie es auf die Leinwand (Schnitzler wurde ja schon früh verfilmt) und heißen Rudolf Prack. Dann ist das Thema natürlich tot. Vieles von Schnitzler ist verfilmt worden, ich weiß nicht, wieviele Verfilmungen von Der Reigen es gibt. Außer der von Max Ophüls dürfte es ja keine mehr geben, aber ich habe auch mal eine mit Jane Fonda gesehen.

Bei manchen Sachen ist es besser, dass man sie liest, wenn die falschen Schauspieler im Film sind, ist alles hin. Wie hieß noch mal der kleinwüchsige amerikanische Schauspieler in dieser amerikanischen Ausstattungsorgie, die eine Verfilmung von Schnitzlers Traumnovelle sein soll? Manchmal wünschte ich mir, die Regisseure würden die Finger von der Literatur lassen. Ich weiß noch, dass unser Klassenlehrer Hermann Bollenhagen uns in der ersten Klasse des Gymnasiums die Gefahren der Literaturverfilmung am Beispiel von Ruth Leuwerik erläuterte. Die wäre denn heute auch mein abschreckendes Beispiel für eine Verfilmung von Das weite Land. Wir lassen jetzt mal die Verfilmungen beiseite, uns reicht die Literatur. Man kann auch alle Theaterstücke von Schnitzler als Lesedramen lesen und sie in der eigenen Phantasie aufführen.

Wie lang' wird denn das noch dauern? Ich muß auf die Uhr schauen... schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer sieht's denn? Wenn's einer sieht, so paßt er gerade so wenig auf, wie ich, und vor dem brauch' ich mich nicht zu genieren... Erst viertel auf zehn?... Mir kommt vor, ich sitz' schon drei Stunden in dem Konzert. Ich bin's halt nicht gewohnt... Was ist es denn eigentlich? Ich muß das Programm anschauen... Ja, richtig: Oratorium! Ich hab' gemeint: Messe. Solche Sachen gehören doch nur in die Kirche! Die Kirche hat auch das Gute, daß man jeden Augenblick fortgehen kann. – Wenn ich wenigstens einen Ecksitz hätt'! – Also Geduld, Geduld! Auch Oratorien nehmen ein End'! Vielleicht ist es sehr schön, und ich bin nur nicht in der Laune. Woher sollt' mir auch die Laune kommen? Wenn ich denke, daß ich hergekommen bin, um mich zu zerstreuen... Hätt' ich die Karte lieber dem Benedek geschenkt, dem machen solche Sachen Spaß; er spielt ja selber Violine. Aber da wär' der Kopetzky beleidigt gewesen. Es war ja sehr lieb von ihm, wenigstens gut gemeint. Ein braver Kerl, der Kopetzky! Der einzige, auf den man sich verlassen kann... Seine Schwester singt ja mit unter denen da oben. Mindestens hundert Jungfrauen, alle schwarz gekleidet; wie soll ich sie da herausfinden? Weil sie mitsingt, hat er auch das Billett gehabt, der Kopetzky... Warum ist er denn nicht selber gegangen? – Sie singen übrigens sehr schön. Es ist sehr erhebend – sicher! Bravo! Bravo!... Ja, applaudieren wir mit. Der neben mir klatscht wie verrückt. Ob's ihm wirklich so gut gefällt? – Das Mädel drüben in der Loge ist sehr hübsch...


Das ist der Anfang von Lieutenant Gustl (so der Originaltitel), muss man gelesen haben. Zum ersten Mal in der deutschen Erzählliteratur der Strom der Gedanken eingefangen. Gleichzeitig mit dieser Novelle erscheint Freuds Werk über die Traumdeutung, von nun an werden Roman und Psychoanalyse immer mehr miteinander verwoben werden. Aber solch ein Psychogramm eines k.u.k. Leutnants schreibt man im Jahre 1900 in Wien nicht ungestraft. Der Oberarzt der Reserve Dr. Arthur Schnitzler wird aus dem Offizierscorps ausgestoßen. Auf der Bescheinigung seiner Dienstzeit hat er den Dienstgrad Sanitätssoldat, sein Doktortitel wird da nicht erwähnt. Und das in einem Land, in dem beinahe jeder mit einem Titel angeredet wird. Dieser Militärgerichtsprozess hat etwas von dieser österreichischen Kleinlichkeit und Nickeligkeit an sich, die einen - wie vieles andere - verstehen lässt, weshalb Thomas Bernhard das Land so hasste. Bernhard und Schnitzler haben etwas gemeinsam, sie waren in ihrer Zeit die meistbeschimpften Schriftsteller Österreichs. Da kann man Joseph Roth schon verstehen, dass er sich in Paris zu Tode gesoffen hat.

Die Militärgerichtsbarkeit hat die Novelle Lieutenant Gustl schon richtig verstanden, es steckt eine Gefahr in dieser Beschreibung eines österreichischen Leutnants. Dies ist nicht die wehmütige Verherrlichung der Offizierswelt der k.u.k Armee wie sie Joseph Roth entwirft (der nur in seiner Phantasie ➱Leutnant geworden ist), dies ist Sprengstoff. In der Frage Wie lang' wird denn das noch dauern? steckt auch die Frage nach dem Ende der Donaumonarchie. Bei Joseph Roth hat das Ende einen Namen und heißt Kapuzinergruft.

Leseempfehlungen: Leutnant Gustl und Eine Jugend in Wien. Und dann der hervorragende Band Arthur Schnitzler: Sein Leben und seine Zeit. Herausgegeben von Heinrich Schnitzler, Christian Brandstätter und Reinhard Urbach (S. Fischer 1981), es gibt noch Reste bei Amazon Marketplace.

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