Mittwoch, 8. April 2020

Windgeschenke


Es war ein Aufräumanfall, Frühjahrsputz, der mich die Schublade der Kommode öffnen ließ. Da ich zuvor die Tagebücher wiedergefunden hatte, dachte ich, hier könnte ich auch noch etwas finden. Ich fand. Ein großer Packen von Liebesbriefen von der Frau, die immer wieder in diesem Blog auftaucht, zuletzt wohl in romancier manqué. Die Briefe waren fünfzig Jahre alt, ich konnte mich noch an alles erinnern, was da mit blauer Tinte auf grauem Papier stand. Nur nicht an das Gedicht von Hilde Domin, das sie da abgeschrieben hatte. Das nehme ich mal heute als Gedicht des Tages, weil es ein sehr schönes Gedicht ist.

Vor achtzig Jahren hat Hilde Löwenstein, auf ihrer Flucht vor den Nazis in der Dominikanischen Republik eine neue Heimat gefunden. Sie begann Anfang der fünfziger Jahre in einer schweren Krise, Gedichte zu schreiben: Es war ein Gnadenakt von höherer Seite. Ich kann nicht sagen, dass ich etwa fromm wäre und einen persönlichen Gott sähe, der mir im Moment, wo ich dem Selbstmord nahe war, einen Rettungsring zugeworfen hätte. Aber die Situation war diese, dass ich völlig an der Kippe war und nicht mehr leben konnte. Und da habe ich die Möglichkeit gehabt, mich auszudrücken. Das ist so das, was der Katholik in der Beichte tut, wo er sich erleichtert; und was wir, die wir kreativ sind oder plötzlich in einer Herzensnot kreativ geworden sind – wir können sagen, was uns bedrückt. Und dann ist es objektiviert – und man stirbt nicht mehr daran.

Als sie 1954 nach Deutschland zurückkehrte, nahm sie sich als Schriftstellerin einen neuen Namen, ein Pseudonym. Und nannte sich nach der Dominikanischen Republik Domin. Sie hat das in ihrem Gedicht Landen dürfen gesagt:

Ich nannte mich
ich selber rief mich
mit dem Namen einer Insel

Es ist der Name eines Sonntags
einer geträumten Insel.

Kolumbus erfand die Insel
an einem Weihnachtssonntag.

Sie war eine Küste
etwas zum Landen
man kann sie betreten
die Nachtigallen singen an Weihnachten dort.

Nennen Sie sich, sagte einer
als ich in Europa an Land ging,
mit dem Namen Ihrer Insel.

Mein Gedicht des Tages, das ich in diesem alten Liebesbrief fand, heißt Windgeschenke. Es ist eins ihrer frühen Gedichte, es findet sich 1959 in ihrem ersten Gedichtband Nur eine Rose als Stütze, mit dem sie über Nacht berühmt wurde:

Windgeschenke

Die Luft ein Archipel von Duftinseln.
Schwaden von Lindenblüten
und sonnigem Heu,
süß vertraut,
stehen und warten auf mich
als umhüllten mich Tücher,
von lange her
aus sanftem Zuhaus
von der Mutter gewoben.

Ich bin wie im Traum
und kann den Windgeschenken kaum glauben.
Wolken von Zärtlichkeit
fangen mich ein,
und das Glück beißt seinen kleinen Zahn
in mein Herz.

Hilde Domin ist beinahe 97 Jahre alt geworden, kurz vor ihrem Tod hat die jungen Filmemacherin Anna Ditges den Dokumentarfilm Ich will Dich mit ihr gedreht, den hätte ich jetzt gerne gezeigt, ich habe aber hier nur den Trailer. Die DVD Ich will Dich: Begegnungen mit Hilde Domin kann man aber noch kaufen, es ist ein beeindruckendes Dokument von einer Dichterin, die einmal gesagt hat: Schreiben ist für mich wie Atmen. Man stirbt, wenn man es lässt.

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