Donnerstag, 23. April 2020

schöne Geschichten


William Turner wurde heute vor 245 Jahren geboren, er war schon häufig in diesem Blog (mein Lieblingspost ist William Turner in Kiel). Heute soll es einmal um Turner den Dichter gehen. Der Maler hat sich sehr für Dichtung interessiert, Zitate von John Milton und James Thomson waren titelgebend für manche seiner Gemälde, und durch den Lake District, den Wordsworth bedichtete, malte sich Turner auch hindurch. To see clearly is poetry, hat er einmal gesagt, und viele Kritiker haben seine Bilder als Gedichte bezeichnet. Für Turner stand fest: Painting and Poetry flowing from the same fount... reflect and refract each other’s beauties with reciprocity of splendorous allusions. Als er 1840 sein Bild The Slave Ship in der Royal Academy ausstellte, hing ein Gedicht von ihm daneben an der Wand, Zeilen aus einem unvollendeten Gedicht, das Fallacies of Hope heißt:

Aloft all hands, strike the top-masts and belay;
Yon angry setting sun and fierce-edged clouds
Declare the Typhoon’s coming.
Before it sweeps your decks, throw overboard
The dead and dying – ne’er heed their chains
Hope, Hope, fallacious Hope!
Where is thy market now?

Wenn man bei Google Turner und Poem eingibt, bekommt man den Text eines langen Gedichtes von Turner, das eine seltsame Geschichte hat. Die mit diesem Bild hier beginnt. Das schöne Bild vom Golf von Neapel im Mondlicht sieht aus wie ein Turner, ist aber keiner. Es wurde von dem russischen Maler Iwan Konstantinowitsch Aiwasowski gemalt. Turner hat das Bild gesehen: 1842 begegnete Aivazovsky William Turner, der in jenem Jahr in Rom lebte. Der Engländer zeigte sich so tief beeindruckt vom Gemälde 'Golf von Neapel in einer Mondnacht', dass er es sich nicht nehmen ließ, auf Italienisch ein paar Worte der Hochschätzung für das Gemälde und seinen Schöpfer zu verfassen: 'Vergeben Sie mir, Verehrter Meister, wenn ich geirrt und Ihre Arbeit für die Wirklichkeit gehalten habe, doch das Bild hat mich in seinen Bann gezogen und vollkommen überwältigt. Ihre Kunst ist erhaben und eindringlich, weil sie von Ihrem Genie beseelt ist.' Die außerordentliche Wirklichkeitsnähe der Bilder Aivazovskys verblüffte demnach nicht nur den gemeinen Betrachter, sondern auch Kollegen. Das Zitat findet sich auf einer Seite des Wiener Auktionshauses Dorotheum. Es ist eine schöne Geschichte, sie hat nur einen kleinen Fehler.

Turner ist 1842 nicht in Rom. Er ist in Deutschland, malt die Eröffnung der Walhalla, ist in Konstanz, malt den Bodensee und macht einen Abstecher in die Schweiz. Aber nicht nach Rom. Und warum soll er seine Wertschätzung des Gemäldes des russischen Kollegen auf Italienisch verfassen? Er war Anfang und Ende der 1820er Jahre in Rom, ein wenig Italienisch kann er. Aber reicht das für dies lange Gedicht, das ich in seiner englischen Version präsentiere:

Like a curtain slowly drawn
It stops suddenly half open,
Or, like grief itself, filled with gentle hope,
It becomes lighter in the shore-less dark,
Thus the moon barely wanes
Winding her way above the storm-tossed sea.
Stand upon this hill and behold endlessly
This scene of a formidable sea,
And it will seem to thee a waking dream. 
That secret mind flowing in thee 
Which even the day cannot scatter, 
The serenity of thinking and the beating of the heart 
Will enchain thee in this vision; 
This golden-silver moon 
Standing lonely over the sea, 
All curtain the grief of even the hopeless. 
And it appears that through the tempest 
Moves a light caressing wind, 
While the sea swells up with a roar, 
Sometimes, like a battlefield it looks to me 
The tempestuous sea, 
Where the moon itself is a brilliant golden crown 
Of a great king. 
But even that moon is always beneath thee 
Oh Master most high, 
Oh forgive thou me 
If even this master was frightened for a moment 
Oh, noble moment, by art betrayed… 
And how may one not delight in thee, 
Oh thou young boy, but forgive thou me, 
If I shall bend my white head 
Before thy art divine 
Thy bliss-wrought genius…

Der Text findet sich im Internet bei Facebook und Pininterest, zwei Adressen, die nicht unbedingt für wissenschaftliche Zuverlässigkeit stehen. Der Text soll, und jetzt wird es ganz kurios, eine englische Übersetzung eines armenischen Gedichts von Howhannes Schiras sein, das auf einer russischen Übersetzung von Turners italienischem Text basiert, der in der Zeitschrift Russkaya Starina 1878 abgedruckt wurde.

Es gibt noch einen anderen Text, den Turner vielleicht geschrieben hat, als er Aiwasovsky in London traf. Diesen Text hat man beim Dorotheum offensichtlich gekannt, im Englischen lautet er:

In this your picture
I see the moon, all gold and silver.
Reflected in the sea below.
And on the surface of the sea
There plays a breeze which leaves a trail
Of trembling ripples, like a shower 
Of fiery sparks or else the gleaming headdress 
of a mighty king!
Forgive me if I err, great artist, 
Your picture has entranced me so,
Reality and art are one, 
And I am all amazement.
So noble, powerful is the art 
That only genius could inspire!

Man kann unschwer erkennen, dass dieser Text die Basis des langen Textes ist. Er findet sich so in zwei Büchern von Edward Strachan und Roy Bolton, die in London eine Galerie russischer Kunst betreiben. Wenn Turner überhaupt etwas für Iwan Aiwasowski geschrieben hat, dann sind es diese vierzehn Zeilen gewesen.

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