Samstag, 25. Juli 2020

in memoriam Anthony R. Gibbs


Als mich der Steffen aus Stuttgart anrief, merkte ich an seiner Stimme, dass er mir etwas Trauriges mittteilen wollte: unser Freund Tony war tot. Hatte nichts mit Corona zu tun, das Herz hatte nicht mehr mitgemacht. Aber er hatte ein schönes Alter erreicht und war immer geistig rege geblieben. Ich habe dem Steffen gesagt, dass ich einen kleinen Nachruf für ihn in meinem Blog schreiben würde. Er ist hier schon häufig in den letzten zehn Jahren erwähnt worden. Ansonsten sucht man ihn vergeblich im Internet, nur auf der Seite Stuttgart Der Film wird der langjährige Rundfunk-Mitarbeiter und ehemalige Universitätsdozent Anthony Gibbs erwähnt, der die englische Übersetzung des Stuttgart Films erstellt hat. Über seine Tätigkeit für den Süddeutschen Rundfunk/Südwestfunk gibt das Internet nichts her, aber er hat jahrzehntelang nebenbei für den SWR gearbeitet; seine Sendungen über England (für die er auch mal Maggie Thatcher interviewte), die mit viel englischer  Musik garniert waren, haben alle Englischlehrer in dem Bundesland mitgeschnitten. Und natürlich im Unterricht verwendet. Ich habe noch eine Vielzahl von Cassetten mit diesen Sendungen. Die englische Gegenwartskultur nach Deutschland zu bringen, das war sein Thema. Und seine große Begabung.

Er war als Lektor für Sprache und Kultur Englands der perfekte Vermittler der englischen Kultur, nicht nur der englischen Sprache. Auch im Ruhestand hörte er damit nicht auf, er bot an der Uni Stuttgart noch lange Kurse an. Seine akademische Karriere in Deutschland begann vor mehr als einem halben Jahrhundert am Englischen Seminar der Universität Kiel. Seitdem kenne ich ihn, und seitdem waren wir befreundet. Tony war auf einer Public School, die vielleicht nicht so berühmt ist wie Eton, die aber bedeutende englischsprachige Schriftsteller der 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Sie heißt Dulwich College und ist 1619 in London von Thomas Alleyn gegründet worden. Nach ihm heißt die Schulzeitung noch heute The Alleynian. Alleyn ist eine der interessantesten Figuren der Shakespearezeit, kommt aber aus mir unbekannten Gründen nie an der Uni in einer Shakespearevorlesung vor.

Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir in Deutschland unseren eigenen Shakespeare haben. Den Gundolf Shakespeare und den deutschen Geist Shakespeare. Da brauchen wir uns für das London im Jahre 1600 nicht zu interessieren. Alleyn ist Sohn eines Kneipenwirts, wird Schauspieler und ist zur Zeit Shakespeares wahrscheinlich der berühmteste (und erfolgreichste) englische Schauspieler. Er wird irgendwann ein Theater besitzen (wahrscheinlich gehört ihm auch noch ein Bordell), wird das College und ein Krankenhaus stiften, in zweiter Ehe die Tochter von John Donne heiraten. Ehemalige Schüler von Dulwich, die Old Alleynians, wissen das.

Anglistikprofessoren wissen es nicht. Musste ich in meinem Studium immer wieder feststellen. Die beiden bedeutendsten Schriftsteller, die in Dulwich College waren, sind natürlich P.G. Wodehouse und Raymond Chandler. Die Public School wird auch mehr Schriftsteller produzieren als andere Privatschulen. Eton produziert Prinzen, Könige und Politiker, kaum Schriftsteller. Dulwich College hat auf der literarischen Habenseite: Hugh de Selincourt, A.E.W. Mason, Dennis Wheatley, C.S. Forester, Chandler und Wodehouse, Michael Ondaatje, Graham Swift. Den Krimiautor Simon Brett und den Dichter Jon Silkin. Und einen der berühmtesten Literaturkritiker des 20. Jahrhunderts, G. Wilson Knight.

Und natürlich Tony. Nach Dulwich ist Tony in Cambridge gewesen, da hat er auch im Chor gesungen. Darin ist er dem Chief Inspector Morse ähnlich, auch wenn der in Oxford und nicht in Cambridge war. Als Tony mich das letzte Mal besuchte, hat er mal eben ganz schnell im Stehen auf meinem neuen Klavier Good Save the Queen mit zwei Fingern gespielt. Das war sehr ironisch. Vor mehr als einem halben Jahrhundert hat er mich schwer beeindruckt, weil er ohne Noten schwierige Bach Präludien und Partiten spielen konnte. Musik bedeutete ihm viel.

Tony hat immer versucht, mich für Gustav Mahler zu begeistern, die Kathleen Ferrier Platte mit den Kindertotenliedern, die er mir vor Jahrzehnten geschenkt hat, habe ich immer noch. Auf Kathleen Ferrier lasse ich nichts kommen. Tony hat mich auch einmal zu einem Vorkonzert am Sonntag in der Hamburger Laeisz Halle geschleift, wo es stundenlang nur Mahler gab. Damals hatte er noch kein Auto, also brauchte er mich. Auf der Rückfahrt in der Nacht sind wir in Blitzeis und Eisregen geraten, mehr als hundert Kilometer lang. Das habe ich nicht vergessen, was es an dem Tag von Mahler zu hören gab, weiß ich nicht mehr.

Aber der Tony ist Engländer, der liebt Mahler. Und all dieses leicht Morbide vom fin de siècle, diesem Übergang von der Spätromantik zur Moderne. Ich habe eine Platte von ihm geschenkt bekommen, auf der Kirsten Flagstad Jean Sibelius singt. Es gibt Tage, da kann man Svarta Rosor oder Kom nu hit, Död wunderbar hören, aber ewig kann ich das nicht ertragen. Irgendwie zieht einen das runter. Wenn ich in so einer morbiden romantischen Stimmung bin, dann lege ich Mahlers Die zwei blauen Augen von meinem Schatz mit Fischer-Dieskau auf. Herzzerreissend.

Cambridge hat ihm viel bedeutet, wenn er formell sein wollte, schrieb er Cantab hinter seinen Titel. Das ließ er aber meistens, er war kein Snob. Aber zu dem Sommerfest in Hamburg an der Außenalster war er doch angereist, weil man ihn eingeladen hatte. Das war nicht das Sommerfest der Königin, nur ein Treffen von ehemaligen Cambridge Absolventen. Der Tony war pünktlich da (er hatte eine alte Rolex Oyster, die nie genau ging). Und war da auch gleich wieder verschwunden. Das waren alles Hamburger, die sich sehr englisch vorkamen, weil sie mal einen Sommerkurs in Cambridge gemacht hatten. Sie trugen alle blaue Blazer mit eindrucksvollen Wappen zu grauen Flanellhosen. Lauter nachgemachte Engländer, die sich rechtzeitig bei Ladage & Oelke das richtige Outfit gekauft hatten. Und Tony? Der war wahrscheinlich der einzige, der wirklich in Cambridge studiert hatte. Er trug rote Chelsea Boots, gelbe enge Hosen, ein dunkelgrünes Cordjackett, ein dunkelfliederfarbenes Hemd und einen lila Schlips. Sehr englisch. Er erholte sich Stunden später bei mir, lag auf meinem Sofa und trank guten schottischen Whisky.

Nach Cambridge kam die Army, damals gab es noch die Wehrpflicht England. Tonys Vater, der im Royal Flying Corps gewesen war, hätte ihn gerne in der RAF gesehen, aber das war nichts für Tony. Es gibt ein Photo, auf dem der junge Leutnant Anthony Gibbs seinen Säbel präsentierend an der Königin vorbeimarschiert. Kurz vor dem Ende seiner Dienstzeit bekam er eine neue Uniform: Tropenkleidung. Die Suezkrise hatte begonnen. Aber dann hatte irgendjemand in der Army ein Einsehen und schickte ihn nach Hause und nicht in die Wüste. Wenn man auf einer Public School war, in Cambridge studiert hatte und dann Offizier in der Army war, dann hat man eine Karriere im Foreign Office oder einem anderen Ministerium vor sich. Aber das war nichts für ihn. Für seinen Schulkameraden Chandler auch nicht. Der hatte zwar die Aufnahmeprüfung für den englischen Staatsdienst als einer der Besten bestanden und war ein halbes Jahr in der Admiralität, aber dann hat er sich das anders überlegt. Dafür sind ihm seine Leser dankbar.

Eigentlich hätte Tony, der nach der Army einige Zeit bei der BBC war, Schauspieler werden sollen, wenn irgendjemand englisches Theater vermitteln kann, dann ist es Tony. Die deutsche Universität in den sechziger Jahren ist nicht das richtige Pflaster für lebendiges Theater. Mir erzählte ein Ordinarius voller Abscheu, dass er einen Kollegen habe, der in den Semesterferien in London nicht nur in jedem Theater zu finden sei, sondern sich auch backstage herumtreibe. Und der mit seinen Studenten auf einer Bühne an seiner Uni stände. Richtig angeekelt trägt er das vor. Weshalb der Mann Literaturprofessor geworden war, weiß niemand. Tony erfindet einen neuen Übungstyp, der Playreading heißt. Da sitzt man nicht im Hörsaal, da liegen zwanzig Leute in seinem Wohnzimmer auf seinem Teppich und lesen mit verteilten Rollen alles, was England damals zu bieten hat: Stoppard, Pinter, Osborne, Shaffer - you name them.

In Tonys Kursen kamen Adrian Henri und Roger McGough vor (über die hatte er sogar einen Aufsatz in einer Fachzeitschrift geschrieben), das war etwas ganz anderes als ein Seminar über John Milton. Das Swinging London der Sixties swingte bei uns, Tonys Lehrveranstaltungen waren die einzigen, die etwas mit dem 1968 da draußen zu tun hatten. Im Vorlesungsverzeichnis vom Sommersemester 1968 steht er mit der Vorlesung Anger and After: Modem English Drama und einem Kurs Modern British Beat Poctry, Folk and Protest Songs. Die Liverpool Poets (die bei einer Vortragsreise in Deutschland durch ein fehlerhaft gedrucktes Plakat als Little Poor Poets angekündigt werden), die auch Pop Lyrik schreiben, werde ich lieben. Wenn ich Roger McGough (der solch bezaubernden Quatsch wie Lily the Pink geschrieben hat) 1980 nach einer Gedichtslesung meinen abgeschabten Penguin Band The Mersey Sound hinlege, wird er erstaunt hochschauen, das Buch dann aber doch für den Fan der ersten Stunde signieren.

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte Tony ewig bei uns bleiben können. Aber die Verhältnisse an deutschen Universitäten sind nicht so, englische Lektoren haben einen Angestelltenvertrag und fliegen nach zwei Jahren raus (englische Lehrer an deutschen Gymnasien auch). Das Bosman Urteil wird das alles eines Tages ändern. Aber Tony hat Glück im Unglück. Er weigert sich, der dusseligen Tochter des Großordinarius eine Sprachzeugnis ohne eine Sprachprüfung auszustellen, was den Großordinarius erzürnt. Da ist nichts mehr mit Vertragsverlängerung. Doch, wie der Zufall es will, hat der Intimfeind des Großordinarius gerade einen Ruf nach Stuttgart bekommen, und er nimmt den Tony mit. Und da haben sie eine Lebenszeitstelle für ihn, so etwas hat wohl nur John Bourke in München gehabt, der bei seiner Verabschiedung noch eine 700-seitige Festschschrift bekommt. Der Großordinarius hat übrigens auch den Vertrag des amerikanischen Lektors nicht verlängert. Der geht nach Amerika zurück und wird dort richtig berühmt, Educator to the World hat ihn die New York Times genannt. Wir lassen den Ordinarius mal ohne Namen, er kommt hier schon in den Posts Münchhausen auf dem Mond und Pfeifenkauf vor.

Der Tony ist in Stuttgart glücklich gewesen, aber er ist immer wieder in den Norden zurückgekommen, um Freunde, Konzerte oder Theateraufführungen zu besuchen. In Hamburg wäre er einmal beinahe wegen lauten Lachens aus dem Zuschauerraum des Hamburger Schauspielhauses gewiesen worden. Weil in dem Theaterstück The Birthday Party von Harold Pinter auf der Bühne gesagt wurde: Wer hat an das Stadttor von Melbourne gepinkelt? Diese Übersetzung von Who watered the wicket in Melbourne? hat schon ihren Weg in die kritische Literatur gefunden: The first German translator, reputedly, came to the line 'Who watered the wicket in Melbourne?' and looked up the words in his dictionary – 'wicket' means 'gate', 'watered' means 'urinated'. So he came up with a translation which translates back into English as 'Who urinated over the gates of Melbourne?

Wenn er kam, gingen wir meistens essen, obgleich man Tony auch in die Küche hätte lassen können, er zauberte aus einfachsten Zutaten schmackhafte Gerichte. Manche Engländer können schon mehr als fish and chips. Das letzte Mal, dass wir essen waren, musste er wieder einmal eine schauspielerische Einlage geben, obgleich ich ein warnendes Tony! zischelte. Die Kellnerin in dem Lokal war ein ausgesprochen schönes Mädchen. Und da war etwas in Tony, was man nur als impish bezeichnen kann, er brachte mit seinem Humor, der häufig ein englischer black humour war, gerne Leute aus der Fassung; testete, wie sie reagierten. Und da ist nun diese wirklich schöne junge Frau, und der Tony spielt den dirty old man, der kaum Deutsch kann. Ich wende mich zu der etwas entgeisterten Schönheit und sage: Sie müssen das verstehen, mein Freund ist Engländer. Und der Tony legt seine Rolle ab, ist wieder der alte und sagt völlig ernsthaftt: Ja, wir Engländer sind manchmal etwas seltsam. Sie hat gelächelt.

1 Kommentar:

  1. Lieber Jay,
    Dein Nachruf auf Anthony Gibbs hat mich sehr berührt.
    Ich wollte Dir schon lange danken, aber während des Uni-Semesters war niemals die nötige Ruhe vorhanden. Aber nun sind Semesterferien und endlich Zeit für Privates.
    Ich kannte Anthony seit 30 Jahren: Erst hat er mich nach Manchester als Austauschstudent verfrachtet, dann war ich 5 Jahre lang seine Hilfskraft an der Uni und seither haben wir uns jede Woche mindestens einmal getroffen, abwechselnd im Restaurant oder im Konzert – genau mit den von dir erwähnten subversiven Showeinlagen. Die schönsten Erinnerungen habe ich, als ich mit ihm 6 Wochen durch England gereist bin für seine Interviews bzgl. ‚Five o’clock Special‘ und als er viele Jahre später meiner Einladung nach Brighton gefolgt ist zu meiner Doktorfeier im ‚Brighton Dome‘. Die Engländer verstehen es wie kein anderes Volk solche Ereignisse zu zelebrieren.
    Seltsam, aber über seine Zeit in Kiel und seinem Auftritt mit Tropenhelm vor der Queen hat er nie gesprochen, und er hat mir wirklich viel aus seinem Leben erzählt, daher war das hochinteressant. Doch wenn wir zusammen waren habe ich ihn meistens in die Gegenwart geholt und wir haben viel über Musik, Theater, Politik und Mode diskutiert. Man konnte sich wirklich mit ihm vortrefflich über ‚Gott und die Welt‘ unterhalten, da er noch bis zum Schluss sich durch sämtliche englischen Magazine und Zeitungen las. Daher fehlt er mir unendlich als Gesprächspartner. Er kannte meine Interessen genau und schnitt mir immer Zeitungsartikel aus.
    Ich war bestimmt seit 1991 in der Play-Reading Group und habe sie jetzt an der Uni Stuttgart vollends übernommen. Geld gibt es für ‚sowas‘ natürlich von der Uni nicht. Ich glaube da hat sich zwischen damals und heute nicht viel geändert.
    Auf meinem Schreibtisch liegen noch unsere Flugtickets nach London, bzw. für den wiederholten Besuch von Cambridge. 2017 war ich mit ihm als Begleitperson bei einem ‚Midday Lunch‘ in Trinity College Cambridge – ein unvergessenes Erlebnis. Im Frühjahr 2020 wollten wir das wiederholen, worauf er hinfieberte und was ihn aufrecht hielt. Als unser Flug wegen Corona storniert wurde hat er irgendwie den Lebensmut verloren, das war deutlich.
    Nochmals ‚Danke‘ für diesen interessanten Nachruf. Jetzt weiß ich wenigsten, warum ihm Kiel bis ans Ende so wichtig war. Immer wenn ich wehmütig an Anthony denke lese ich Deinen Blog.
    Es wäre schön von dir zu hören.

    Viele Grüße aus Königsfeld im Schwarzwald von Dietmar Geyer

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