Dienstag, 6. August 2024

aprèslude


Ein Freund, der gerade den Post Kellerfund gelesen hatte, schickte mir mit der Mail etwas ironisch den Satz In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs vorbei. Ich weiß, dass in seinem Elternhaus keine Gainsboroughs hingen, bestenfalls Worpsweder wie bei uns im Wohnzimmer. Ich wusste natürlich auch, dass der Satz ein Zitat aus einem Gedicht von Gottfried Benn war. Ich habe das Gedicht erst kürzlich wieder gelesen. Weil Walter Kappacher seine Dankesrede für den Büchner Preis damit begonnen hatte: 'In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs...', heißt es bei Benn. Von Gainsboroughs keine Rede, nicht einmal von einem Elternhaus. Aus unseren Fenstern waren auch keine Chopin-Konzerte zu hören gewesen. An dieser – wohl eher ironisch konstatierten – Misere Gottfried Benns habe ich jedenfalls nicht gelitten. Zur Zeit meiner Geburt bewohnten meine Eltern eine Zweizimmerwohnung in Salzburg. Den Ausgleich für die Mietkosten erbrachte meine Mutter, indem sie für die Hausbesitzerin Arbeiten verrichtete. Mein Vater meistens arbeitslos. Er hatte nicht Bauer werden wollen, überließ das Erbe, den ansehnlichen väterlichen Hof in Mühlbach, seiner Schwester und seinem Schwager, und versuchte wie viele damals in den dreißiger Jahren sein Glück in der Stadt. Es waren die denkbar ungünstigsten Jahre für ein solches Abenteuer. 

Gainsboroughs in Elternhäusern sind in Deutschland selten. Sehr selten. Auch Friedrich Wilhelme OelzeBenns reicher Bremer Brieffreund, besaß keinen Gainsborough. Er hat zwar der Bremer Kunsthalle einige Bilder geschenkt, aber ein Gainsborough war nicht dabei. Falsche Rembrandts gibt es genügend in Bremen, aber einen Gainsborough hat man nicht. Man besitzt jedoch ein halbes Dutzend Radierungen nach Gainsborough. Das Gedicht von Benn, in dem Gainsborough im Plural auftaucht, hat den Titel Teils-teils. Es ist 1955 in Benns letztem Gedichtband Aprèslude erschienen, wurde aber vielleicht schon 1939 begonnen. Ich stelle das Gedicht, das viele Kritiker für Benns bestes Gedicht halten, heute mal hier hin: 

In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs 
wurde auch kein Chopin gespielt 
ganz amusisches Gedankenleben 
mein Vater war einmal im Theater gewesen 
Anfang des Jahrhunderts 
Wildenbruchs "Haubenlerche" 
davon zehrten wir 
das war alles. 

Nun längst zu Ende 
graue Herzen, graue Haare 
der Garten in polnischem Besitz 
die Gräber teils-teils 
aber alle slawisch, 
Oder-Neiße-Linie 
für Sarginhalte ohne Belang 
die Kinder denken an sie 
die Gatten auch noch eine Weile 
teils-teils 
bis sie weitermüssen 
Sela, Psalmenende. 

Heute noch in einer Großstadtnacht. 
Caféterrasse 
Sommersterne, 
vom Nebentisch 
Hotelqualitäten in Frankfurt 
Vergleiche, 
die Damen unbefriedigt 
wenn ihre Sehnsucht Gewicht hätte, 
wöge jede drei Zentner. 

Aber ein Fluidum! Heiße Nacht 
à la Reiseprospekt und 
die Ladies treten aus ihren Bildern: 
unwahrscheinliche Beauties 
langbeinig, hoher Wasserfall 
über ihre Hingabe kann man sich gar nicht erlauben nachzudenken. 

Ehepaare fallen demgegenüber ab, 
kommen nicht an, Bälle gehn ins Netz, 
er raucht, sie dreht ihre Ringe, 
überhaupt nachdenkenswert 
Verhältnis von Ehe und Mannesschaffen 
Lähmung oder Hochtrieb. 

Fragen, Fragen! Erinnerungen in einer Sommernacht 
hingeblinzelt, hingestrichen, 
in meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs 
nun alles abgesunken 
teils-teils das Ganze 
Sela, Psalmenende.

Wie ist Gottfried Benn auf Gainsborough gekommen? Hätte er nicht Rembrandt, Tizian, Tintoretto oder Tiepolo, oder irgendeinen berühmten Maler, nehmen können? Kannte er Gainsboroughs Bilder? Es gibt eine Antwort auf diese Fragen, und die heißt: Ausstellung aelterer englischer Kunst. Die Daily Mail berichtete darüber in ihrem Artikel Kayser and British Art. Es war eine Ausstellung der Königlichen Akademie der Künste in Berlin im Jahre 1908, zu der der Initiator der Ausstellung Götz Burkhard Graf von Seckendorff bei englischen und amerikanischen Sammlern (wie Pierpont Morgan und Charles John Wertheimer) alles an englischer Kunst zusammengetragen hatte, was er kriegen konnte. Bilder von John Constable, Thomas Lawrence, Reynolds, Raeburn und Romney (alles Maler, die hier schon einen Post haben). Die renommierte Firma Thomas Agnew & Sons war für den Transport verantwortlich gewesen. Die Firma Agnew steuerte auch das Bild von General Philip Honywood bei, das erste Bild eines Reiters, das Gainsborough malte. Es ist mit 3,27 × 3 Metern auch das größte Bild, das Gainsborough gemalt hat.

Es gab viel Gainsborough in der Ausstellung, sehr viel Gainsborough. Der Herzog von Westminster schickte den Blue Boy, der gerade geadelte Baron Swaythling sandte zwei Landschaftsbilder. Weiterhin waren die Portraits von Miss Elizabeth Linley, der Baronesse Petre, Lady Thicknesse und die von Lord und Lady Ligonier zu sehen. Und noch viel mehr, insgesamt waren es siebzehn  Bilder von Gainsborough. Auch aus Deutschland waren Bilder gekommen. Eins kam von dem Berliner Sammler Eduard Georg Simon, der bezaubernde kleine Prinz Octavius kam von der Gemäldegalerie Stuttgart.

Von keinem englischen Maler gab es so viele Bilder in Berlin wie von Thomas Gainsborough. Mehr von ihm konnte man am Anfang des Jahrhunderts in Deutschland nicht sehen. Es wird noch siebzig Jahre dauern, bis man in Deutschland so viel englische Malerei sehen kann. Dann gibt es in München die Ausstellung Zwei Jahrhunderte englischer Malerei. Den fetten Katalog kann man antiquarisch noch sehr preiswert finden. Es gibt wirklich nichts Besseres. Den 72-seitigen Katalog aus dem Jahre 1908 findet man auch noch antiquarisch, man kann ihn aber auch digital einsehen. 

Zur englischen Kunst des 18. Jahrhunderts habe ich hier noch einen langen interessanten →Aufsatz von Werner Busch. Professor Busch ist einer der ganz wenigen deutschen Kunsthistorker, der sich mit der englischen Kunst beschäftigt hat. Und so heißt seine Festschrift denn auch Englishness. Und um noch einmal auf das Gedicht Teils-teils zurückzukommen: wir können mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass der junge Gottfried Benn, der in Berlin Medizin studierte, im Jahre 1908 die einmonatige Ausstellung aelterer englischer Kunst gesehen hat. Und siebzehn Bilder von Gainsborough bleiben im Gedächtnis, wenn es vielleicht auch nur der berühmte Blue Boy ist. Es ist schön, dass die Frage, wie Gainsborough in das ✺Gedicht von Benn kam, endlich geklärt wurde.

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