Freitag, 5. Juli 2013

Schachtürke


Hier spielen zwei Giganten des Geistes Schach. Links ist ein Herr Steinbrück, rechts ein Herr Schmidt. Herr Steinbrück soll ein genialer Schachspieler sein, sagt Herr Schmidt. Schachspieler gucken einmal auf das Photo und sagen, dass beide Herren Volltrottel sind. Weil das königliche Spiel nun mal nur funktioniert, wenn das untere rechte Feld ein weißes Feld ist (also h1 oder a8). Hier auf dem Photo sind die Figuren falsch aufgestellt.

Unglücklicherweise war das nicht nur ein getürktes Pressephoto, nein, es war auch das Coverphoto für ein Buch der beiden Schachgroßmeister. Ich weiß nicht, ob das Buch ein Bestseller geworden ist. Aber wir müssen weg von diesen Peinlichkeiten, sonst fängt der Peer wieder an zu weinen. Wir erhöhen mal eben das Niveau und werden literarisch: It was night. I went home and put my old house clothes on and set the chessmen out and mixed a drink and played over another Capablanca. It went forty-nine moves. Beautiful and remorseless chess, almost creepy in its silent implacability. When it was done I listened at the open window for a while and smelled the night. Then I carried my glass out to the kitchen, and rinsed it and filled it with ice water and stood at the sink sipping it and looking at my face in the mirror. 'You and Capablanca,' I said. 

Den Schachspielern unter meinen Lesern brauche ich natürlich nicht zu erklären, wer José Raúl Capablanca war. Und den Raymond Chandler Fans unter meinen Lesern brauche ich natürlich nicht zu erklären, dass das Zitat in The High Window steht. Und dass schon im ersten Romans Chandlers The Big Sleep die Schachsymbolik auftaucht: I looked down at the chessboard. The move with the knight was wrong. I put it back where I had moved it from. Knights had no meaning in this game. It wasn't a game for knights. Damit bin ich jetzt bei der Detektiverzählung und Schachspiel. Da wollte ich hin. Denn womit beginnt Edgar Allan Poes ➱The Murders in the Rue Morgue? Richtig, mit einer langen Ausführung über das Schachspiel und den analytischen Verstand. Die ziemlich lieblos vor den eigentlichen Text geklebt ist.

Die Abhandlung beeindruckt natürlich den Leser, er bewundert die Genialität des Autors. Und das soll er ja auch, wie Edgar Allan Poe in einem Brief an Philip Pendleton Cooke schreibt: You are right about the hair-splitting of my French friend: — that is all done for effect. These tales of ratiocination owe most of their popularity to being something in a new key. I do not mean to say that they are not ingenious — but people think them more ingenious than they are — on account of their method and air of method. In the 'Murders in the Rue Morgue', for instance, where is the ingenuity of unravelling a web which you yourself (the author) have woven for the express purpose of unravelling? The reader is made to confound the ingenuity of the supposititious Dupin with that of the writer of the story. 

Ähnlich illusionszerstörend hat sich Raymond Chandler über das Schachspiel geäußert: Chess is as elaborate a waste of human intelligence as you can find outside an advertising agency. Wenn Sie jetzt noch mehr zum Thema Schach und Detektivroman wissen wollen, dann lesen Sie doch den Artikel ➱Chess is for heavies. Der Titel dieses Posts, Schachtürke, sagt Ihnen jetzt nichts? Der Tageskalender von Wikipedia hat da für den heutigen Tag einen kurzen Text: 5. Juli 1854: Nach 14 Jahren als Museumsstück verbrennt der berühmte 'Schachtürke' bei einem Feuer im Peale's Museum in Philadelphia. Wir lassen jetzt mal das Museum von Charles Willson Peale beiseite (und Sie lesen mal eben schnell ➱diesen Post. Damals war dieser Blogger noch frisch im Internet, da schrieb er noch kurze Posts), wir konzentrieren uns auf den Schachtürken.

Über den hat Edgar Allan Poe auch etwas zu sagen, er äußert sich zu dem Wunderwerk von Maschine in seinem langen ➱Artikel Maelzel’s Chess-Player. Der mit dem schönen Satz endet: We do not believe that any reasonable objections can be urged against this solution of the Automaton Chess-Player. Wikipedia hat für den Schachtürken natürlich einen Artikel (der ➱englische ist besser). Und auf der Wikipedia Seite finden wir die obige Illustration, die all unsere Illusionen zerstört. Nichts ist mit einem genialen Automaten. Da müssen wir noch etwas warten, bis die ersten funktionierenden Automaten kommen. Die heißen dann Mephisto oder ähnlich, aber nicht mehr Schachtürke. 

Als der Baron ➱Wolfgang von Kempelen seinen Schach spielenden Türken 1769 der Kaiserin Maria Theresia präsentierte, ist es noch keine hundert Jahre her, dass die Türken Wien belagert haben. Vielleicht ist der die menschliche Vernunft bedrohende Androide deshalb ein Türke. Wäre es ein Schachösterreicher (oder Schachungar) wo bliebe da die Magie? What song the Syrens sang, or what name Achilles assumed when he hid himself among women, although puzzling questions, are not beyond all conjecture, beginnt Edgar Allan Poe (Sir Thomas Browne zitierend) seine Murders in the Rue Morgue. Es gibt keine Geheimnisse mehr. Aber es gibt bei allen schachspielenden Androiden, Automaten und Computern - ob sie Schachtürke, Mephisto, Hydra oder Deep Blue heißen - eine Konstante: das Feld unten rechts auf dem Schachbrett ist immer weiß.

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