Dienstag, 3. Oktober 2023

3. Oktober


Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht, wie hoch sie ist in uns
Wir hatten uns gewöhnt an ihren horizont
Und an die windstille
In ihrem schatten warfen alle keinen schatten
Nun stehen wir entblößt jeder entschuldigung

Früher hatten wir den 17. Juni als Nationalfeiertag, weil am 17. Juni 1953 in Bitterfeld (wo der Dreck vom Himmel fällt) 50.000 Demonstranten freie Wahlen forderten. An anderen Orten waren es noch mehr, die von der Freiheit träumten. Jetzt ist unser Feiertag der 3. Oktober. Das hat seinen Grund. Weil Sabine Bergmann-Pohl am 23. August 1990 in der Volkskammer das Abstimmungsergebnis bekanntgab: 

Die Volkskammer erklärt den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit der Wirkung vom 3. Oktober 1990. Das liegt Ihnen in der Drucksache Nr. 201 vor. Abgegeben wurden 363 Stimmen. Davon ist keine ungültige Stimme abgegeben worden. Mit Ja haben 294 Abgeordnete gestimmt. Mit Nein haben 62 Abgeordnete gestimmt, und sieben Abgeordnete haben sich der Stimme enthalten. Meine Damen und Herren, ich glaube, das ist ein wirklich historisches Ereignis. Wir haben uns die Entscheidung alle sicher nicht leicht gemacht, aber wir haben sie heute in Verantwortung vor den Bürgern der DDR in der Folge ihres Wählerwillens getroffen. Ich danke allen, die dieses Ergebnis im Konsens über Parteigrenzen hinweg ermöglicht haben.

Ich stelle heute etwas ein, das schon in meinem ersten Jahr als Blogger am 3. Oktober hier stand, als wir zwanzig Jahre Einheit feiern konnten. Damals war Angela Merkel noch Kanzlerin, heute scheint sie beinahe vergessen zu sein. Wir vergessen alles zu schnell. Aber manches bleibt im Gedächtnis, wie Reiner Kunzes Gedicht die mauer (zum 3. oktober 1990) da oben. Mein Text zum dritten Oktober, den ich immer noch mag, ist in den folgenden Jahren leicht verändert worden. Und länger geworden. Auch heute. Es kann nicht schaden, ihn noch einmal hierher zu stellen. Vielleicht haben die vielen Leser, die ich angeblich in Singapur habe, ihn noch nicht gelesen.

Als ich nach der Bundestagswahl 2017 den Post Unser Land schrieb, hatte ich nicht daran gedacht, dass eine Woche später der Nationalfeiertag sein würde. Vielleicht hätte ich dann für Herrn Gauland noch den ein oder anderen Satz übrig gehabt. Ein halbes Jahrhundert nach Adolf von Thadden haben wir wieder eine rechtsradikale Partei im Parlament. Vielleicht ist das auch ganz gut: indem wir über die AfD diskutieren, diskutieren wir über unser Selbstverständnis, unsere Demokratie. Die Zeitungen versichern uns, dass unser Land zerrissen sei. Wirklich? Die Kanzlerin tut das, was sie immer tut: schweigen und die Raute machen. Ist das genug? Anita Ekberg konnte das mit der Raute besser. Es könnte bei uns etwas mehr sein:

Nein, das gemeine Beste, 
Des eignen Wohlergehens nur einzig sichre Feste 
Erweckt in mir den Trieb; Trieb, den der Himmel ehrt, 
Wenn seines Eifers Glut der Bosheit Spreu verzehrt. 
Die angestorbne Pflicht, das Vaterland zu schützen, 
Der Freiheit Gott zu sein; der Unschuld Recht zu stützen, 
Ist der geheiligte, mit Blut gelegte Grund
Worauf das Wohl des Staats und unserer Väter stund. 

Den lasset uns vereint mit unserm Blut verteidgen.

Gut, es ist ein wenig veraltet, was Justus Möser da in seinem Theaterstück Arminius schreibt, aber es hat auch mit unserer Nation zu tun.

Die Deutschen von heute kommen aus zwei verschiedenen Erfahrungsbereichen; sie gleichen Kindern einer Familie, die getrennt in verschiedenen Umwelten aufwuchsen und auf die eine andere Art von Erziehung eingewirkt hat. Denn der Eiserne Vorhang der 50er-Jahre, der in den 60ern in Deutschland zu einer Betonmauer wurde und erst nach 28 Jahren gewaltlos beseitigt werden konnte, trennte nicht nur Militärblöcke, Wirtschaftsgefüge und Ideologien, sondern auch Lebensgefühle, die nicht so schnell wie die Mauer zu beseitigen sind, schreibt Günter de Bruyn. Mit dem Lebensgefühl hat er sicherlich recht. Ich bin in einer amerikanischen Besatzungszone aufgewachsen, ich habe ein anderes Lebensgefühl als jemand aus den Kriegsjahrgängen, der in der sowjetischen Besatzungszone aufwuchs. Es hat ja lange gedauert, dass man im Westen nicht mehr von der SBZ redete und wahrnahm, dass es einen Staat namens DDR gab. Uns trennt noch vieles, aber wir haben jetzt eine gemeinsame Nationalhymne. Allerdings nicht diese:

Auferstanden aus Ruinen
Und der Zukunft zugewandt,
Laß uns dir zum Guten dienen,
Deutschland, einig Vaterland.
Alte Not gilt es zu zwingen,
Und wir zwingen sie vereint,
Denn es muß uns doch gelingen,
Daß die Sonne schön wie nie
Über Deutschland scheint.

Glück und Frieden sei beschieden
Deutschland, unserm Vaterland.
Alle Welt sehnt sich nach Frieden,
Reicht den Völkern eure Hand.
Wenn wir brüderlich uns einen,
Schlagen wir des Volkes Feind!
Laßt das Licht des Friedens scheinen,
Daß nie eine Mutter mehr
Ihren Sohn beweint.

Laßt uns pflügen, laßt uns bauen,
Lernt und schafft wie nie zuvor,
Und der eignen Kraft vertrauend,
Steigt ein frei Geschlecht empor.
Deutsche Jugend, bestes Streben
Unsres Volks in dir vereint,
Wirst du Deutschlands neues Leben,
Und die Sonne schön wie nie
Über Deutschland scheint. 

Das hätten wir ja als Nationalhymne nehmen können, vom neuen Deutschland. Warum eigentlich nicht? Kann man ja auch zu der Melodie von Gott erhalte Franz den Kaiser singen, braucht man nicht unbedingt (wie Hans Albers in Wasser für Canitoga) zur Melodie von Goodbye Johnny zu singen. Wir haben in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg etwas länger gebraucht, bis wir überhaupt eine Nationalhymne bekamen. Es war Konrad Adenauer sehr peinlich, in Amerika mit Heidewitzka, Herr Kapitän begrüßt zu werden. Oder in seiner engeren Heimat mit Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien. Wir können ja glücklich sein, dass uns nach 1945 diese Hymne erspart blieb:

Land der Väter und der Erben,
uns im Leben und im Sterben
Haus und Herberg, Trost und Pfand,
sei den Toten zum Gedächtnis,
den Lebend'gen zum Vermächtnis,
freudig vor der Welt bekannt,
Land des Glaubens, deutsches Land.

Der Aufruf Macht das Tor auf des Bundestages von 1958 war im Jahre 1989 endlich erhört worden, als Wahnsinn das Wort der Stunde wurde. Das Wort Willkommenskultur gab es noch nicht im Repertoire der Presse, dies war jetzt Wahnsinn. Sind wir jetzt alle glücklich? Wo sind die blühenden Landschaften? Gibt es ein einheitliches Lohnniveau in Deutschland? Hat das alles angefangen mit dem Gedicht, das der fünfundzwanzigjährige Günther Sattler im September 1989 auf ein Flugblatt schreibt?

was für ein leben?
wo die wahrheit zur lüge wird,
wo der falsche das zepter führt.

was für ein leben?
wo die freiheit tot geboren,
wo schon scheint alles verloren.

was für ein leben?
wo alte männer regieren,
wo noch menschen an grenzen krepieren.

was für ein leben?
wo die angst den alltag bestimmt,
wo das ende kein ende nimmt.

was für ein leben?
wo man seinen nachbarn nicht mehr traut,
wo man nicht mehr aufeinander baut.

was für ein leben?
wo man nicht sein kann, der man ist,
wo man so schnell vergißt.

was für ein leben?
wo träume sterben,
wo es nichts mehr gibt zum vererben,
außer scherben

was für ein leben?
wo es für wenige alles gibt,
wo der kleine, keinen ausweg sieht.

was für ein leben?
wo liebe nicht existiert,
wo man langsam erfriert.

WAS FÜR EIN LEBEN? FÜHREN WIR????
ABER LEBEN MUß MAN DOCH UND ZWAR HIER!!

Dieses und zwar hier fand sich auch in dem Aufruf Für unser Land, den Christa Wolf geschrieben hatte: Entweder können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen Staaten und Interessengruppen, die dazu bereit sind, in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind. 
           Oder wir müssen dulden, daß, veranlaßt durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflußreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik Deutschland vereinnahmt wird.
           Laßt uns den ersten Weg gehen. Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind
.

Hofften Christa Wolf und die Unterzeichner des Aufrufs wirklich, dass die DDR noch zu retten war? Es kam eine Revolution ohne Blut. Das Beste an unserer Vereinigung ist, dass kein Blut floss, hat Wolf Biermann gesagt. Niemand ist an die Laterne gehängt oder vor ein Peloton gestellt worden. Erich Mielke ist verurteilt worden. Wegen eines Mordes im Jahre 1931, für nix anderes. Schalck-Golodkowski hat ein Jahr bekommen, aber auf Bewährung. Lebte danach in Rottach-Egern. Ausgerechnet da. Kaum waren wir ein Land, kaum waren die ersten verurteilt, gab es schon die ersten Rufe nach einer Amnestie. Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat, hat Bärbel Bohley gesagt. Aber für die Juristen ist alles gut, wie man hier lesen kann. Und das Wort vom Unrechtstaat hört man auch nicht mehr, seit uns die Linguistin Gesine Lötzsch erklärt hat, dass das ein propagandistischer Kampfbegriff gewesen sei.

Eine Woche nach dem Fall der Mauer bin ich einmal durch das Land gefahren, das heute nur noch Mäck-Pomm heißt (dabei ist das E in Mecklenburg ein langes Dehnungs-E). Ich konnte die Fahrt, das flache Land im sonnigen Herbst mit den wunderbaren alten Alleen, genießen. Mein Bruder saß am Steuer seines nagelneuen Autos. Das auch etwas mit dem Fall der Mauer zu tun hatte. 

Den Wagen davor hatte er bei einem örtlichen Händler gekauft, Werksvertretung der Automarke. Alles war gut. Bis eines Tages die Kripo in seiner Praxis stand. Beinahe alle Autos, die der Händler verkauft hatte, hatten mehr oder weniger gefälschte Papiere, Kilometerstand des Tachos und Nachweis für Inspektionen waren manipuliert. Der Händler war flüchtig. Er war in die DDR geflohen. Vier Wochen vor dem Fall der Mauer. Der Autohändler war wahrscheinlich einer der wenigen Menschen in Deutschland, der über die deutsche Wiedervereinigung nicht glücklich war. Mein Bruder lernte Mecklenburg-Vorpommern dann später noch genauer kennen, weil der Prozess gegen den kriminellen Autohändler in Schwerin stattfand.

Kurz vor der Grenze überfiel mich bei unserer Fahrt, wie bei jedem Grenzübertritt in den Jahrzehnten zuvor, der übliche Schiss. Aber da war nichts mehr mit Kontrolle. Kein Satzbeginn mit Gänsefleisch mehr (Gänsefleisch mal den Kofferraum aufmachen?). Keine im Busch lauernden Vopo Wartburgs mehr, wo man doch mit willkürlichen Strafmandaten so schöne Devisen einnehmen konnte. Ich habe meine Strafmandate aufbewahrt, sie sind ein historisches Zeugnis. Die durch die DDR donnernden Laster aus Skandinavien wurden nie aufgeschrieben, die brachten Devisen. Ich traute dem Frieden noch nicht so recht, aber als ich in Schwerin sah, dass Jugendliche aus einem Trabbi heraus vorbeifahrenden Vopos den Mittelfinger zeigten, da wusste ich, dass eine neue Zeit angebrochen war. Das ist die Symbolik der Freiheit. Und an zerbröckelnden Mauern hing jetzt auch schon westliche Reklame. Das erste Billboard, das ich in der Noch-DDR sah, bedeckte die Wand eines zerbröckelnden Hauses. Es war von einer Zigarettenfirma, auf dem Plakat stand nur: WEST. Ich fand das eine schöne Symbolik. Ich ärgere mich noch immer, dass ich meinen Photoapparat nicht mitgenommen hatte.

Noch bevor die Mauer fiel, hatte Coca Cola den Weg in die DDR gefunden, wurde tatsächlich für zwei Mark fünfzig (Ost) in Läden gesehen. Eine Studentin von mir, die in den Semesterferien bei Coca Cola jobbte, schenkte mir damals einen Coca Cola Sticker und prophezeite mir, der wäre eines Tages sehr viel wert. Der rote Anstecker zeigte das geeinte Deutschland, mit dem Schriftzug Coca Cola in der Mitte. So, als ob Coca Cola Deutschland geeint hätte. Coca Cola und Kommunismus haben die gleiche symbolische Farbe. Ich weiß nicht, was der kleine Anstecker heute wert ist. Ich habe ihn aber immer noch. Ich stecke ihn jedes Jahr am 3. Oktober an.

Das WEST Plakat an der abbröckelnden Mauer und der rote Cola Sticker stehen als Symbole für das, was jetzt kam: Kommerz. Abwickeln, umrubeln, plattmachen. Eine Lehrstunde in angewandtem Kapitalismus. Es gab damals einen Krimi aus der Reihe Schwarz-Rot-Gold, in dem der Hamburger Zollfahnder Zaluskowski mit seiner Mannschaft jetzt in Berlin sitzt, und lauter Kriminelle dabei sind, an dem Umrubeln zu verdienen. Da hat es Dieter Meichsner (dem der NDR und wir alle viel zu verdanken haben) uns mal wieder bewiesen, dass man Fernsehkrimis mit politischer Aufklärung verbinden kann.

Der erste Tatort, den die ARD 1970 sendete, hieß Taxi nach Leipzig. Er hatte gezeigt, dass man beide Deutschlands in einem Fernsehkrimi unterbringen konnte. Nach der Wiedervereinigung bekamen wir auf dem Bildschirm viele neue Kommissare, die das deutsch-deutsche Verbrechen bekämpften. Die ganz alten Kommissare gab es auch noch, weil in der Nacht die alten DDR Polizeiruf 110 Folgen des DFF wieder aufgelegt wurden. Die Kommissare Kurt Böwe und Uwe Steimle aus Schwerin waren mir immer die liebsten. Aber leider ist Kurt Böwe, den viele noch aus Konrad Wolfs Der nackte Mann auf dem Sportplatz kannten, inzwischen tot. Und dem Uwe Steimle hat die ARD gekündigt. Die Hauptkommissare Ehrlicher (Peter Sodann) und Kain (Bernd Michael Lade) hat man auch in Rente geschickt. Ich bin immer noch der Meinung, dass Peter Sodann ein besserer Bundespräsident als Horst Köhler gewesen wäre.

Was war das vor fünfundzwanzig Jahren für eine Chance, gemeinsam einen neuen Anfang zu wagen! Aber dazu hätte es anderer Leute bedurft. Obgleich es ja nie an Idealisten gefehlt hat. Ich habe Freunde, die hier hochdotierte Positionen aufgegeben haben, um da drüben bei dem Neuaufbau zu helfen. Ärzte, die ihre Professur ruhen ließen, um drüben eine Klinik aufzubauen. Das ist etwas anderes als jene, die mit der Buschprämie dahin gelockt wurden. Oder den freiberuflichen Juristen, die sich mit der notariellen Beglaubigung von Land- und Immobilienverkäufen eine goldene Nase verdienten. Aber für den dicken Kohl konnte das, woran er keinen Anteil gehabt hatte, jetzt nicht schnell genug gehen, Kanzler der Einheit wollte er sein. Sein Buch Ich wollte Deutschlands Einheit habe ich kurz nach seinem Erscheinen  im Grabbelkasten eines Antiquariats gesehen, koste (nagelneu und ungelesen) zwei Euro. Ich habe es aber nicht gekauft. Bei Amazon bekommt man es heute schon für 95 Cent.

Wir hätten ja von den Bürgerrechtlern lernen können und von der ganzen Intelligenz der Opposition. Wir hätten ja Jens Reich (hier mit Bärbel Bohley im Oktober 1989) zum Bundespräsidenten machen können. Wenn man bedenkt, was seit den griechischen Philosophen alles über die kluge Staatsführung gesagt worden ist. Und was gab es? Keine Konzeption, nur Gemauschel, und die so genannte Treuhand und tausenderlei Skandale, von denen die Leuna Affäre nur einer von vielen ist. Was Leuna bedeutet, weiß ich seit ich klein bin. Weil ich einen Verwandten hatte, der eine Flakeinheit kommandierte, die Deutschlands Chemieindustrie beschützen sollte. Inzwischen haben wir eine Bundeskanzlerin und hatten einen Bundespräsidenten aus der DDR, aber wir können uns noch entsinnen, dass die Kanzlerin alles versucht hat, damit Gauck nicht Bundespräsident wurde. Was hätte sie wohl getan, wenn Peter Sodann Präsident geworden wäre?

Als die DDR Bürger dann in riesigen Zahlen kamen, weil es ein Begrüßungsgeld gab, und als ihre Rennpappen mit dem bläulichen Auspuffgas die Straßen verstopften, als die Geschäfte hier auch am Sonntag offen hatten, damit das Begrüßungsgeld gleich in ihre Kassen kam, da hatte man das Gefühl: jetzt kommt eine neue Zeit. War aber letztlich auch nur Kommerz. Ich habe dem hellblauen Trabbi, der neben mir auf dem Parkplatz stand, einen Zehnmarkschein unter den Scheibenwischer geklebt. Wochen später standen die Russen in der Einkaufsstraße und vertickten Russenuhren, alles nur Komandirskie, die Sowjetarmee bestand nur aus Kommandeuren. Und wenige Wochen später wurden sie von Leuten abgelöst, die jetzt geschnitzte geflügelte Jahresendfiguren verkauften. Der Ausverkauf des Ostens hatte begonnen. In Berlin sollen sogar Kalaschnikows auf dem Flohmarkt verkauft worden sein.

Das Gute mit der Einheit ist, dass ich Onkel Karl leicht erreichen kann. Der war zum Entsetzen der Berliner Verwandtschaft seinem Lehrer, dem Bildhauer Gustav Seitz, 1951 von Berlin-West nach Berlin-Ost gefolgt. Vor einem halben Jahrhundert habe ich meine Freundinnen bei Berlinbesuchen immer zur Stalinallee geschleppt und großspurig behauptet, dass all die Skulpturen mit den Helden der Arbeit von meinem Onkel Karl seien. Was nicht ganz stimmte, machte aber so um 1960 auf junge Frauen großen Eindruck. Einige der Figuren waren von ihm, aber von diesen heroischen Jugendsünden war er eigentlich schon lange weg, wie seine Schwimmerin aus dem Jahre 1952 da links beweist.

Und wenig später hat er in Berlin sogar für die Bremer Stadtmusikanten gesorgt, das war wohl ein bildhauerischer Gruß an die Bremer Verwandtschaft. Das Photo von 1967 zeigt, dass eine Freiplastik auch von praktischem Nutzen sein kann. Haben wir sonst noch etwas aus der Kultur zu vermelden? Außer dem Roman Der Turm? Die Welt war der Meinung, Tellkamp habe wahrscheinlich den Roman des Jahrzehnts geschrieben. Den ultimativen Roman über die DDR, diese lächerliche sowjetische Satrapie auf deutschem Boden. Aber ist das Ganze wirklich Literatur? Es kann sich kaum mit Werner Bräunig messen. Die Neuausgabe von Bräunigs Rummelplatz und seinen Erzählungen Gewöhnliche Leute muss man unbedingt begrüßen.

Es hatte ja immer eine Literatur gegeben, von der wir im Westens wenig erfuhren. Dichter, die so etwas schrieben: will ich also die Poesie der Straßenbahn erleben, gehe ich zwischen den Gärten der Großstadt umher. Und da möchte ich meinen: Die Großstadt gebe in der Ferne ein Konzert, wo in den Kurven Straßenbahnen Geige spielten. Doch stehe ich an der Ecke und warte auf die 46, ist es wieder Lärm und Alltag und stört. […] Betrachte ich den von der Straßenbahn gewonnenen Eindruck als Feier, wenn er mir gegenüber im Hintergrund, und als Alltag, wenn er mir gegenüber im Vordergrund ertönt, entsteht […] die Feier im Alltag, das heißt dann soviel wie: Vergiß vor lauter Sorgen des Alltags die kleinen das Herz erquickenden Dinge nicht. Sei ein Künstler des Lebens und freue dich mit, etwa wenn der Dackel mit der Zeitung im Maul angeschwanzwedelt kommt und die kurz bevorstehende Ankunft des Herrn im Anzug ankündigt. 

Man hat Uwe Greßmann einen poète maudit gennannt, er passte nicht ins SED Parteibild. Er war sein halbes Leben lang krank und ist früh gestorben. Dass ich überhaupt wusste, wer Greßmann war, verdankte ich meinem Onkel Karl, der hat dem toten Dichter nämlich die Totenmaske abgenommen. Einen kleinen Eindruck von der DDR Subkultur habe ich gewonnen, als ich zwischen Abitur und Bundeswehr noch einige Wochen Zeit hatte, und mein Freund Uwe mich zu einer Tagung im Jugendhof Steinkimmen schleppte. Da war Hannes Meyer Leiter, der hatte vorher unser Jugendheim Alt-Aumund geleitet. Ich landete in einem Seminar über DDR Lyrik und Protestsongs. Ich habe leider all meine Unterlagen verloren, aber einige Zeilen eines wunderbaren Liedes aus dem Cassettenrecorder habe ich nie vergessen. Das wurde von einer jungen Frau im frechrotzigen Stil vorgetragen, und es hatte immer wieder den Refrain: Denn sie wollt' ja immer einen von der Universität. Wenn's geht. Wenn's geht.

Dass viel, viel Geld in die Museen geflossen ist, war natürlich zu begrüßen. Und sicherlich ist die Semperoper ein Schmuckstück, vor allem als Bierreklame, deshalb hat sie ja auch schon den inoffiziellen Namen Radeberger Arena. Was bleibet aber, stiften die Dichter. Also jetzt einmal von Bräunigs Roman Rummelplatz abgesehen. Und auch davon abgesehen, dass der von mir sehr geschätzte Günter de Bruyn Theodor Fontane immer ähnlicher und von Buch zu Buch besser wird. Und die Fontane Ausgabe, die Gotthard Erler einst begonnen hatte, schreitet voran. Erler ist in diesem Jahr neunzig geworden, aber er arbeitet immer noch an der großen Sache.

Günter de Bruyns Buch Deutsche Zustände, zehn Jahre nach 1989 veröffentlicht, ist immer noch der Lektüre wert. Was auch etwas mit den schönen Photos von Barbara Klemm zu tun hat, die mit ihrer Ruhe und Ausgewogenheit hervorragend zum Ton des Buches passen. Nicht zuletzt die Duotone Druckqualität der Photos und das ruhige Layout des Buches tragen zum sinnlichen Vergnügen der Lektüre bei. Dies war ein Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer ein Buch, das ein anderes Deutschland jenseits des peinlichen politischen Tagesgeschäfts und der bunten Versprechungen der Werbewelt zeigte.

Ein anderes Bild von einer kommoden Diktatur zeigte uns auch Günter Grass' Roman Ein weites Feld. Den ich übrigens für seinen besten Roman halte. Ich bin kein Fan von Günter Grass, irgendjemand hatte mir diesen voluminösen Pappband in die Hand gedrückt und gesagt: Lies mal! Auf dem Cover stand: Unverkäufliches Leseexemplar... Bitte keine Rezensionen vor dem 28. August 1995. Ich las, es war ein wunderbares Leseerlebnis. Als ich die Geschichte von Fonty Wuttke (hinter dem vielleicht der Verlagschef des Aufbau Verlags Gotthard Erler steckt) las, wurde mir plötzlich klar, dass ich durch das Leben gekommen war, ohne je Fontanes Vor dem Sturm gelesen zu haben. Ein Versäumnis! Als ich mit dem Fontane fertig war, beschloss ich, dass ich jetzt eigentlich auch das tun könnte, wozu mich Friedrich Hübner jahrzehntelang drängte, nämlich endlich Tolstois Krieg und Frieden zu lesen.

Ein weites Feld bietet ein Panorama der deutschen Geschichte. Und das wenige Jahre nach der Wende, da kann man nur sagen: Respekt. Der Filmemacher Edgar Reitz brauchte etwas länger. Mit Heimat 3: Chronik einer Zeitenwende hat Edgar Reitz sein Heimat Projekt abgeschlossen und Wende und Wiedervereinigung auch nach Schabbach kommen lassen: Das ist natürlich schon für mich ein tiefgreifendes Erlebnis zu sagen 'dieses ist der letzte Teil von Heimat', also als berufliche Aufgabe. Und ich habe doch immerhin na bald 25 Jahre mit diesem Projekt verbracht, sodass dieses Projekt selbst eine Art Heimat bildet. Und das zu beenden, das ist nicht schmerzlos. Der Stoff geht mir nicht aus, und Geschichten erzählen unter dem Dach eines großen erzählerischen Werkes das Heimat heißt, das könnte ich ewig fortsetzen so lange ich gesund bin und arbeiten kann. Aber mit deutschen Fernsehsendern mich um das Budget zu streiten, und jede Silbe im Drehbuch rechtfertigen zu müssen, das will ich nicht noch einmal, das ist klar. Deswegen ist es Abschied von Schabbach

Sieben Jahre lang Gezerre mit der ARD wegen der Finanzierung für etwas, was der Abschluss des größten filmischen Meisterwerks über ein halbes Jahrhundert Bundesrepublik ist. Aber für einen Pausenclown wie Harald Schmidt, dafür hatten sie Geld bei der ARD. Das ist unser Problem, wieder nix wie Kommerz. Die Intendanten der Rundfunkanstalten haben Gehälter, von denen Bundespräsidenten nur träumen können, und was wird produziert? Dieser erschütternde Degeto-Quark, aber kein Geld für Heimat 3. Am Ende von Heimat 3 kommen Handwerker aus der ehemaligen DDR und bauen das Günderode Haus wieder auf, und Salome Kammer singt Eichendorffs Aus der Heimat hinter den Blitzen rot. Ein Gedicht, das mit dem Verlust der Heimat zu tun hat.

als das haus einstürzte vor dessen 
baufälligkeit sie gewarnt worden waren 
seit langem & mehrfach & immer vergeblich

klammerten sich einige von ihnen 
noch im fallen an einzelne balken 
& lobten die pläne der architekten

rühmten auch das fundament in dessen 
sich rasch verbreiternden rissen 
sie am ende verschwanden

& priesen noch aus der tiefe
das schützende dach dessen trümmer
sie schließlich erschlugen

Das Gedicht von Yaak Karsunke musste mal eben zitiert werden. Denn die Dichter hatten auf beiden Seiten der Grenze etwas zu der deutschen Befindlichkeit sagen. Der berühmte Germanist Karl Otto Conrady, der 2020 im Alter von vierundneunzig Jahren gestorben ist, hatte zwei Jahre nach seiner Emeritierung bei Suhrkamp ein interessantes Buch herausgebracht. Von einem Land und vom andern: Gedichte zur deutschen Wende 1989/1990 heißt es. Man kann es noch antiquarisch preiswert finden. Die Germanistik hat inzwischen ein neues, eigentlich schreckliches, Wort: Wendeliteratur. Es ist viel aufzuarbeiten, nicht nur von der Germanistik. Ich hätte hier für Sie zum Anklicken den sehr interessanten Artikel Die deutsche Wiedervereinigung - gespiegelt in der Lyrik der Professorin Young-Ae Xhon.

Mein Buch der Einheit fiel mir (wie die besten Bücher, die ich gelesen habe) in einem Grabbelkasten in die Hand. Noch auf der Straße im Passantengewühl fing ich an zu lesen. Das Buch heißt Letzten Sommer in Deutschland: Eine romantische Reise. Und ich nehme mal an, dass die Autorin Irina Liebmann mit ihren Büchern nicht auf sechs Millionen verkaufte Exemplare kommt wie Ildikó von Kürthy. Oder Inga Lindström, Charlotte Link und wie sie alle heißen. Obgleich es wirklich schön wäre, wenn sechs Millionen Deutsche Irina Liebmanns Buch lesen würden. Ein sentimental journey durch Deutschland, Ost und West, wechselnd zwischen Prosa und prose poem. Von der Wasserwelt in Lebus bis zum Rhein, hoch poetisch und hoch komisch. Dies ist ein Buch, das uns unsere hässliche Wirklichkeit vergessen lassen kann - obgleich die immer auch im Buch ist. Ich bin dem Zufall dankbar, dass ich das Buch 2010 passend zum zwanzigsten Jahrestag der Einheit gefunden hatte. Und ich bin Irina Liebmann, die vor drei Jahren den Uwe Johnson Preis bekam, ja sowas von dankbar, dass sie dieses Buch geschrieben hat.


Sie könnten auch noch lesen: Unser Land, Schicksalstag, Mauer, Mauern, Bauarbeiten, German German Overalls, God Save the King, Vaterlandsstolz, 3. Oktober 2019, 17. Juni, zwei Opern in Berlin

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen