Donnerstag, 8. Juli 2010

Germanisten


Der pensionierte Kieler Professor ➱Reimer Bull hat mir vor Tagen eine wunderbare kleine Geschichte erzählt, die wirklich sehr komisch war. Als ich ihn fragte, ob ich die in meinen Blog schreiben dürfte, hat er mir das sofort erlaubt. Reimer Bull hat in Kiel bei Karl Otto Conrady promoviert. Über ➱Arno Schmidt, das war 1969 geradezu revolutionär. Mit Conrady war die neue Zeit nach Kiel gekommen, sein Buch Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft (1966 bei Rowohlt) läutete eine neue Phase der deutschen Germanistik ein. Conrady war auch in der SPD und sogar kurze Zeit im schleswig-holsteinischen Landtag. Ich war ehrlich gesagt damals von ihm ein wenig enttäuscht, denn er trug spitze Schuhe und silbrigblau glänzende Anzüge, die bestimmt aus Trevira waren. Da ging ich lieber zu Erich Trunz in die Vorlesungen, der zwar ein wenig betulich war, aber gute Schneideranzüge und gute Schuhe trug. Vielleicht ist das eine etwas oberflächliche Kategorie, um sich seinen Professor auszusuchen, aber die äußere Erscheinung von Conrady und Trunz symbolisierte zwei grundverschiedene Generationen der deutschen Germanistik.

Als Helmut Schmidt einmal ein Goethezitat für eine Rede suchte (und das war in den Tagen vor dem Computer und vor Google), rief er Trunz in Kiel an, der überhaupt nicht irgendwo nachgucken musste, sondern dem Politiker sofort sagte, wo das Zitat stand. Denn Trunz war der Goethe Trunz, der Mann, der die Hamburger Ausgabe von Goethes Werken beinahe eigenhändig gemacht hatte. Er hat auch nach seiner Emeritierung eine Vielzahl von Büchern geschrieben, von denen Ein Tag aus Goethes Leben (1999) ein kleiner Bestseller wurde.

Der Schüler des berühmten Julius Petersen wäre für mich das Vorbild eines Gelehrten, wenn da nicht die Parteimitgliedschaft in der NSDAP gewesen wäre. Er hat, das sei zu seiner Ehrenrettung gesagt, nichts zur Gleichschaltung der deutschen Germanistik beigetragen wie sein Lehrer Julius Petersen. Oder wie sein Kollege Benno von Wiese. Der, ein überzeugter Nazi der ersten Stunde, war für die mit ihm befreundete Hannah Arendt ein Grund für ihre Emigration. In seiner Autobiographie sieht Benno von Wiese das alles natürlich ganz anders (und geizt auch nicht mit gehässigen Bemerkungen in Richtung Trunz), es ist phantastisch, wie sich der Großordinarius der sechziger Jahre seine Welt zurechtschludert. 1965 hatte er sich für seinen Kollegen Hans Schwerte statt für den linksliberalen Peter Szondi als Professor in Aachen stark gemacht. Der ehemalige SS Offizier aus Himmlers Ahnenerbe hieß aber gar nicht Hans Schwerte, wie 1995 nach studentischen Recherchen herauskam. Er musste sein Bundesverdienstkreuz zurückgeben, verlor seinen Professorentitel und musste sogar seine Pension an den Staat zurückzahlen. Das ist wenigen Altnazis unter den Germanistikprofessoren passiert.

Also, mit diesen Leuten hat Erich Trunz nichts am Hut gehabt, er war ein wenig eigentümlich und manchmal nicht ganz von dieser Welt, aber er wirkte immer sehr vornehm, wie man sich einen Goetheforscher eben so vorstellt. Mit den Nazis hatte Conrady (Bild) natürlich überhaupt nichts zu tun, weil er aus einer ganz anderen Generation kam, und gerade mal als Pimpf beim Kriegsende in Uniform Morgenfeiern inszenierte, in denen er Goethe vorlas: So vermochten wir Literaturfreunde in der Pimpfenkluft uns sogar in den marschierenden Jugendkolonnen und bei den Geländespielen goethenah vorzukommen. Auch so kann man zu Goethe kommen. Seinem ehemaligen Kieler Kollegen Erich Trunz hat Conrady dann später noch Konkurrenz gemacht und auch dicke Bücher über Goethe geschrieben. Seine Gedichtsammlung, bekannt als Der Große Conrady, ist inzwischen zu einem Klassiker geworden. Und ich nehme mal an, dass er heute auch nicht mehr diese winklepickers und diese Glitzeranzüge trägt.

Sein ehemaliger Doktorand Reimer Bull ist dann auch Professor für Deutsche Literatur geworden, er ist (wie hier auf dem Photo) mit der gelben Tattersall Weste immer sehr englisch gekleidet. Er ist nicht beim Thema seiner Doktorarbeit geblieben, obgleich man in den sechziger Jahren auch mit der Arno Schmidt Forschung hätte Karriere machen können. Er hat sich auf seine Dithmarscher Wurzeln besonnen und ist Fachmann fürs Plattdeutsche geworden, in gewisser Weise ein Nachfolger von Ivo Braak. Er ist auch in Schleswig Holstein (und dank des Norddeutschen Rundfunks und der vielen CDs wohl auch darüber hinaus) bekannt wie ein bunter Hund, weil er wunderbar plattdeutsche Döntjes vorträgt oder Klaus Groth vorliest. Da kommt nämlich in ihm etwas aus seiner Münchener Studienzeit durch, wo er mehr Zeit in Kleintheatern und Cabarets verbracht hat als im Hörsaal. Denn heimlich ist der Kulturpreisträger des Kreises Dithmarschen, der auch Siegfried Lenz ins Plattdeutsche übersetzt hat, eigentlich Schauspieler.

Und was soll der Papstpalast von Avignon jetzt hier? werden Sie sich fragen. Gemach, hier fängt die kleine Geschichte an. Also wir sind in Avignon, wo man bekanntlich auf der Brücke tanzt. Und der Professor Reimer Bull ist als Tourist hier, und wie ich ihn kenne, auch ordentlich gekleidet. Und er bewundert den Papstpalast, wie die Touristen da im Vordergrund des Bildes. Und da hört er plötzlich ganz laut seinen Namen, und dann vernimmt er statt des ganzen welschen Geschwätzes um sich herum plötzlich wohlvertrautes Plattdeutsch. In Avignon. Und er dreht sich um und sieht ---  einen baumlangen schwarzen Amerikaner. Der das reinste Plattdeutsch der Welt spricht. Und nun unterhalten sich zwei Herren vor dem Papstpalast von Avignon eine halbe Stunde auf Platt. Einer aus Dithmarschen, der andere aus Massachusetts, un de snakt platt.

Der dunkelhäutige Herr, der ein wenig wie Harry Belafonte aussieht, ist auch Hochschullehrer. Er heißt Marron Curtis Fort, und trotz der einwandfreien Sprachbeherrschung kommt er nicht etwa aus dem Oldenburgischen, er kommt aus Boston. Hat in Princeton studiert, danach an der University of Pennsylvania (nicht zu verwechseln mit der Penn State University), hier hat er seine Doktorarbeit geschrieben, über das, was sie in Vechta so sprechen. Danach hat er sich auf das Saterfriesische spezialisiert. Falls Ihnen das jetzt nicht so geläufig sein sollte, gebe ich hiervon doch mal eben ein kleines Beispiel:

Klaasoom, Börkums hoogste Fierdag, is en hail olde Fier. Um Teetied gaan de Jungens van de Börkumer-Jungs-Verein, so wardde uns Kinder verteld, na de grote Kaap, um de Klaasoom uuttaugraven. De Lü kriegen hum man eerst in 't Dörphotel tau sain. De Fier fangt an de fiefde Deetsember avends um fief Üür an. Dat gift lütje, middel un grote Klaasooms, van elke twääij Stük, un de baide grote Klaasooms hebben ain Wiefke bie sük. Dat is en junge Fent, däi häil jenteg wesen mut. Dat Wiefke dragt en wit Klaid mit rode Striepkes of en rood Klaid mit en witte Skude. In de Skude bint/bin/binnen twääij Taasken, waar Moppe - en Kauke uut Straup en Roggenmeel - in is. Dat Wiefke dragt gain Stevels, man lichte Skau, un sai het en leren Maske un en linnen Kappe up de Kop. Klaasoom dragt en laange Underbrauk, dat hai sük gain Wulf lopt, den hai kumt döör de Loperääij düchteg in 't Swaiten. Over de Underbrauk het hai en snääijwitte Brauk un dan daarover en witte Kittel, däi mit rode Striepen ofset is...

Marron Fort ist Gastprofessor in Oldenburg gewesen, aber da haben sie ihn gleich dabehalten. Das war 1982, inzwischen ist er längst deutscher Staatsbürger und dank des Indigenats der Ostfriesischen Landschaft ist er auch eingebürgerter Ostfriese. Er ist schon seit einigen Jahren pensioniert, aber er hört auch nicht auf zu forschen oder Vorträge zu halten. Sein Platt ist so rein, da fließen die Tränen, titelte die Welt vor Jahren. Und wenn Sie hier klicken, kann man nur sagen: hör mal'n beten to.

Die Germanistik geht seltsame Wege. Und jetzt bin ich doch gerade eben mal ut schier Schandudel (wie man in Bremen so sagt) auf die Heimatseite des Instituts gegangen, in dem Trunz und Conrady damals lehrten. Und ich erfahre da: In der Lehre legen wir − über die engeren Fachkenntnisse hinaus − besonderen Wert auf wissenschaftliche Praxis-Kompetenzen (Methodenreflexion, Kritikfähigkeit, Techniken der Informationsbeschaffung und -vermittlung, sicherer Ausdruck in Wort und Schrift). Das beruhigt mich aber denn doch sehr, dass in der Lehre besonderer Wert auf sicheren Ausdruck in Wort und Schrift gelegt wird. Erich Trunz, Karl Otto Conrady und Reimer Bull brauchten das früher nicht dazuzuschreiben. Also, Engländer würden an dieser Stelle sagen: How daft can you get? Ich könnte jetzt an dieser Stelle einmal abtippen, was in der Selbstbeschreibung des Faches im Jahre 1965 steht, als die Universität dreihundert Jahre alt wurde. Aber das wäre irgendwie gemein, man sollte auf die, die auf dem Boden liegen, nicht auch noch drauftreten. Aber ich habe auch gesehen, dass sie da einen Mitarbeiter haben, der auf seiner Seite unter Arbeitsschwerpunkte Fußballfilm, Medienfußball, Sportfilm, Katastrophenfilm, James Bond und slapstick comedy angegeben hat. Ich finde das irgendwie beruhigend, dass sich das Fach auch damit beschäftigt.

Conrady hatte 1966 in seinem Rowohlt Band eine 15-seitige Leseliste (eng gedruckt), dazu kamen noch einmal ungefähr hundert Werke aus der Weltliteratur. Die Studienanforderungen heute, wo ja in der Lehre Wert auf sicheren Ausdruck in Wort und Schrift gelegt wird, haben eine Leseliste von vier Seiten (wenn man sie engzeilig tippen würde, käme man auf zwei Seiten), dazu kommen zehn Werke der Weltliteratur. Ja, wenn man sich die ganze Zeit mit Medienfußball beschäftigt, dann reicht die Zeit eben nicht mehr für Goethe oder Thomas Mann.

In dem Hochschulführer der Christian Albrechts Universität steht 1965: Für das Studium der Neueren deutschen Literatur besteht, ebenso wie für andere geisteswissenschaftliche Fächer, kein verbindlicher Studienplan. Der Student hat weitgehende Freiheit der Wahl von Vorlesungen und Seminaren. Er wird die Wahl treffen im Blick auf das Ziel des Studiums. Ziel des Studiums aber muß sein, einen Überblick über die Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (im Rahmen der Weltliteratur) gewonnen, sich möglichst umfangreiche Kenntnisse der Literatur angeeignet und an verschiedenen Stellen des Fachgebietes eindringlich wissenschaftlich gearbeitet zu haben, um dabei literaturwissenschaftlichen Umgang mit Literatur erprobt und unter Beweis gestellt zu haben. Das nenne ich noch mal akademische Freiheit. Aber tempora mutantur, heute gibt es bürokratisch überorganisierte Studienordnungen, die ein Schmalspurstudium völlig verschult haben. Da kann man ja nur die schöne plattdeutsche Wendung nu gah mi af gebrauchen.

Für den Fall, dass Sie jetzt unbedingt wissen wollen, was da oben über Borkum gesagt wird, gibt es hier eine Übersetzung:

Klaasoom, Borkums höchster Feiertag, ist eine ganze alte Feier. Um die Teezeit gehen die Jungs von dem Borkumer-Jungs-Verein, so wurde uns Kindern erzählt, zum großen Kaap, einem Seezeichen, um den Klaasoom auszugraben. Die Leute bekommen ihn aber erst im Dorflokal zu sehen. Die Feier fängt am fünften Dezember um fünf Uhr an. Es gibt kleine, mittlere und große Klaasooms, von jedem zwei, und die beiden großen Klaasooms haben ein Wiefke bei sich. Das ist ein junger Kerl, der ganz gelenkig sein muß. Das Wiefke trägt ein rotes Kleid mit weißen Streifen oder ein rotes Kleid mit einer weißen Schürze. In der Schürze befinden sich zwei Taschen, die Moppe - ein Kuchen aus Sirup und Roggenmehl - enthalten. Das Wiefke trägt keine Stiefel, sondern leichte Schuhe, und sie hat eine Leder- maske und eine Leinenkappe auf dem Kopf. Klaasoom trägt eine lange Unterhose, damit er sich keinen Wolf läuft, denn er kommt durch das viele Laufen gehörig ins Schwitzen. Über der Unterhose trägt er eine schneeweiße Hose und darüber einen weißen Kittel, der mit roten Streifen abgesetzt ist...

P.S. Reimer Bull hat mich etwas schräg angeguckt, weil ich nur gesagt habe, dass er wunderbare plattdeutsche Döntjes vortragen kann und Klaus Groth vorliest, und nicht erwähnt habe, dass er auch richtige plattdeutsche Literatur schreibt. Wie konnte das nur passieren? Um das wieder gutzumachen, gibt es hier einen Link, wo man Reimer Bull hören kann.

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