Montag, 29. April 2024

Who reads poetry?


Zum Ende des Poetry Month müssen wir mal kurz über die Poesie nachdenken. Wer liest überhaupt noch Gedichte? Das fragte nicht nur das Poetry Magazin der Chicago University Press. Diese Frage hat sich der Australier Les Murray auch gestellt. Der war schon mehrfach in diesem Blog. In dem Post Marinechronometer habe ich geschrieben: Der nächste Australier, den ich kennenlernte, war der Dichter Les Murray. Als ich zu dem Leseabend ging, wusste ich schon einiges über ihn, denn ich hatte dieses gewaltige Versepos Fredy Neptune gelesen. Bevor ich es für drei Mark im Grabbelkasten fand, wusste ich nichts über Les Murray. Nach der Lektüre von Fredy Neptune, das es (glücklicherweise für viele Leser) zweisprachig gibt und dem Leseabend wusste ich mehr. Wenn Murray letztens statt Bob Dylan den Nobelpreis bekommen hätte, es wäre vielleicht nicht unverdient gewesen.

Es war nett, Les Murray zu treffen. Es gab leider an dem Abend kein Bier. Als Seamus Heaney hier war, gab es Guinness. Les Murray hat es zwar nicht zum Nobelpreis geschafft, aber er ist in Deutschland gut angekommen. Teile seines Werks gibt es auch in deutschen Ausgaben. Und sein Hauptwerk Fredy Neptune hat hier auch schon einen Post. Das Gedicht heute hat den Titel The Instrument, es geht darin um die Frage, wer heute noch Gedichte liest:

Who reads poetry? Not our intellectuals;
they want to control it. Not lovers, not the combative,
not examinees. They too skim it for bouquets
and magic trump cards. Not poor schoolkids
furtively farting as they get immunized against it.

Poetry is read by the lovers of poetry
and heard by some more they coax to the café
or the district library for a bifocal reading.
Lovers of poetry may total a million people
on the whole planet. Fewer than the players of skat.

What gives them delight is a never-murderous skim
distilled, to verse mainly, and suspended in rapt
calm on the surface of paper. The rest of poetry
to which this was once integral still rules
the continents, as it always did. But on condition now

that its true name’s never spoken: constructs, feral poetry,
the opposite but also the secret of the rational.
And who reads these? Ah, the lovers, the schoolkids,
debaters, generals, crime-lords, everybody reads them:
Porsche, lift-off, Gaia, Cool, patriarchy.

Among the feral stanzas are many that demand your flesh
to embody themselves. Only completed art
free of obedience to its time can pirouette you
through and athwart the larger poems you are in.
Being outside all poetry is an unreachable void.

Why write poetry? For the weird unemployment.
For the painless headaches, that must be tapped to strike
down along your writing arm at the accumulated moment.
For the adjustments after, aligning facets in a verb
before the trance leaves you. For working always beyond

your own intelligence. For not needing to rise
and betray the poor to do it. For a non-devouring fame.
Little in politics resembles it: perhaps
the Australian colonists’ re-inventing of the snide
far-adopted secret ballot, in which deflation could hide

and, as a welfare bringer, shame the mass-grave Revolutions,
So axe-edged, so lictor-y.
Was that moral cowardice’s one shining world victory?
Breathing in dream-rhythm when awake and far from bed
evinces the gift. Being tragic with a book on your head.

Auf der immer empfehlenswerten Seite Planet Lyrik findet sich eine deutsche Übersetzung, allerdings steht leider der Name des Übersetzers nicht dabei. Wahrscheinlich ist die Übersetzung von Margitt Lehbert, die viel von Murray übersetzt hat:

Das Instrument

Wer liest schon Poesie? Nicht unsere Intellektuellen;
sie wollen sie steuern. Nicht Liebende, nicht die Kampflustigen,
keine Prüflinge. Auch sie überfliegen sie nach Sträußen
und Zaubertrumpfkarten. Nicht die armen Schulkinder,
die heimlich furzen, während sie dagegen geimpft werden.

Poesie wird von den Liebhabern der Poesie gelesen
und von einigen anderen gehört, die man ins Café lockt
oder zu einer Bifokallesung in der Bezirksbibliothek.
Liebhaber der Poesie belaufen sich wohl auf eine Million
Menschen auf der ganzen Erde. Weniger als Skatspieler.

Was diese Menschen erfreut, ist eine nie mörderische Essenz,
hauptsächlich zu Versen destilliert, die in verzückter Ruhe
auf der Oberfläche des Papiers schwebt. Der Rest der Poesie,
mit dem dies früher eine Einheit bildete, beherrscht noch heute
die Kontinente wie immer schon. Jetzt unter der Bedingung,

daß man den wahren Namen nicht nennt. Konstrukte, wilde Poesie,
das Gegenteil, aber auch das Geheimnis des Rationalen,
und wer liest sie dann? Ah, die Liebenden, die Schulkinder,
die Disputanten, Generäle, Mafiabosse, alle lesen sie:
Porsche, Rakentenstart, Gaia, Cool, Patriarchat.

Unter wilden Strophen verlangen viele nach deinem Fleisch,
um sich zu verkörpern. Nur die vollkommene Kunst,
frei vom Gehorsam gegenüber ihrer Zeit, kann dich quer
durch die größeren Gedichte tanzen lassen, in denen du lebst.
Außerhalb aller Poesie zu sein, ist unerreichbare Leere.

Warum Poesie schreiben? Für die bizarre Arbeitslosigkeit.
Für die schmerzlosen Kopfschmerzen, die man anzapfen muß,
um am Schreibarm den gesammelten Moment zu schlagen.
Für die Änderungen, wenn man Facetten eines Verbs ausrichtet,
bevor die Trance verblaßt. Um immer über die eigene Intelligenz

hinaus zu arbeiten. Dafür, sich nicht hochzuarbeiten und dabei
die Armen zu verraten. Für einen Ruhm, der nicht auffrißt.
In der Politik gleicht ihr nicht viel: womöglich
die Erfindung der australischen Kolonialisten, eine nun weit-
verbreitete geheime Wahl, in der sich Deflation verbergen kann,

um als Wohlfahrtsträger Massengrab-Revolutionen zu beschämen,
so axtschneidig, so liktorisch.
War das der einmalige, leuchtende Weltsieg moralischer Feigheit?
Traumrhythmen im Wachzustand und fern vom Bett einzuatmen zeigt
die Begabung. Tragisch sein mit einem Buch auf dem Kopf.


Es gibt das Gedicht auf der Seite des Griffin Poetry Prize vorgelesen. Die Zuhörer sind bei der Lesung immer am Lachen. Aber so lustig ist das Ganze eigentlich nicht.

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