Freitag, 25. September 2020

Juliette Gréco ✝


Ich hatte in Hamburg einen Verwandten, der ein großer Liebhaber von la douce France war. Er war im Krieg als Offizier in Frankreich gewesen, es war die schönste Zeit seines Lebens gewesen. Er bastelte sich in den fünfziger Jahren als höherer Beamter seine Urlaubstage und Überstunden immer so zusammen, dass er jedes Jahr vier Wochen Frankreich im Stück hatte. Ich habe ihn schon in dem Post Picasso erwähnt. Er besaß eine große Sammlung von Platten mit französischen Chansons, aber das war beinahe nur George Brassens. Er wollte mir einmal ein paar Brassens Platten schenken, aber ich lehnte dankend ab.

Ich mag Brassens überhaupt nicht, ich war auf einem ganz anderen Trip. Ich sammelte alles von Juliette Gréco, Cora Vaucaire (die als erste Les feuilles mortes sang) und Barbara. Und ich besaß einen Band von Préverts Paroles, den ich peu à peu auswendig lernte. Bevor ich mir die Paroles kaufte, hatte ich den von Kurt Kusenberg besorgten Band Gedichte und Chansons benutzt, da gab es die Chansons zweisprachig. Das war praktisch, denn mein Französisch war noch nicht so gut, ich war in der Lateinklasse des Gymasiums gewesen. Aber dann gab es eine Reform der Oberstufe, ich konnte zwischen Russisch, Spanisch und Französisch wählen. Ich nahm Französisch und bekam glücklicherweise einen hervorragenden Lehrer.

1962 in Berlin kratzte ich mein ganzes Taschengeld zusammen, um mir eine Karte für das Konzert von der Muse des Existentialismus zu kaufen. Sie hatte Deutschland bisher gemieden; was man verstehen kann, wenn Mutter und Schwester ins das KZ Ravensbrück verschleppt wurden. Unglücklicherweise saß ich (Komödie Kurfürstendamm Reihe 12 Parkett links, Sitz Nr. 141) hinter Deutschlands schönstem Mann, dem Filmschauspieler Paul Hubschmid. Der war ein Sitzriese, und ich versuchte das ganze Konzert lang, an seinem linken oder rechten Ohr vorbei einen Blick auf das sich katzenartig bewegende Geschöpf im schwarzen Kleid zu werfen, das von einer kleinen Combo begleitet da vorne sang. Wenn ich an diesen Abend zurückdenke, dann ist es schon ein wenig komisch, dass ich nicht an Juliette, sondern an die ondulierten Haare von Paul Hubschmid denke.

Juliette Gréco sang an dem Abend viel von Jacques Prévert. Mein Französisch wurde damals von Woche zu Woche besser, weil ich wie viele meiner Klasse, diese Exi Phase hatte. Schwarze Rollis und alte Tweedjacketts tragen und nur noch französische Filme gucken war de rigeur. Und nebenbei begann ich, Proust zu lesen. Ich weiß, dass ich Sie jetzt langweile, ich habe das schon mehrfach hier im Blog gesagt, das steht schon in den Post Jacques Prévert und souvenirs et regrets. Aber es ist ja alles wahr. Und es sitzt immer noch im Herzen. Die Bücher und Platten sind immer noch da. Die Eintrittskarte für das Juliette Gréco Konzert liegt noch immer im Schreibtisch, ich bewahre sie wie eine Reliquie auf. Nur die Frauen, denen man damals Liebesgedichte von Jacques Prévert in die Briefe schrieb, sind entschwunden. Aber Préverts Gedichte und Juliettes Chansons bringen alles zurück, les souvenirs et les regrets aussi.

Das Tweedjackett für uns Exis durfte nicht neu sein, es musste so aussehen, als ob man einen Irischen Wolfshund ausgekämmt hatte. Also dieser Look der Jazzkeller des Rive Gauche oder der Riverkasematten in Hamburg. Neben dunklem Rolli und Tweedjackett musste man natürlich noch einen Band Camus oder Sartre unter dem Arm tragen. Das fiel ins Auge, Rowohlt hatte für beide Autoren rote Buchumschläge gewählt. Und dann musste man für Juliette Gréco schwärmen, was ich selbstverständlich tat. Das habe ich hier schon einmal gesagt. Und non, je ne regrette rien. Juliette soll mal eine Affäre mit Camus gehabt haben, aber das ist nicht so sicher. Sicher ist aber, dass Sartre, der auch ein Chanson für sie schrieb, sie entdeckt hat und im Hotel La Louisiane untergebracht hat, wo die ganzen amerikanischen Jazzmusiker hockten. Sartre hat auch gesagt, sie habe in ihrer Stimme des millions de poèmes qui ne sont pas écrits et dont on écrira quelques-uns.

Juliette Gréco erfand den existenzialistischen Stil: langes, glattes Haar mit Stirnfransen, die 'Frisur einer Ertrunkenen', wie der Journalist Pierre Drouin es nannte, dazu dicke Pullis und Männerjacken mit hochgekrempelten Ärmeln. Gréco schrieb, ihre langen wilden Haare hätten sie in der Kriegszeit warm gehalten. Dasselbe sagte Simone de Beauvoir über ihren Turban. Existenzialisten trugen schlabbrige Hemden und Trenchcoats, einige pflegten einen frühen Punk-Stil. Einer lief mit einem 'völlig zerrissenen und zerlumpten Hemd herum', schrieb Drouin. Bald jedoch setzte sich der typische Exi-Look durch: der schwarze Rollkragenpulli.

Das schreibt Sarah Bakewell in ihrem wunderbaren Buch At The Existentialist Café: Freedom, Being, and Apricot Cocktails. Ich habe die Autorin schon in dem Post Montaigne en allemand vorgestellt, ihre brillante Einführung in den Existentialismus gibt es auch auf Deutsch, wie Sie dem Zitat oben entnehmen können. Sarah Bakewell recounts the story of existentialism with wit and intelligence, offering a fresh take on a discipline often deemed daft and pretentious, hat Andrew Hussey im Guardian gesagt.

Und hinzugefügt: It helps that she writes well, with a lightness of touch and a very Anglo-Saxon sense of humour. Das ist es, was Bakewell perfekt beherrscht: schwierige Dinge ganz einfach zu erklären. Und zu den wärmenden Haaren von Juliette Gréco sollte man noch anmerken, dass die bis zum Po gingen. Schreibt sie auf jeden Fall in ihrer Autobiographie. Gerade auf Deutsch erschienen ist Agnès Poiriers Buch Left Bank: Art, Passion and the Rebirth of Paris 1940–1950. Ein wenig oberflächlich und nicht auf dem Niveau von Bakewell, aber doch ein schönes Sittengemälde der Zeit. 

Die langen Haare von Juliette Gréco und Rita Renoir (der tragédienne du strip-tease), die schwarzen Rollis, das leicht versiffte Aussehen, das war das Äußerliche. Man konnte den Stil leicht nachahmen, es gab genügend Wochenschauaufnahmen und Photos von der Pariser Szene. Wir stellten uns eine Gesellschaft außerhalb der Gesellschaft vor, die in Bars und Nachtclubs lebte; in einem Paris, das in unserer Vorstellung der Dunkelheit des amerikanischen Film Noir und dem französischen Poetischen Realismus (man denke an Le jour se lève und ✺Le Quai des brumes) entsprungen war. So ganz falsch war das wohl nicht, denn es gibt mittlerweile ein Buch mit dem Titel Existentialism, Film Noir, and Hard-Boiled Fiction

Die Liebe zum französischen Chanson ist mir geblieben. Zwei Jahre nach dem Juliette Gréco Konzert in Berlin war ich wieder einmal in Frankreich. An einem sonnigen Oktobertag hörte ich in einem kleinen Kaff im französischen Zentralmassiv auf der Straße Françoise Hardys Tous les garçons et les filles. Ging ins Ohr, hatte ich noch nie gehört. Ich ging in den Laden, um die Platte zu kaufen. Drei herumlungernde Jugendliche in Lederjacken, die wie schlechte kleine Kopien von Johnny Halliday aussahen, guckten mich mit offenem Mund an. Erst in dem Augenblick wurde mir klar, dass eine deutsche Uniform hier nicht unbedingt zum Alltag gehört. Die Platte von Françoise Hardy habe ich immer noch. Es ist nicht Cora Vaucaire oder Juliette Gréco, aber irgendwie ist es auch schön. Und auch schon Geschichte. Filme von der Qualität der Nouvelle Vague gibt es nicht mehr und Carla Bruni ist kein Ersatz für Juliette Gréco, Lena kein Ersatz für Françoise Hardy. Das Erstaunliche an der Kultur der fünfziger und sechziger Jahre ist, dass das, was sie hervorgebracht hat, ungeheuer haltbar ist.

Als ich den Post Que reste-t-il de nos amours schrieb, musste ich natürlich Charles Trenet hören, den hat Juliette gekannt, sie hat seine Chansons auch gesungen. Auf dem Photo hier wird sie von Eddie Constantine und Charles Trenet geküsst. Die CDs von Trenet brauchte ich nicht lange im Regal zu suchen, das war nicht so eine Aufräumaktion wie die, die ich in Hyperlink beschrieben habe. Die französischen Chansons waren alle an ihrem Platz, da, wo sie sein sollten (zwei CDs von Brassens besitze ich übrigens auch). Was mich etwas irritierte, war eine Raubkopie, auf der Juliette Gréco Abendlied stand. Hatte ich mal geschenkt bekommen, ich weiß nicht mehr von wem. Hatte ich die jemals gehört? Ich legte sie in den CD Player und hörte sie für den Rest des Tages. Manches davon kannte ich von anderen Platten oder CDs, also zum Beispiel das Lied mit der Ameise. Aber da gab es etwas, das ich noch nie gehört hatte, das war das Lied Mon fils chante von Maurice Fanon und Gérard Jouannest auf deutsch gesungen:

Für die, die nicht der Wetterwind dreht
Weil sie noch nicht käuflich sind
Weil sie noch ohne Angst, mein Kind, sing!

Für die die noch nicht schweigen und 
die noch der Welt das zeigen was
Recht und was Unrecht ist, mein Kind, sing!

Für die, die noch nicht blind gemacht
Bouzouki in der Sommernacht
ist kein Ersatz für Freiheit, Kind, sing!

Für die, die man einst vor der Stadt
zur Kirschenzeit verrissen hat
daß man sie nicht vergißt, mein Kind, sing!

Sing für die Freiheit, Kind
Hinter den Mauern sind
Menschen, die brauchen Dein Lied
Sing für Gerechtigkeit 
Gegen Gleichgültigkeit
und gegen Haß, mein Kind

Für die, die schon die Ketten seh'n
und dennoch mutig weitergeh'n
Für eine kleine Hoffnung, Kind, sing!

Für die, die in Gefangenschaft
liegen in Nacht und Dunkelhaft
Die dennoch ungebeugt, mein Kind, sing!

Für die, die vielleicht niemals mehr
die rote Sonne über'm Meer 
hinter Piräus seh'n, mein Kind, sing!

Für die, die einem Hoffnungsstrahl folgen,
die für das Ideal Freiheit 
zugrundegeh'n, mein Kind, sing!

Bei YouTube hat jemand das mit den Worten kommentiert: Nie war ein Text aktueller als heute, da ist sicher etwas dran. Die Melodie ist von Gérard Jouannest, dem Mann, mit dem Juliette Gréco seit 1968 zusammenarbeitet. Er hatte zuvor Lieder für Jacques Brel geschrieben, wie zum Beispiel das berühmte Ne Me Quitte Pas. Aber Brel (der in meinem Ikea CD Regal auch gut vertreten ist) hatte aufgehört zu singen, seine einjährige Abschiedstournee ging 1967 zu Ende. Jouannest sollte 1968 Barbara auf einer Tournee begleiten, aber die Tournee fiel ins Wasser, da sprang er bei Juliette Gréco als Klavierbegleiter ein, weil deren Pianist ausgefallen war. Er blieb bei ihr, nicht nur als Klavierbegleiter, er schrieb ihr Chansons (Mon fils chanteVivreLes années d’autrefoisUn jour d’été und C’était un train de nuit) und heiratete sie.

Nach einem halben Tag Juliette aus dem CD Player konnte ich sie am Abend auch noch sehen. Denn arte hatte wegen des Todes von Michel Piccoli sein Programm geändert. Sendete zuerst Sautets Film Les choses de la vie und dann die Dokumentation Der erstaunliche Monsieur Piccoli. In dem Film gibt es eine kurze Sequenz vom INA mit einem Interview des frischgebackenen Ehepaars Gréco und Piccoli, die es geschafft hatten, der Presse zu entgehen.

In dem Film ist auch die Szene zu sehen, wo Piccoli in Belle de Jour die Deneuve mit schmutzigem schwarzen Schlamm bewirft, fand ich immer die beste Szene des Films. Ich mochte den Film nie. Truffaut dreht bessere Filme, die Deneuve ist in La Sirène du Mississipi lebendiger als in Belle de Jour. Truffaut, der mit der Deneuve (wie mit beinahe all seinen Hauptdarstellerinnen) eine Affäre hat, hat einmal angedeutet, dass die Deneuve nur durch ihre Schönheit wirkt, nicht durch ihre schauspielerischen Qualitäten. Aber mit dem Schlamm im Gesicht ist sie sehr überzeugend. 

Juliette Gréco ist niemals mit Schlamm beworfen worden. Die Presse war immer gut zu ihr, auch wenn ihr Chanson ✺Déshabillez-moi 1967 ein kleiner Skandal war. Lediglich für ihre Schauspielkunst in dem Film ✺Quand tu liras cette lettre, in dem sie neben ihrem damaligen Ehemann Philippe Lemaire spielte, fand der junge François Truffaut (er war damals einundzwanzig) keine guten Worte: Philippe Lemaire is far from bad, but Juliette Gréco is far from good. She says banal things in a tragic voice and tragic things in an everyday voice. A courageous film? No. A film to see? No. Am I being unjust? No (everyone tells me). Filme sind nicht so ihre Sache. Die schwarze Lorelei, wo sie an der Seite von O.W. Fischer zu sehen ist (ich habe den Film schon in dem Post Lurley erwähnt), habe ich mir nur ihretwegen angeguckt. Ihre schwarzen Jeans waren das einzig Sehenswerte in diesem Film.

In dem Film Bonjour Tristesse, nach dem Roman von Françoise Sagan, kann man ihr nicht anmerken, dass sie gerade einen Selbstmordversuch hinter sich hat und Françoise Sagan ihr Leben verdankt. Sie schreibt darüber in ihrer Autobiographie: Alles was in Paris Rang und Namen hatte, war hier im Régine versammelt. Der Abend war bereits forgeschritten. Aber das einzige, was ich bisher zu hören bekommen hatte, waren Klatsch, Lügen und Bosheiten gewesen. Keiner der Gäste war verschont worden. Ich ging nach Hause, ich ekelte mich und schluckte Schlaftabletten, um diese plötzliche Aversion gegen Menschen, die so wenig zu mir passt, für immer loszuwerden. Aber warum? Eigentlich sind Selbstmordgedanken für mich etwas Fremdes. Um vier Uhr morgens fand Françoise Sagan mich im Badezimmer auf dem Boden liegend. Sie rief den Notarzt. Als ich die Augen öffnete, blickte ich in ein zauberhaftes Gesicht, das eine Schwesternhaube krönte. Und ich sagte: 'Sie sind aber schön'. Ich hatte mit dem Leben wieder Frieden geschlossen.

Der Tag, an dem ich dank Abendlied und der arte Dokumentation mein volles Juliette Gréco Nostalgieprogramm hatte, war übrigens auch der Geburtstag von Miles Davis. Mit dem Juliette Gréco mal so etwas wie eine Affäre hatte, als sie jung war. Der Trompeter hat darüber gesagt: Juliette und ich pflegten an der Seine spazieren zu gehen, Hand in Hand, küssten uns, schauten uns in die Augen, küssten uns wieder und drückten unsere Hände noch etwas fester. Es war wie Magie, als sei ich hypnotisiert worden, als sei ich in einer Art Trance. Ich hatte so etwas zuvor noch nie erlebt. Wenn Sie wollen, können Sie jetzt noch den Film Fahrstuhl zum Schafott mit der Musik von Miles Davis sehen.

Juliette Gréco starb am 23. September 2020 in ihrem Haus in Ramatuelle. Sie ist dreiundneunzig Jahre alt geworden, das ist ein schönes Alter. Mit achtundachtzig hatte sie ihre Abschiedstournee durch Europa gemacht. Sie hat ihr Leben lang Schwarz getragen, lange bevor das durch Prada modern wurde. Das Schwarz sollte ihren Körper verhüllen: Ich war nicht schön, ich hatte immer ein Problem mit meinem Aussehen, fand mich dumm und hässlich. Jetzt finde ich mich ein bisschen weniger dumm. Körperlich habe ich ein bisschen versucht, etwas zu ändern, dann hab ich's gelassen – Schluss damit, ich habe mich akzeptiert. Wenn man sich selbst liebt, ist man sowieso erledigt. Man muss die anderen dazu bringen, einen zu lieben! Sie hätte anziehen können, was sie wollte, schwarze Rollis oder ein Chanel Kostüm wie hier, wir haben sie immer geliebt. Und wir können ihre Stimme immer wieder hören, wenn sie Ne me quitte pas singt. Und wir brauchen nur einen Klick, um sie 1970 oder 2004 auf der Bühne zu sehen. Wir müssen bei YouTube nur vorher die Suzuki Reklame oder die Katzenfutter Reklame ertragen.

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