Dienstag, 28. Februar 2012

Lilla Cabot Perry


Die Zeitung hat etwas Stoffliches, sie ähnelt beinahe der Gardine. Das aprikosenfarbene Rosa, das im ganzen Bild ist (sogar im blauen Muster des Sessels), liegt auch auf der Zeitung. Ich wundere mich ein wenig, dass der Herr eine Zeitung liest, eigentlich liest er Bücher. Oder schreibt welche, er ist ein Gelehrter, ein Harvard Professor. Selbst wenn wir sein Gesicht nicht vollständig erkennen können, selbst wenn wir nicht wüssten, wer er ist - es ist uns klar, dass es sich hier um einen distinguierten Herren handelt. Wie seine Hand die Zeitung hält! Wie wird sie erst eine Teetasse halten?

Hier ist Thomas Sergeant Perry noch einmal, diesmal liest er ein Buch. Man beachte, wie er seine Tabakspfeife hält. Er trägt für den Akt des Lesens etwas, was wie eine samtene Hausjacke aussieht. An dem hohen steifen Kragen können wir erkennen, dass wir noch im 19. Jahrhundert sind. Er ist auf diesem Portrait von 1889 vierundvierzig Jahre alt, wirkt aber älter. Auf dem Bild mit der Zeitung ist er 36 Jahre älter, das sieht man ihm kaum an. Perry kommt aus Amerikas feiner Gesellschaft, das ist uns schon klar. Sein Großvater war Commodore Oliver Hazard Perry, ein amerikanischer Held.

Die Gattin unseres Harvard Professors, die diese beiden Bilder gemalt hat (hier ein Selbstportrait von ihr) kommt natürlich auch aus der feinen Gesellschaft. Sie heißt Lilla Cabot und kommt aus Boston. Wo es so schon in diesen Knittelversen heißt: And this is good old Boston, The home of the bean and the cod, Where the Lowells talk only to Cabots, And the Cabots talk only to God. Als sie das erste Portrait ihres Gatten malt, ist sie gerade in Paris gewesen, hat die Impressionisten gesehen und Monet kennengelernt. Den Einfluss von Monet, der ihr Mentor bleiben wird (das Ehepaar macht fortan regelmäßig Urlaub in Giverny), merkt man dem ersten Portrait nicht an. Dem zweiten schon.

Die amerikanische Malerin Lilla Cabot Perry ist heute vor 79 Jahren gestorben. Erstaunlicherweise wird sie von der Kunstgeschichte kaum behandelt. Ihr Name fehlt in Matthew Baigells Dictionary of American Art, in Oliver Larkins Art and Life in America (einem Buch, das einmal mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet wurde) und in Robert Hughes' American Visions, um nur einige Titel zu nennen. Warum? Weil sie eine Frau ist? Weil sie zur High Society gehört und man sie als malende Dilettantin betrachtet?

Man könnte viele ihrer Bilder als Illustrationen für den Buchumschlag von Henry James Romanen nehmen. Die Welt von Henry James ist auch die Welt, aus der sie kommt. Ihr Ehemann ist der beste Freund von Henry James gewesen. Ihre Schwester hat den Maler John LaFarge geheiratet, von dem wir ein schönes Jugendbild von ➱Henry James haben. Allerdings muss man sagen, dass sie von der Familie James nicht so begeistert war. Von einer poky banality of the James house hat sie gesprochen und ätzende Bemerkungen über die Mutter von Henry James' gemacht. Sicherlich nicht zu Unrecht. Bis auf Henry, den sie vergötterte, sollen ihre Kinder bei ihrem Tod nicht geweint haben. In dieser steifen Welt der amerikanischen Oberklasse zeigt man keine Emotionen. Die arme hysterische Alice ist sicherlich ein Opfer der fehlgeleiteten Erziehung der frömmelnden Mary James gewesen.

Hysterie scheint damals eine Modekrankheit zu sein. Von der Arbeiterfrauen, die ein viel härteres Leben haben als die Damen der High Society, nie angesteckt werden. Es ist ein ungesundes geistiges Klima im fin de siècle. Da kann man nur glücklich sein, dass es auch Frauen gibt, die sich nicht in eine Opferrolle drücken lassen und als Künstlerin ihren Weg gehen. Wie Edith Wharton, die immer lebenstüchtiger war als Henry James. Oder wie Lilla Cabot Perry, die still und beharrlich ihren eigenen malerischen Weg geht.

Als ihr Gatte eine Professur in Japan annahm, ist sie mit ihm nach Japan gegangen. Sie hat die japanische Kunst aufgesaugt, ihre Bilder haben dadurch eine erstaunliche gestalterische Klarheit gefunden. Das ist jetzt nicht der grassierende second hand Japonismus der europäischen Malerei, sondern eine wirkliche Begegnung mit der japanischen Kunst. Aber so aufgeschlossen sie hier ist, viel weiter als bis hier und bis zum Impressionismus ist sie nicht gegangen. Mit der Moderne, die danach kommt, konnte sie wenig anfangen. Bei der ➱Armory Show war sie nicht vertreten.

Sie ist viel gereist. Wo immer sie war, war sie von Künstlern umgeben. Sie hat auch (ihr Wohlstand machte es ihr möglich) viele Künstler gefördert. Sie hat die Kunst geliebt und gelebt. Vielleicht auf eine andere Weise als ➱Oda Krogh oder ➱Marie Kröyer. Sie ist nicht in die Boheme abgewandert. Aber mit der sterilen Kälte der Boston Brahmins konnte sie ebenso wenig anfangen, wie sie die poky banality der Familie James ertragen konnte. Sie musste die provinzielle Enge von Boston verlassen, um sich selbst zu finden. Sie hat Henry James nie gemalt. Dafür aber den Dichter ➱Edwin Arlington Robinson, der eher ein Außenseiter der Gesellschaft war. Aber drei Pulitzer Preise für seine Lyrik erhielt. Über den von ihr bewunderten Monet hat sie einmal gesagt: I remember his once saying to me: "When you go out to paint, try to forget what objects you have before you--a tree, a house, a field, or whatever. Merely think, here is a little square of blue, here an oblong of pink, here a streak of yellow, and paint it just as it looks to you, the exact color and shape, until it gives your own naive impression of the scene before you." He said he wished he had been born blind and then had suddenly gained his sight so that he could have begun to paint in this way without knowing what the objects were that he saw before him.

Diese Sätze sind für sie zu einer Maxime geworden. Und so malt sie diesen Herbstnachmittag in Giverny, so malt sie ihren Zeitung lesenden Ehemann, und denkt dabei nur in Farben. Seien wir ihr dankbar dafür, a thing of beauty is a joy forever.


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