Sonntag, 27. November 2011

Homestory



Martin Roth wirkt müde, und das liegt nicht allein an dieser 29-jährigen Praktikantin, die gerade anderthalb Tage lang seine volle Aufmerksamkeit gefordert hat.
Das ist jetzt nicht der Anfang eines schlechten Romans, in dem der Romanheld Martin Roth von anderthalb Tagen Sex ermüdet ist. Nein, dies ist deutscher Journalismus, es stand in der ➱Zeit. Der Verfasser, offensichtlich ein verhinderter Romanautor in der Courths-Maler Tradition, fährt fort: Er führte sie durch sein Museum, zu Skulpturen und Gemälden, Couture-Kleidern und Designermöbeln; sie plauderten angeregt mit Restauratoren, und zur Mittagszeit ließ Roth in seinem Büro Sandwiches servieren. Ach, ich liebe diesen Stil, voll von dem, was der Engländer purple passages nennt. Eine Homestory der ganz besonderen Art, die eine breite Schleimspur über die Seite der Zeit zieht. Wenn ich beim Zahnarzt im Wartezimmer die Gala oder ähnliche Blätter lese, dann erwarte ich nichts anderes. Aber dies ist die Zeit, kann man da nicht noch Reste eines seriösen Journalismus erwarten?

Nicht nur 29-jährige Praktikantinnen ermüden Martin Roth: Roth kippt einen Espresso. Eben hat er sich im Spiegel angeschaut und für zu blass befunden. Sein neues Leben, sagt er, »zieht viel Energie aus dem Leib«. Und was ist es, was ihn müde und blass werden lässt? Die Antwort ist: Seine ständigen Touren, die er unternimmt, um sich besser zurechtzufinden in dem weitläufigen wie verwinkelten Kulturpalast. Ja, das ist schon enervierend, wenn man sich am Arbeitsplatz ständig verläuft.

Das Ganze endet mit einem geradezu poetischen Absatz: Es ist schon Abend, als Martin Roth in die Eingangshalle seines Museums strebt. Sie ist bunt von Menschen. Einige tanzen, ein DJ legt auf. Bei einem Renaissance-Brunnen nippen Hipster an Espresso Martini. Nebenan lauschen sie Vorträgen über Postmoderne – Stil und Subversion 1970–1990. Die V&A-Ausstellung liefert diesmal das Motto für den monatlichen Themenabend »Friday Late«, inzwischen ein Pflichttermin für Londons junge Kreative. Von einer Empore aus blickt Roth auf die Szene. »Wahnsinn, nicht?«, ruft er. Dann geht er wieder arbeiten.

Ja, und wie es bei Eichendorff heißt: von fern schallte immerfort die Musik herüber, und Leuchtkugeln flogen vom Schloß durch die stille Nacht über die Gärten, und die Donau rauschte dazwischen herauf – und es war alles, alles gut!

Ich könnte jetzt natürlich eine philologische Stilanalyse des Zeit-Textes machen, das habe ich gelernt, das ist jahrzehntelang mein Beruf gewesen. Aber ich kann das auch lassen, weil bei solchen Texten vor meinem inneren Auge automatisch die Sprechblase eines Comics auftaucht, in der Kotz Würg! steht. Mehr braucht man dazu nicht zu sagen. Aber wo bleibt das Positive? Das Positive ist, dass wir einen neuen Hoffnungsträger haben, dieser Martin Roth ist in der Darstellung der Zeit ja larger than life, geradezu ein Renaissance Man, da bieten sich doch noch ganz andere Aufgaben an als Direktor des Victoria und Albert Museums zu sein. Und für den Verfasser des Artikels gelten die Sätze von Gustav Freytag aus dem Lustspiel Die Journalisten: Achten Sie vor allem auf Ihren Stil..., guter Stil ist die Hauptsache. Schreiben Sie gewichtig, schreiben Sie tief, man verlangt das heut zu Tage von einer Zeitung, daß sie tief ist. Man sollte tief schreiben aber nicht mit tief sinken verwechseln.

Was mich an der Homestory der Zeit ein klein wenig irritiert, sind die folgenden Sätze: Sir Mark trat unnahbar auf. Als sich Martin Roth der Belegschaft vorstellte, sprach er über seine Frau, die drei Kinder – und die Exfrau. »Seine Rede war so persönlich, dass vielen von uns der Atem stockte«, sagt eine britische Mitarbeiterin. Es war Roths erste kleine Revolution. Ich weiß nicht, ob das Wort Belegschaft hier richtig gewählt ist, aber ich weiß, dass mir auch der Atem stocken würde, wenn ich Engländer wäre. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit in der Öffentlichkeit von Frau, Kindern und Exfrau zu reden, dass würde kein englischer Gentleman tun. Kein wohl erzogener Mann würde das tun. Wir wissen natürlich, wer so etwas machen würde - jetzt einmal von Atze Schröder abgesehen. Richtig: Politiker. Hat Herr Roth nicht vielleicht auch noch einen Hund, der der Erwähnung wert gewesen wäre? Richard Nixon hat mit seiner Checkers Rede ja großen Erfolg gehabt.

Sir Mark trat unnahbar auf. Really? Mark Jones ist Engländer, die sind nun mal so. Sir Mark Jones, der gerade Master des St Cross College in Oxford geworden ist, hat das V&A in zehn Jahren gründlich modernisiert. Siebzig Prozent des Museumskomplexes wurden umgebaut. Ich habe in all den Jahren seiner Amtszeit im Observer nichts Negatives über ihn lesen können. Von Unnahbarkeit war da nie die Rede, eher stand da affable and unassuming, manchmal charismatic. Und dass er mit dem Fahrrad zur Arbeit kam. Er hat seine Arbeit still gemacht, für ihn war es kein Showbusiness, das größte Kunstgewerbe- und Designmuseum der Welt zu leiten. Da war er ganz anders als Sir Nicholas Serota, der Direktor vom Tate (dessen Wikipedia Artikel auch fünfmal so lang ist wie der von Jones). Und natürlich war er auch nicht so flamboyant wie Robert Neil MacGregor, der Direktor des British Museum. Der ist ja alle naselang im Fernsehen und macht Schlagzeilen mit dem Schwur, die Elgin Marbles niemals an Griechenland zurückzugeben. Wäre im Augenblick wohl auch keine gute Idee, die verscheuern die glatt weiter.

His leaving speech was a model of modesty, schrieb der Evening Standard vor Monaten, von Sir Mark trat unnahbar auf redete in England niemand. Vielleicht hätte der Zeit Journalist mal seine Hausaufgaben machen sollen, bevor er die Lobeshymne auf Martin Roth schrieb. Mark Jones, der im letzten Jahr als Knight Bachelor für services to the arts geadelt wurde, hat in zehn Jahren die höchsten Besucherzahlen in der Geschichte des Museums erreicht. Er hat auch die kulturellen Kontakte zu dem südostasiatischen Raum vertieft (das V&A hatte 1879 vom India Office das Indian Museum übernommen, eine der größten Sammlungen indischer Kunst). Er hat zu der Gegend ein besonderes Verhältnis, weil er mal ein halbes Jahr am National Museum of Singapore hospitiert hat. Mark Jones kommt aus einer Gelehrtenfamilie, seine Mutter ist die Historikerin Ann Paludan, sein Urgroßvater war der berühmte Gilbert Murray. Aber das wird er im Museum nicht erzählt haben. Weil er sein Privatleben wie alle upper middle class Engländer privat hält.

Er unterscheidet sich von seinem Nachfolger natürlich noch in einem wichtigen Punkt: er ist Kunsthistoriker. Studierte zuerst in Oxford, dann am Cortauld Institute. Danach war der Spezialist für Münzen und Medaillen achtzehn Jahre am British Museum tätig, unter anderem organisierte er die vielbeachtete Ausstellung Fake? The Art of Deception. Münzen und Medaillen interessieren nicht jeden Kunsthistoriker. Alfred Lichtwark interessierte sich schon dafür, wie man seinen Reisebriefen entnehmen kann. Die Kunsthalle Kiel interessierte sich überhaupt nicht für ihre Sammlung. Verstaute sie in einem Verschlag auf dem Dachboden. Bis sie vom Hausmeister geklaut und peu à peu auf dem Schwarzmarkt verscherbelt wurde. Das wäre Mark Jones, als er Keeper des Department of Coins and Medals im British Museum war, bestimmt nicht passiert.

1992 wurde Jones Director der National Museums of Scotland. Er hat das Museum of Scotland aufgebaut und sich dafür viel Anerkennung erworben. Martin Roth ist zwar Professor (Honorarprofessor an einer TU) und Doktor, aber er ist kein studierter Kunsthistoriker. Roth ist Kulturmanager, das ist eine neue Sorte Mensch. Den Studiengang Kulturmanagement kannten Leute wie ➱Wilhelm von Bode, Gustav Pauli oder ➱Alfred Lichtwark noch nicht. Die machten das noch so nebenbei. Bisher war Roth erfolgreich - aber das war Mark Jones auch. Und affable and unassuming.

Ich habe rein gar nichts gegen den umtriebigen ➱Selbstdarsteller Martin Roth (obgleich er die Engländer erst noch verstehen lernen muss, er arbeitet ja schon mal an der Verbesserung seiner Englischkenntnisse) - ich habe nur etwas gegen diese Sorte Journalismus. Die Zeit ist sehr oberflächlich geworden, seit Giovanni di Lorenzo mit Helmut Schmidt auf eine Zigarette plaudert oder dem Betrüger Guttenberg eine neue ➱Plattform gibt. Da sehnt man sich doch Karl Kraus und Kurt Tucholsky zurück. Ich habe beinahe ein halbes Jahrhundert lang die Sunday Times oder den Observer gelesen, da sehnt man sich nicht so sehr nach dem deutschen Journalismus. Ich lese die Zeit heutzutage ungern, obgleich sie das Bremer Wappen auf der Titelseite hat (die Hansestadt Hamburg wollte der Zeitung bei der Gründung ja die Verwendung ihres Wappens nicht gestatten, die ➱Bremer hatten nix dagegen).

Wenn man alles über das V&A wissen will, dann sollte man sich den Katalog A Grand Design: Art of the Victoria and Albert Museum kaufen. Wenn man wissen will, wie es in einem englischen Museum aussieht, dann sollte man nicht die Zeit lesen sondern lieber einen Roman. Wie The Hound in the Left-Hand Corner von Giles Waterfield, über den der ➱Observer schrieb 'The Hound in the Left-Hand Corner' is a rumbustious and hugely entertaining satire about the world of museums in the age of New Labour, where scholarship wilts and Mammon rules. Gebildet und bildend, geistreich und gleichzeitig schreiend komisch. Gibt es bei Amazon ab 0,01 €. Die besten Dinge im Leben sind häufig so gut wie umsonst. Der ➱Eintritt in das V&A ist auch frei, dafür hatte Mark Jones bei seinem Amtsantritt gesorgt (die Sonderausstellungen kosten allerdings einen happigen Eintritt).

In ➱Bonn wurde gerade die Ausstellung Art and Design for All: The Victoria and Albert Museum eröffnet. Die Ausstellung geht noch bis zum 15. April 2012, der Katalog kostet 32 €.

1 Kommentar:

  1. Sehr interessant.
    Schöne Darstellung falscher Predigen und korrekter Attribute.

    Apropos: Heute, 22:30 Uhr WDR WestArt gucken. V&A in Bonn!

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