Montag, 14. Juni 2021

nach sechzig Jahren


Vergangenheit ist immer neu. Sie verändert sich dauernd, wie das Leben fortschreitet. Teile von ihr, die in Vergessenheit versunken schienen, tauchen wieder auf, andere wiederum versinken, weil sie weniger wichtig sind, hat Italo Svevo geschrieben. Ich bin gerade wieder einmal auf einer Reise in die Vergangenheit, weil mir der Konny ein Photo geschickt hatte, das ich noch nie gesehen hatte. Und weil hier Teile, die in Vergessenheit versunken schienen, wieder auftauchten. Das Photo wurde vor sechzig Jahren in der Vegesacker Strandlust beim Abtanzball der Tanzschule Nico Arff gemacht. Damals sah die 1898 von den Bremer Architekten Klingeberg und Weber erbaute Strandlust ungefähr so aus, es gab hier noch einen Strand, sonst hätte der Name Strandlust keinen Sinn gemacht. Heute ist da eine Stahlspundwand, und das renommierte Lokal ist nach 122 Jahren pleite. Bis Ende des Monats Juni ist es noch Covid Impfzentrum für Bremen-Nord, dann wird auch das dichtgemacht. 

Das in der Kaiserzeit gebaute Etablissement Strandlust hatte einen großen Saal mit Galerie und Bühne, Klubräume und ein Restaurant, es gab einen Sommergarten mit einem Musikpavillon. Dies war eine Gaststätte der gehobenen Art an der Weser, ein beliebtes Ausflugsziel für Bremer, die mit einem Dampfer der weißen Flotte der Schreiber Reederei direkt vor der Strandlust anlegen konnten. Dies war der Ort für Tanzveranstaltungen aller Art. Zum Beispiel als diese drei Herren vom Vegesacker Ruderverein 1952 in Helsinki die Silbermedaille gewannen. Der mit der Mütze hier vorne war der ältere Bruder eines Klassenkameraden von mir. Mit dem Herrn in den Mitte hat meine Mutter den ganzen Abend beim feierlichen Ruderball getanzt. Davon gibt es noch Photos.

Denn zum Tanzen ging man in die Strandlust. Für den Oberstufenball, den Abiball, den Ball des Rudervereins, den Abtanzball. Wenn man die Limousinen betrachtet, die hier 1940 auf dem Parkplatz stehen, dann kann man sehen, dass dies immer noch eine Gaststätte der gehobenen Art ist. Wenig später war die Strandlust eine Bierhalle für die amerikanische Armee: GI Joe's Number 2 (GI Joe's Number 1 war das Bremer Rathaus), aber dann kamen das Wirtschaftswunder und der Wiederaufstieg des Lokals. Dann sendete Radio Bremen das Hafenkonzert aus der Strandlust. Zeitgleich mit dem Ende der Strandlust endete auch das Hafenkonzert von Radio Bremen, nach 66 Jahren und 1.405 Sendungen war Schluss. Es ist nichts mehr, wie es war.

Die Strandlust bedeutete uns etwas. Hier haben wir am Zaun des Sommergartens gehangen, damit wir den Bundespräsidenten Theodor Heuss auf der Strandstraße sehen konnten, der gerade einen Seenotrettungskreuzer auf seinen Namen getauft hatte. Hier war der halbe Ort versammelt, um die Sieger von Helsinki zu begrüßen. Hier im Saal geiferte und tobte Franz Josef Strauß, hier ist Adolf von Thadden aufgetreten, weil hier sein Geldgeber für die NPD, der Ziegeleibesitzer Fritze Thielen, zu Hause ist. Der finanziert jetzt die neuen Nazis. Seine hübsche Tochter, die mit der Ingrid in einer Klasse war, hat sich immer für den Vater geschämt. Und hier in der Kellerbar mit den Bullaugenfenstern unten in der Strandlust hat die blonde Ute in der Nacht nach einem Ball Summertime gesungen. Der Verein der Ehemaligen hatte mal ein Treffen für die Schüler des Gerhard Rohlfs Gymnasium in der Strandlust für jeden zweiten Weihnachtstag als jour fixe ins Leben gerufen, aber das war Tristesse pur. Da ging man lieber auf ein Bier zu Konnie Krämer ins Fährhaus.

Das Photo, das mir der Konny zugeschickt hatte, zeigt elf junge Paare und eine einzelne Dame ganz rechts. Das ist die Gattin des Tanzlehrers, die ist auf all den Photos drauf, die an diesem Abend gemacht wurden. Er soll sie immer betrogen haben, hat mir der Gerd erzählt, dessen Vater der Polizeichef des Ortes war. Ich kenne nicht alle auf dem Photo, vor allem bei den jungen Damen habe ich Schwierigkeiten mit der Zuordnung. Zwei von den zweiundzwanzig werden heiraten, drei von den Abgebildeten sind schon tot. Für den Wuddel habe ich einen Nachruf in meinem Blog geschrieben. Vier von den jungen Herren werden einen Doktortitel erhalten. Der Mille wird Pastor werden, der Dirk Direktor bei Daimler-Benz. Und der Konny, der wird alles werden, was ein Jurist werden kann, vom Richter an obersten Gerichten bis zum Staatssekretär.

Als er mir schrieb, dass er ein Photo vom Abtanzball hätte, auf dem die Ingrid auch drauf sei, sagte ich: Bitte, schick es mir. Sie kennen diese Frau, sie taucht hier im Blog immer wieder auf, zuletzt in dem Post Print on Demand. Einen Tag später hatte ich das Photo auf dem Bildschirm. Da stand sie nun in einem beinahe trägerlosen Kleid, die einzige von all den jungen Frauen mit nackten Schultern. Irgendwie sieht sie nicht so brav aus, wie man in diesem Alter aussehen soll. Also zum Beispiel die Renate, die immer nett und ordentlich aussah. Aber das bürgerliche Aussehen täuscht ein wenig, Renate ist die einzige, die Kunst studieren wird. Sie war auch in unserer Malgruppe bei dem Maler Heinz Recker, alle die in der Gruppe waren, haben Kunst studiert. Nur ich nicht, aber immerhin habe ich Kunstgeschichte studiert.

Ich wollte mehr über diejenigen wissen, die ich nicht kannte, ich rief den Michael an. Den fand ich schnell im Internet, weil ich wusste, dass er Professor für Landschaftsarchitektur gewesen war, so etwas gibt es nicht so häufig. Ich wollte ihm das Photo vorbeischicken, aber er winkte ab, er hat keine E-Mail Adresse und keinen Computer. Hat er mit der Pensionierung aufgegeben. Cool. Doch er kannte das Photo, und er besaß ein beinahe eidetisches Gedächtnis. Er konnte jede Person auf dem Photo nach sechzig Jahren detailliert beschreiben, mit Körperhaltung und Gesichtszügen. Von der Frau mit dem mißmutigen Gesicht, die ihm für den Abend zugelost worden war, bis zu der netten Frau aus Blumenthal neben dem Wuddel, die ich überhaupt nicht kannte.

Er vermisste allerdings auf dem Bild etliche Leute, aber damit konnte ich ihm aushelfen, weil ich noch ein zweites Bild vom Abtanzball besitze. Das habe ich von der Ute bekommen, die hier in der ersten Reihe zwischen dem Burchi (der Arzt wurde) und dem Eberhard (Industriephotograph) sitzt. Und auch mein Freund Peter ist auf dem Bild, der ist leider schon vier Jahre tot, er fehlt mir immer noch. Ich lieferte dem Michael mündlich eine Bildbeschreibung, dafür brauchte ich nicht mein eidetisches Gedächtnis zu bemühen, ich hatte ja das Bild auf dem Computer vor mir. Mit der Frau, die neben dem Dieter stand, die so frech und witzig schaut und mit dem Kameramann zu flirten scheint, konnte er mir aber nicht weiterhelfen.

Ich rief den Dieter an. Den suchte ich nicht im Internet, weil mir inzwischen eingefallen war, dass ich vom Konny, der über die Jahre auch alle Klassentreffen organisiert hatte, mir mal eine Liste der Lateinklasse geschickt hatte. Die Telephonnummer stimmte noch. Der Dieter wusste ebenso wie der Michael sofort, wer ich war, obgleich wir uns ein halbes Jahrhundert nicht mehr gesehen haben. Der Konny hat mir mal vor Jahren gesagt: Weißt Du Jay, Du kannst mit jedem von uns ein Gespräch da weiterführen, wo ihr vor fünfzig Jahren aufgehört habt. Es ist wirklich wahr, irgendwie hängen wir immer noch zusammen, ob wir es wollen oder nicht. Es ist ein unsichtbares Netz, das manchmal an einem zieht und zerrt, wenn die Erinnerungen zusammen mit den Todesanzeigen kommen. Immer dann, wenn Faulkners Satz Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen wieder einmal wahr wird

Für den Konny hat das Bild vom Abtanzball noch eine besondere Bedeutung, weil da die Frau drauf ist, die er später heiraten wird. Das ist die Siegrun, die dritte von rechts in der mittleren Reihe. Sie steht an der Seite von Lizzie, der so gut Klavier spielen konnte, dass er Jazzpianist hätte werden können, was unseren Musiklehrer Ernst Meißner aber nicht begeisterte. Siegrun hat einen kleinen Blumenkranz im Haar, wie eine kleine Krone. Und sie hat dieses Leuchten im Gesicht, so habe ich sie immer in Erinnerung. Wir waren zusammen in der Volksschule, ich kenne sie sozusagen seit ewig. Als ich vor elf Jahren meine Autobiographie Bremensien schrieb, habe ich ihr Teile vorbeigeschickt, sie hat das alles sehr kritisch gelesen. Sie kannte Ingrid vielleicht besser als ich, sie war während der ganzen Zeit im Lyceum ihre Banknachbarin gewesen. Ich habe alle kritischen Bemerkungen über den Text von ihr akzeptiert, Siegrun war immer ehrlich und immer geradeaus. Und sie hatte viel Humor. Sie ist im letzten Jahr im November gestorben, das ist eine traurige Sache. Den kleinen Roman, den ich in dem Post Que reste-t-il de nos amours erwähnt hatte, hat sie leider nicht mehr lesen können. Es hätte ihr viel Vergnügen bereitet, hat mir der Konny gesagt. Der Konny hat mir damals einen Nachruf eines amerikanischen Kollegen vorbeigeschickt, der die Siegrun durch ihre Freundin Herta Däubler-Gmelin kennengelernt hatte. In dem Brief ist die Rede von Siegrun’s charm, grace, beauty, intelligence ... She carried herself, she spoke and she acted with a quiet and singular dignity. Und das ist es, in wenigen Worten, charm, grace, beauty, intelligence.

Das letzte Photo, das ich von ihr habe, ist elf Jahre alt, das war die Feier der goldenen Konfirmation. Ich konnte an dem Wochenende nicht kommen, aber der Konny hat mir ein großes Farbphoto geschickt. Siegrun hat auf dem Photo immer noch dieses strahlende Lachen. Die Ingrid war auch gekommen, obgleich sie solchen Zusammentreffen eigentlich aus dem Weg geht. Sie hat im Alter angefangen, niemanden mehr kennen zu wollen. Da kannste nichts machen, die iss einfach so, hat mir ihre Klassenkameradin Ute gesagt. Auf dem Photo trägt Ingrid ein leuchtend rotes Jackett und ist gertenschlank wie immer. Sie hat die Augenbrauen hochgezogen und lächelt etwas ironisch. Sie ist die einzige, die eine Sonnenbrille trägt, sie muss immer auffallen. Die Sonnenbrille trägt sie heute immer noch, hat man mir erzählt. Manchmal glaube ich, dass sie in Wirklichkeit Greta Garbo ist.

Die Strandlust gibt es nicht mehr, den Strand auch nicht. Von unserem Badeparadies auf dem Schönebecker Sand ist nichts mehr übrig. In der Weser würde auch niemand mehr freiwillig baden. Es gibt noch Tanzschulen im Ort, aber bei denen liegen die Schwerpunkte auf Hip Hop, Kindertanz und Breakdance. Bei uns waren das noch die Gesellschaftstänze (obgleich auch schon Boogie Woogie und Cha Cha Cha unterrichtet wurden) und die Grundregeln des guten Benehmens. Die letzten, die in der Strandlust tanzten, sahen etwas anders aus als wir. Dies ist ein Photo vom Abiball eines Nordbremer Gymnasiums in der Strandlust im Jahre 2017. Da trägt niemand mehr schulterfreie Abendkleider, über deren Trägerinnen man sagen möchte: a thing of beauty is a joy forever. Ich glaube, ich zitiere aus reiner Nostalgie mal die letzte Strophe vom Weserlied:

Die süßen Bilder, wie weit, wie weit!
Wie schwer der Himmel, wie trübe!
Fahr wohl, fahr wohl, du selige Zeit!
Fahrt wohl, ihr Träume der Liebe.


1 Kommentar:

  1. Es gab hier einen Kommentar von 'Unbekannt' zu dem Abtanzball der Tanzschule Nico Arff in Vegesack. Der Verfasser kannte offenbar die schöne Frau mit den nackten Schultern und den Verfasser des Posts. Ich habe 'Kommentar veröffentlichen' angeklickt und was ist passiert? Der Kommentar ist verschwunden. Diese neue Google Oberfläche taugt überhaupt nichts. Lesen Sie dazu doch mal 'Moderation ausstehend' vom 23.9.2020.

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