Montag, 8. März 2010

Piccadilly Circus


Ein halbes Jahr nach Wilhelm Lehmann, dem London nur Zeilen über einen chaplinesken Greis und eine Eule im Zoo entlocken kann, ist ein junger deutscher Dichter zu ersten Mal in London. Er heißt Rolf Dieter Brinkmann. Erste schmale Bände mit seinen Gedichten wie Ihr nennt es Sprache und Chant du Monde sind schon auf dem Markt, aber richtig berühmt ist er noch nicht. Dennoch setzt die Kulturredaktion des Westdeutschen Rundfunks auf ihn und schickt ihn nach London. Er soll für die Sendereihe Straßen und Plätze über den Piccadilly Circus schreiben. Dieser Platz, 1819 zur Zeit der großen Umbauten unter dem englischen Prinzregenten (deshalb haben wir auch eine Regent Street) angelegt, ist er immer wieder umgebaut worden, faszinierte aber immer wieder die Besucher Londons, denen er als das Herz der Metropole erschien. Zur Zeit von Königin Victoria hielt man ihn für den Mittelpunkt der Welt. Für D.H. Lawrence hatte er 1916 in dem Gedicht Piccadilly Circus at Night noch eine Verbindung mit der Natur:

All the birds are folded in a silent ball of sleep,
All the flowers are faded from the asphalt isle in the sea,
Only we hard-faced creatures go round and round, and keep
The shores of this innermost ocean alive and illusory.

Und auch für Jakov Lind hatte der Platz noch beinahe idyllische Qualitäten: Nachts malte die Neonreklame am Piccadilly Square die tiefhängenden Wolken orange und rosarot. Ehe der Tourismus auch London überschwemmte, war der Piccadilly Circus nach Mitternacht ziemlich menschenleer. Aber nun kommt unser Dichter aus Vechta, für den die größte Großstadt bisher Köln hieß. Offiziell studiert er noch an der PH, aber er weiß, dass Lehrer wie Wilhelm Lehmann zu sein, nichts für ihn ist. Der junge Dichter hat Augen wie die Kamera, die ihn immer begleiten wird. Später wird er Photos und Texte montieren, wie in Rom Worlds End. Das hat seinen Titel nach dem ersten Londonerlebnis: Als ich im Frühjahr 1965 zum 1. Mal in London war, kam ich am Ende eines längeren Spaziergangs eine lange Geschäftsstraße entlang in eine immer schäbiger werdende und zerfallenere Gegend und stand schließlich auf einer verödeten platzähnlichen Verbreiterung vor einem Gebäude, das mit viel Raum um sich isoliert in einem bleichen Londonfrühjahrsnachmittagslicht stand. Eine verblaßte bröckelige Fassade, ausgefahrenes Steinpflaster, rostende Karosserien, Gras, das zwischen den Steinfugen hervorsproß - das Gebäude war eine Wirtschaft, die Worlds End hieß. Dieser Dichter ist nicht als Tourist in London, er ist gekommen, um zu sehen.

Und so besteht sein Prosastück Piccadilly Circus aus optischen Eindrücken. Ein einziger Satz. Sechs Seiten lang in Der Film in Worten. 16 Minuten und 55 Sekunden lang, wenn es im Deutschlandfunk am 4.3.1966 vorgelesen wird. Der Film in Worten ist schon ein passender Titel für seine Prosastücke aus den Jahren 1964 bis 1974. Menschen kommen bei Brinkmann nicht vor, definitiv keine chaplinesken Greise mit Schallplatten. Dieses Stück Literatur versucht nicht mögliche Vorbilder aus den zwanziger Jahren wie Berlin, Alexanderplatz oder den Film  Berlin: Sinfonie der Großstadt zu zitieren. Dieser Kurzfilm in Worten beschreibt nur Häuser und Reklametafeln. Penetrant und repetitiv, aber doch angesichts der Steineinöde manchmal sehr lyrisch. Es ist ein sprachliches Experiment, das zwischen Langgedicht, Kurzprosa und Film steht. Es gibt in der deutschen Literatur nach 1945 nichts Vergleichbares.

Piccadilly Circus endet auf ausgebrannt, erloschen, leer, tot, tot, tot, tot. Wörter, die prophetisch sein werden. Zehn Jahre später, im Frühjahr 1975 wird Brinkmann wenige hundert Meter vom Piccadilly Circus in der Bayswater Street von einem Auto angefahren. Er ist sofort tot. Genau eine Woche vorher war er 35 Jahre alt geworden. Wenige Monate vor seinem Tod hatte er gesagt Mich kümmert einen Scheißdreck, wenn ich tot bin, der Tod oder der Begriff Tod ist ne blöde Erfindung. Ein eigentlich hier nicht zu nennender Kritiker hat mit Anspielung auf den Linksverkehr in England gesagt, dass Brinkmann immer nur nach links geguckt habe, er hätte nach rechts gucken müssen. Er hat später diese schäbige Formulierung abgeschwächt und von vermutlich hat er den Linksverkehr nicht beachtet gesprochen. Und da wird der unzurechnungsfähige Poet, der ihm 1968 gesagt hatte, wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie jetzt über den Haufen schießen, in der Rückschau doch zu einem verlorenen Sohn. Er glaubte mir Dankbarkeit zu schulden, denn ich hatte ihn entdeckt, ihn mehrfach gelobt und gerühmt - und dem war er offensichtlich nicht gewachsen. Danke, Marcel Reich-Ranicki, dass Du die Welt so schön zurechtrückst. Westwärts 1& 2, ein grandioser Lyrikband, erscheint wenige Wochen nach dem Tod des Dichters und wird zu einem Kultbuch. Martin Walser wird einen dem Herrn Reich-Ranicki sehr ähnlichen Kritiker in einem Roman sterben lassen. Aber der schreibt ja nur schwache und misslungene Romane und befindet sich stilistisch und gedanklich auf einem erbärmlichen Niveau. So etwas ist Walser inzwischen von Reich-Ranicki gewohnt, aber im Jahr vor Brinkmanns Tod, da hat ihn die Kritik (belanglos, schlecht, miserabel) an Jenseits der Liebe von dem glatzköpfigen Lispler schon mitgenommen. Schreibhemmung und Existenzzweifel. Und das Trauma sitzt immer noch tief, wie er gerade anlässlich der Veröffentlichung seiner Tagebücher betont hat. Aber die Romane von Walser wird man noch lesen, wenn keiner mehr Herrn Reich-Ranicki kennt. Und Günter Grass' Ein weites Feld bleibt ein großartiger Fontane Roman, egal, was Reich-Ranicki damals im Spiegel gegeifert hat. Kritiker können Schriftsteller verletzen, aber sie können die Literatur nicht aufhalten. Was von Reich-Ranicki bleiben wird, ist wahrscheinlich die wunderbare Parodienummer, wenn Thomas Freitag als RR Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen interpretiert. Die 4 Minuten und 22 Sekunden sollte man sich auf YouTube unbedingt anschauen.

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