Freitag, 28. Februar 2025

Relax, Baby, bloß keinen Stress


Am 28. Februar 1533 wurde Michel Eyquem auf dem Schloss Montaigne geboren. Er hat dieses de Montaigne seinem Familiennamen Eyquem hinzugefügt und dazu gesagt: Quel remede? c'est le lieu de ma naissance, et de la plus part de mes ancestres: ils y ont mis leur affection et leur nom. Das steht in dem Essay Über die Eitelkeit. Montaigne weiß aber, dass es nicht ganz stimmt, dass all seine Vorfahren hier geboren wurden. Sein Urgroßvater Ramon Eyquem, Fisch- und Weinhändler aus Bordeaux, hatte das Anwesen gekauft. Sein Vater war der erste Seigneur de Montaigne, der hier wohnte. Man spricht das Wort heute mit dem kleinen i aus, zu Montaignes Zeit war es noch ein schlichtes Montagne, wie Dalida das singt. Michel de Montaigne war schon häufig in diesem Blog, schon dreimal an seinem Geburtstag, dem 28. Februar. Das sind die Posts Montaigne, Michel de Montaigne und Fremde Federn. Und in über vierzig anderen Posts wird er erwähnt.

Die Übersetzung der Essais durch Hans Stilett ist dort auch schon gerühmt worden. Ein Literaturkritiker namens Harald Schmidt, den wir heute nicht mehr so häufig im Fernsehen sehen, schrieb dazu 1998 im Focus: Unsereins hat das Buch zum Beispiel gekauft, weil es so geil aussieht und sich so toll anfühlt, und plötzlich fängt man an drin rumzulesen und findet amtliche Äußerungen zu wirklich jedem Thema. Nach den ersten Lesestunden (…) lässt sich Montaigne schon mal für alle zukünftigen Fans so weit vereinfachen: ‚Relax, Baby, Deine Zeit ist begrenzt, bloß keinen Stress, shit happens.‘ Irgendwie beruhigend, weil schon um 1580 erkannt.

Die Frage, die ich mir in diesen Tagen stellte, da Donald Trump Amerika demontiert, war: Hat uns Montaigne in der Zeit von Donald Trump noch etwas zu sagen? Bei LinkedIn fand ich unter der Überschrift Donald Trump should read Montaigne die Sätze: An ethical reflection and way of thinking involves the ability to take the distance from our own standards, laws and prejudices. It allows us to evaluate fairly the facts and our vision of the world with some distance and self-irony. It is an attitude that Montaigne, French writer and philosopher, perfectly incarnated and explained in his work. His way of living and thinking leads at the opposite of all forms of chauvinism and fanaticism. Maybe we should send Montaigne’s complete works to Donal Trump as “food for thoughts”??

Es hat wohl keinen Sinn, Trump die Werke Montaignes zuzuschicken. Er kann wahrscheinlich nicht einmal richtig lesen. Viele seiner inzwischen gefeuerten Mitarbeiter haben gesagt, dass er ein funktionaler Analphabet ist. Sprachwissenschaftler versichern uns, dass er den Wortschatz eines neunjährigen Kindes hat. Er liebt Wörter, die nicht mehr als zwei Silben haben. Als er bei einer Veranstaltung des Kongresses im Jahre 2017 zusammen mit Senatoren und ehemaligen Präsidenten eine Seite aus der Declaration of Independence vorlesen sollte, hatte der Mann, der sich in biblischer Sprache als der Auserwählte (I am the chosen one) bezeichnet hat, große Schwierigkeiten: It’s very hard to get through that whole thing without a stumble. It’s like a different language, right?

Ich fand in den Weiten des Internets zum Thema Montaigne-Trump noch etwas Interessanteres als die Sätze bei LinkedIn. Und das war der Artikel →Montaigne in the Age of Trump von dem Amerikaner David Gessner in dem Magazin Ecotone. Gessner hatte das Experiment gemacht, mit der Lektüre von Montaigne gegen Trump zu leben. Der Harvard Absolvent Gessner, Schriftsteller und Literaturprofessor, schreibt über die Natur, und er hat viel darüber zu sagen. Nach Thoreau, Wallace Stegner und Edward Abbey ist er der vielleicht einer der wichtigsten amerikanischen Schriftsteller, der über die Natur schreibt (Sie können dazu mehr in diesem →Interview lesen). Edward Abbey wird hier schon in den Posts Somewhere West of Laramie und Spätwestern erwähnt (der erste Post hat über 12.000 Leser, der zweite die Hälfte davon). 

Auf die Frage eines Journalisten Did any other particular writer(s) inspire you? Who are your influences? antwortete Gessner: Well, I think if you look at what I call my literary family tree, you can see where certain things in my work came from. The most obvious influence is Thoreau. Not long ago I went to Walden Pond with my then six-year-old daughter and my wife, who pointed at where Thoreau’s cabin had been and said, “That’s where the house of the man who ruined daddy’s life was.” In other words, I think she was saying that Thoreau sent me in the direction of nature, nature writing, and non-conformity. Thoreau ist für mich ein schlechter Gewährsmann für den Umgang mit der Natur. Bei aller Verherrlichung des Buches Walden muss man auch sagen, dass Thoreau einmal leichtfertig einen Wald angezündet und nicht bei den Löscharbeiten geholfen hat. Mir ist da James Fenimore Cooper lieber, der in The Pioneers sehr viel über den Beginn der Vernichtung der amerikanischen Natur zu sagen hat. Die letzte der Wandertauben, die er 1823 in seinem Roman beschreibt, ist 1914 im Zoo von Cincinnati gestorben.

Gessner hatte sich aus Montaignes Werk die Sätze Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten, ganz für uns, ganz ungestört, um aus dieser Abgeschiedenheit  unseren wichtigsten Zufluchtsort zu machen, unsere wahre Freistatt. Hier gilt es, den alltäglichen Umgang mit uns selbst zu pflegen ... indem wir mit uns Zwiesprache halten genommen. Die Sätze stehen in dem Kapitel Über die Einsamkeit. Im Original des Kapitels De la Solitude (das schon in The cure for loneliness is solitude erwähnt wird), heißt das Hinterstübchen arriereboutique. Das fand ich ein witziges Wort, als ich das zum ersten Mal las. Im ersten Amtsjahr von Donald Trump sucht Gessner immer wieder Zuflucht in seiner Hütte in der Marsch am Hewletts Creek in North Carolina, wo er seine alte Paperback Ausgabe der The Complete Essays of Montaigne in der Übersetzung von Donald Frame wieder und wieder liest (ich habe hier für Sie Donald Frames Montaigne Übersetzung im Volltext, falls Sie das lesen wollen). Die Hütte in der Marsch ist jetzt Gessners arriereboutique, draußen ist Donald Trump. Was der mit der Umwelt macht, das wissen wir, das können wir in einem langen Wikipedia Artikel nachlesen.

Wenn Montaigne über die Ruhe und die Gelassenheit schreibt, dann ist er in seiner arriereboutique, seinem Turmzimmer mit den tausend Büchern. Wo man in lateinischer Sprache lesen konnte: Im Jahre des Heils 1571, im 38. Lebensjahr, am 28. Februar, seinem Geburtstag, hat sich Michel de Montaigne, schon lange müde des Dienstes bei Gericht und in öffentlichen Ämtern, in voller Manneskraft in den Schoß der gelehrten Jungfrauen zurückgezogen, um in Ruhe und aller Sorgen ledig, wenn es das Schicksal ihm vergönnt, den kleinen Rest seines schon zum großen Teil verflossenen Lebens zu vollenden; er hat diese Stätte, diesen teuren von seinen Ahnen ererbten Zufluchtsort, seiner Freiheit, seiner Ruhe und seiner Muße geweiht.

Sarah Bakewelles schöne Montaigne Biographie, die schon in dem Post Montaigne en allemand gewürdigt wird, endet mit den Sätzen: The twenty-first century has everything to gain from a Montaignean sense of life, and, in its most troubled moments so far, it has been sorely in need of a Montaignean politics. It could use his sense of moderation, his love of sociability and courtesy, his suspension of judgement, and his subtle understanding of the psychological mechanisms involved in confrontation and conflict.

Montaigne wird nicht für immer in der arriereboutique bleiben, in die er sich am 28. Februar 1571 begeben hat. Neun Jahre später hat er den ersten und den zweiten Band der Essais fertig und begibt sich auf eine Reise nach Deutschland und Italien. Worüber er sein Tagebuch einer Baderreise schreiben wird. Es gibt die Badereise seit 2013 in einer neuen Übersetzung von Hans Stilett. Ich besitze die alte Übersetzung von Otto Flake aus dem Jahre 1908, die von Irma Bühler 1963 durchgesehen wurde, weil es inzwischen eine Montaigne Gesamtausgabe gab, die Flake 1908 noch nicht kannte. Als Montaigne in sein kleines Schloss zurückkommt, findet er dort einen Brief des Königs, der ihn unterwegs hätte erreichen sollen: Herr von Montaigne! Da ich Sie für Ihre höchste Treue und Ergebenheit in meinem Dienste hoch schätze, habe ich mit großer Freude vernommen, dass man Sie zum mayor meiner Stadt Bordeaux gewählt hat, und ich habe dieser Wahl mit um so größerer Freude zugestimmt, als sie ohne Ränkespiel und trotz Ihrer langen Abwesenheit getroffen wurde. Aus diesem Grund befehlige ich Ihnen und fordere Sie hiermit ausdrücklich auf, nach Erhalt des Briefes sofort und unverzüglich zurückzukehren, Ihrer Pflicht nachzukommen und Ihr Amt anzutreten. Das Gegenteil würde ich mit großem Missfallen zur Kenntnis nehmen. Gebe Gott, dass Sie verehrter Herr von Montaigne, bei guter Gesundheit sind. Heinrich.

Nun ist er Bürgermeister von Bordeaux, er wird noch ein zweites Mal gewählt werden. Aber er hat seine Freistatt in seinem Schloss, die sechzig Kilometer kann der gute Reiter Montaigne im Schlaf reiten. Und er weiß auch: Der Bürgermeister von Bordeaux und Montaigne, das waren immer zwei – klar und säuberlich voneinander geschieden. Sein Leben war nicht immer ruhig, er lebt in der Zeit der Religionskriege: Ich lebe in einer Zeit, in der, wie es in wilden Bürgerkriegen nun einmal ist, Beispiele kaum glaublicher Grausamkeit sich häufen. Fälle, die schlimmer sind als die furchtbarsten Berichte aus der Antike, sind heute etwas Alltägliches. Trotzdem habe ich mich durchaus nicht damit abgefunden. Ehe ich es gesehen habe, habe ich mir gar nicht denken können, daß Menschen so barbarisch sein sollten, aus bloßer Mordlust einen Mitmenschen zu töten, ihm Glieder abzuhacken, mit allem Scharfsinn unbekannte Qualen und neue Todesarten auszudenken, und zwar nicht etwa aus Haß oder Profitgier, sondern nur zu dem Zweck, sich an dem Schauspiel eines Menschen in Todesnot zu weiden, an seinen Schmerzensgesten und an seinem Stöhnen und Schreien. Das ist doch offenbar die Höhe der Grausamkeit, daß ein Mensch seinen Mitmenschen tötet nicht aus Zorn, nicht aus Angst, nur weil er ihn sterben sehen will. Der Mensch hat, fürchte ich, von der Natur selbst etwas wie einen Instinkt zur Unmenschlichkeit mitbekommen. 

Als Bürgermeister von Bordeaux war Montaigne bemüht, zwischen Reformierten und Katholiken zu vermitteln. Ralph Waldo Emerson, der ein begeisterter Montaigne Leser war, hat geschrieben: In the civil wars of the League, which converted every house into a fort, Montaigne kept his gates open, and his house without defense. All parties freely came and went, his courage and honor being universally esteemed. Es wird Montaigne gelingen, die Stadt Bordeaux aus dem Krieg herauszuhalten. 1564 hat er vier Tage lang den zukünftigen König Heinrich von Navarra zu Gast. Der darf im Bett des Hausherrn schlafen und die beiden Herren gehen zusammen zur Hirschjagd. Während des Hugenottenkrieges versucht Montaigne zwischen Heinrich von Navarra und Heinrich III zu vermitteln. Beide werden ihn zum gentilhomme ordinaire de la Chambre du Roi ernennen. Beide halten ihn für einen ehrlichen Mann. Über Donald Trump würde das niemand sagen.

Zur Zeit Montaignes gibt es kein Internet und keine sozialen Medien. Es gibt Bücher, Briefe und Flugblätter. Durchziehende Händler, Wanderprediger, Pilger, Wandertruppen von Schauspielern und Spielleuten verbreiten Neuigkeiten, Nachrichten, Gerüchte, Halbwahrheiten und Falschmeldungen. Fake News gibt es nicht erst seit Donald Trump, die gibt es schon im Mittelalter. Der Satz auf dem Schild des Bremer Rolands vryheit do ik ju openbar / d’ karl vnd mēnich vorst vorwar / desser stede ghegheuen hat / des danket god’ is mī radt ist auch Fake News; die Reichsfreiheit hat Bremen nicht durch Karl den Großen bekommen. 

Montaigne hält zum Thema der Lüge für uns das Bonmot bereit: Die Lüge ist ein Winkelgang, von dem man durch eine Hintertreppe zur Wahrheit gelangen kann. Aber er sagt es auch schärfer: Das Lügen ist tatsächlich ein verfluchtes Laster: nur durch das Wort werden wir zum Menschen, nur durch das Wort stehen wir miteinander in Verbindung. Wenn wir uns bewußt würden, was für eine scheußliche und ernste Sache das Lügen ist, würden wir mit Feuer und Schwert dagegen vorgehen, mit mehr Recht als gegen andere Untaten. Montaigne mißtraut den Rhetorikern die alles schönreden können.

Und damit können wir jetzt wieder auf Donald Trump zurückkommen. Dessen Einfluss mit all seinen Lügen kann auch David Gessner in seiner arriereboutique nicht entkommen: Wenn ich dann das genaue Gegenteil dieses Gefühls erleben möchte, kann ich die 'Essays' schließen, die Hütte verlassen, über den Rasen zum Haus gehen und die Nachrichten im Kabelfernsehen einschalten, um zu sehen, was unser Präsident so treibt. Trumps Gabe, so scheint es mir, ist eine Art Aufdringlichkeit, die Fähigkeit, sich an unseren Abwehrmechanismen vorbei in unsere Psyche vorzuarbeiten. Wenn Montaigne einen abgeschiedenen Ort, einen privaten Ort schafft, dann besteht Trumps große Fähigkeit darin, in diesen privaten Ort einzubrechen, ihn zu plündern und ihn so öffentlich zu machen. Was er schafft, oder vielmehr, was wir uns selbst geschaffen haben, indem wir ihn hereingelassen haben, ist ein fast ständiger Zustand des Unbehagens. Wenn man sagen kann, dass ängstliche Gedanken neugierig sind, dann ist er ein menschliches Brecheisen. Und nach einer Weile wollen wir, dass er neugierig ist. Wir haben uns daran gewöhnt, wir sind süchtig danach. Tatsächlich ist Trump eine fast perfekte Verkörperung der Art und Weise, wie wir heute kommunizieren – seines gewählten Mediums Twitter natürlich, aber auch aller sozialen Medien und E-Mails und SMS und des Rests. Denken Sie daran, wie wir früher einmal am Tag Post bekamen, oder besser noch, wie wir als Kinder im Ferienlager Post bekamen, die Aufregung, die Vorfreude. Heute bekommen wir jede Minute, jede Sekunde Post, so scheint es, und leben in einem verrückten Zustand am Rande der Erwartung. 

So ist es auch mit unserem täglichen, stündlichen Trump-Fixation. Es kann nicht noch ungeheuerlicher werden, sagen wir uns, noch ärgerlicher, noch bizarrer. Und doch wird es das. Aber seltsamerweise hungern wir danach, nicht unähnlich unserem Hunger nach sozialen Medien und E-Mails selbst. Wir wollen mehr, wir brauchen mehr, unsere Gedanken sind immer woanders. Die Worte „Eilmeldungen“ laufen am unteren Rand unserer Gedankenbildschirme. Wir wollen unbedingt wissen, was er jetzt getan hat, was es Neues gibt. In deprimierenden Momenten bei der Arbeit google ich „Trump-News“ und gehe dann zu den Tools und füge „Letzte Stunde“ hinzu. Während Montaigne mich in die Gedankenwelt von Jahrhunderten versetzt, denke ich hier an Minuten, sogar Sekunden. Es bleibt keine Zeit zum Grübeln, Lesen, Verarbeiten, gründlichen Nachdenken.

Das ist nun ein bisschen lang geworden (ich habe es Google Translate übersetzen lassen), aber es beschreibt perfekt die conditio humana, in der wir uns mit dem Überangebot von Nachrichten von Donald Trump befinden. Es gibt nur einen Ausweg: niemals mehr die Namen Trump und Musk bei Google eingeben, niemals etwas auf X lesen, immer Montaigne lesen. Und natürlich diesen Blog lesen. 

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