Montag, 14. November 2022

Nobelpreisträger


Heute vor sechsundsiebzig Jahren wurde Hermann Hesse der Literaturnobelpreis zugesprochen. Er reiste nicht nach Stockholm, der Rummel war dem kränkelnden Schriftsteller zuviel. Heut ist in Stockholm der Klimbim, erst Nobel-Gedenkfeier in großer Gala, dann Bankett, wobei auch ein Spruch von mir verlesen wird, schrieb er einem Freund. Mit dem Spruch meinte er eine zweiseitige Erklärung, die der Schweizer Botschafter Henry Valloton verlas. In einem Brief an eine Bekannte schreibt er: In meinem kurzen Danktelegramm an die Akademie in Stockholm habe ich den Preis vor allem als eine der deutschen Sprache erwiesene Anerkennung bezeichnet und begrüsst. Das meinte er auch so. Er war schon häufiger als Preisträger in der Diskussion gewesen, aber er hatte in der Akademie viele Feinde, wie man diesem Artikel der Neuen Zürcher Zeitung entnehmen kann. Diesmal hatte er es wohl Thomas Mann zu verdanken, dass er den Preis bekam.

Ich war noch sehr jung, als ich das erste Gedicht von Hermann Hesse las. Es hieß Im Nebel und war auf der ersten Seite der Welt am Sonntag abgedruckt. Ich dachte damals, dass dieses Seltsam, im Nebel zu wandern! eine Erstpublikation gewesen wäre, musste aber später dazu lernen, dass das Gedicht schon sehr alt war. Meine zweite Begegnung mit Hesse war einigermassen kurios, meine Eltern hatten mich zum Kauf des Buches Das Glasperlenspiel losgeschickt. Ich kam ohne Buch zurück und berichtete meinen Eltern, dass mich die Frau hinter der Ladentheke gefragt hätte, was für ein Spiel das denn sein sollte. Da kaufen wir nie wieder, sagte mein Vater. Er hatte dem neuen Laden eine Chance geben wollen. Ich wurde dann zur Buchhandlung Otto & Sohn geschickt, wo wir sonst immer kauften, und die hatten das Buch natürlich. Den kleinen Buchladen neben Harjes gibt es nicht mehr, Otto & Sohn immer noch.

Ich muss gestehen, dass ich, obgleich ich Das Glasperlenspiel besitze, den Roman bis heute noch nicht gelesen habe. Wenn Sie sich (oder mich) jetzt fragen, was dieses Photo hier soll: das sind die Mitglieder einer Band, die sich den Namen Glasperlenspiel von Hermann Hesse geborgt haben. Wahrscheinlich haben sie sich bei der Namenwahl gedacht, dass Steppenwolf auf diese Art ja auch eine Menge Platten verkauft hat.

Hermann Hesse ist ein wenig an mir vorbeigelaufen. Als sich in den sechziger Jahren halb Amerika für Hesse begeisterte, schwappte davon nichts zu mir über. Ich habe Klingsors letzter Sommer, Demian, Narziß und Goldmund und den Steppenwolf gelesen. Aber es machte mich nicht zum Hesse-Fan. Es sprang beim Lesen nichts elektrisierend über, so wie ich es bei der Lektüre von Robert WalserErnst Penzoldt und Albert Vigoleis Thelen verspürte. Vielleicht war er damals einfach zu berühmt. Berühmte Schriftsteller ließ ich bei meinem Leseprogramm (ich wollte ja mit einundzwanzig durch die Weltliteratur durch sein) erst einmal links liegen; mich interessierten eher die Autoren, die meine Deutschlehrer nicht kannten. Ich wusste damals nicht, dass Hesse auch ein Advokat für die Übersetzung von Prousts Recherche gewesen war. Er hatte die Übersetzung von Rudolf Schottlaender gelobt und seinen Freund Suhrkamp 1949 gedrängt, die Rechte an der Recherche zu kaufen. Er schrieb 1954 an Suhrkamp: Es ist ein Glück, daß Eva Rechel-Mertens nun den ganzen Proust übersetzt. Sie soll es womöglich so rasch tun, daß ich nicht mittendraus wegsterbe. Er wird die Recherche noch lesen können, Eva Rechel-Mertens übersetzte rasch. 

Meine dritte Begegnung mit Hermann Hesse war 1958 ein Bertelsmann Bildband, der Autoren der Gegenwart: Dichter hieß. Man kann ihn heute noch bei Amazon Marketplace zu Preisen zwischen 0.99 und 100 Euro bekommen. Ich hatte mir den Band aus dem Bertelsmann Programm selbst ausgewählt, meiner Mutter war in dem Quartal nichts eingefallen. Die Romane von Otto Flake hatte sie schon alle. Ich will gegen den Bertelsmann Lesering der fünfziger Jahre nichts sagen, ohne ihn hätte ich Otto Flake vielleicht nie kennengelernt. In dem Photoband Dichter waren alle Schriftsteller abgebildet, die in der Zeit des Wirtschaftswunders bedeutend waren. Hervorragende Photographien (alles natürlich schwarzweiß), dazu kurze Texte des Herausgebers Günther Steinbrinker. Hesse bekam gleich eine Doppelseite und war vorne auf dem Buch abgebildet. Die Photos von Hesse waren von dem Schweizer Photographen Gotthard Schuh (der in dem Band auch Thomas Mann photographiert hatte) - der Band Dichter versammelte nicht nur die Crème de la Crème der Literatur, sondern auch die Crème de la Crème der Photographen. 

Das Buch bedeutete mir viel, ich wollte damals wissen, wie die Schriftsteller aussahen, welche Kleidung sie trugen. Hermann Hesse trug ein gestreiftes Hemd (aber keinen Schlips) und einen Cordanzug mit Weste. Er wirkte so ganz anders als T.S. Eliot, der auf dem Photo von Ingeborg Sello so überkandidelt englisch aussah. Man kann aus guten Photos viel über die Dargestellten lernen. Wenn ich auch bei manchen meiner Bücher nicht so genau weiß, wo sie sich in den Regalen verstecken, den Band Dichter mit Hermann Hesse vorne drauf, den finde ich sofort.

Mein wirkliches Hesse Erlebnis musste noch ein paar Jahre warten. Genau genommen bis zum Februar 1971, als ich mir für sechs Mark achtzig die Suhrkamp Ausgabe der Briefe kaufte. Davon hat er ja zigtausende geschrieben, mir reichten die 566 Seiten schon aus. Aber es hat mich schwer beeindruckt - diese Ehrlichkeit, diese Geradlinigkeit! Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Ich habe dann später gelesen, dass der Herr Reich-Ranicki über die Briefe gesagt hat: Es steht in diesen Briefen viel Vernünftiges und Richtiges, sie nötigen oft ehrlichen Respekt ab … nur dass ich dabei gähnen musste. Denn Hesse offeriert hier, um es kurz und grob zu sagen, gute Gesinnung und wenig Geist. Dazu sage ich gar nichts, ich versaue mir doch nicht diesen Tag, indem ich mich über Reich-Ranicki ärgere.

Der ist in diesem Blog ja schon häufig erwähnt worden, sogar in einem Post über Regenschirme habe ich es nicht lassen können, Reich-Ranicki zu erwähnen. Ich kann als Gegenmittel zu Reich-Ranicki nur die Lektüre dieses Artikels von Volker Michels Prügel für den Steppenwolf oder: Wie man einen Nobelpreisträger zur Schnecke macht empfehlen. Geschrieben zum fünfzigsten Todestag von Hermann Hesse. Volker Michels ist der Herausgeber der Hesse Gesamtausgabe (die Suhrkamp 2012 in zwanzig Bänden wieder herausbrachte), der versteht von dem Nobelpreisträger Hesse vielleicht etwas mehr als der Bambi-Preisträger Reich-Ranicki. Unter dem Artikel steht der köstlich feige Satz: Der Suhrkamp Verlag macht darauf aufmerksam, dass die Darstellung und Formulierungen Volker Michels nicht die Meinung des Verlags zu diesem Thema spiegeln. Suhrkamp Verlag, Mai 2012.

Dazu fällt mir nur der Brief ein, den Hermann Hesse 1959 nach dem Tode Peter Suhrkamps an den neuen Verlagschef Siegfried Unseld schrieb: Der Verleger muß 'mit der Zeit gehen', wie man sagt, er muß aber nicht einfach die Moden der Zeit übernehmen, sondern auch, wo sie unwürdig sind, ihnen Widerstand leisten können. Im Anpassen und im kritischen Widerstehen vollzieht sich die Funktion, das Ein- und Ausatmen des guten Verlegers. So einer sollen Sie sein. Hermann Hesse wird noch Leser haben, wenn keiner mehr weiß, wer Reich-Ranicki war.


Der Text stand hier vor zehn Jahren schon einmal, er wurde ein wenig überarbeitet. 

Sonntag, 13. November 2022

Lucky

Gestern Nacht gab es bei 3sat den Film Lucky, den letzten Film von Harry Dean Stanton. Zu spät für viele von uns, und in der Mediathek ist er natürlich auch nicht. Aber bei der russischen Wundertüte OK kann man den Film sehen. Eine Szene aus dem Film gab es vor vier Jahren hier schon in dem Post Volver, Volver, den Text stelle ich heute noch einmal ein. Sie müssen unbedingt Harry Dean Stanton Volver, volver singen hören.

In dem Post über den Whisky konnten Sie Harry Dean Stanton (der in diesem Blog schon einmal in Two-Lane Blacktop vorkommt) anklicken, wie er den ✺Tennessee Whiskey besingt. Der Film ✺Partly Fiction von Sophie Huber, den arte 2018 im Anschluss an Paris, Texas sendete, ist leider nicht mehr im Netz (aber klicken Sie ✺hier, die Russen haben ihn). Mit dem Film von Wim Wenders wurde Harry Dean Stanton, der jahrzehntelang nur Nebenrollen gespielt hatte, weltberühmt. Berühmt war er eigentlich schon immer, denn was er aus den Nebenrollen machte, das war schon einzigartig. Selbst den Steven Seagal Film Fire Down Below konnte er durch seinen Auftritt herausreißen.

Er war nicht nur Schauspieler, er war auch Musiker. Hatte jahrelang eine eigene Band und stand mit berühmten Leuten (hier 1969 mit seinem Freund Kris Kristofferson) auf der Bühne. In Sophie Hubers Film darf er viel singen, und er kann auch mit 85 Jahren noch gut singen. Mit 90 auch noch, wie er in seinem letzten Film Lucky zeigt. Da singt er Volver, volver, einen mexikanischen Schmachtfetzen.

Das Lied wurde von dem mexikanischen Komponisten Fernando Z. Maldonado geschrieben und 1972 zum ersten Mal von Vicente Fernàndez gesungen. Eher geschmettert als gesungen, es gibt viele Cover Versionen, die besser sind. Das spanische volver heißt zurückkommen, und von dem Wunsch, zu der Geliebten zurückzukommen (volver a tus brazos), handelt das Lied. Wie so viele Lieder, von den Tageliedern und den albas der Troubadure (die ja auch eine Trennung bedeuten) bis zu Harry Belafontes Come back Liza.

Este amor apasionado, anda todo alborotado
Por volver
Voy camino a la locura y aunque todo me tortura
Sé querer
Nos dejamos hace tiempo pero me llegó el momento de perder
Tú tenías mucha razón, le hago caso al corazón y me muero
Por volver
'Y volver volver, volver a tus brazos otra vez
Llegaré hasta donde estés
Yo sé perder, yo sé perder, quiero volver, volver
Volver'
Nos dejamos hace tiempo pero me llegó el momento
De perder
Tú tenías mucha razón, le hago caso al corazón
Y me muero por volver
'Y volver volver, volver a tus brazos otra vez
Llegaré hasta donde estés
Yo sé perder, yo sé perder, quiero volver, volver

Je stiller es gesungen wird, desto schöner ist es. Ich finde die Art, wie der neunzigjährige Harry Dean Stanton es in seinem letzten Film singt, ganz wunderbar. Klicken Sie hier, Sie werden das nicht bereuen. Harry Dean Stanton hat den Film Lucky nicht gesehen. Er wollte ihn nicht auf seinem Fernseher sehen, er wollte ihn auf der ganz großen Leinwand sehen, aber irgendwie ist es dazu nicht gekommen.

Ach, was war sie schnuckelig damals. Damals heißt: vor einem halben Jahrhundert. Ich habe hier noch ein neueres Video von Michelle Phillips, der letzten Überlebenden von The Mamas & the Papas. Da sitzt sie mit Harry Dean Stanton auf dem Sofa und sie singen Volver, volver. Lassen Sie uns den Tag mit Musik begrüßen, ich habe noch einmal Harry Dean Stanton. Diesmal singt er zusammen mit Quincy Coleman Johnny Cashs I Walk The Line. Ich weiß nicht, was Johnny Cash dazu gesagt hätte, aber ich glaube, es hätte ihm gefallen.

Freitag, 11. November 2022

als Blogger bei WordPress


Als Blogger bei WordPress zu sein, war nicht meine erste Wahl, ich bin da nur gelandet, weil im Mai 2011 Googles Bloggerwelt weltweit zusammenbrach. Das können Sie in dem Post URL lesen. Man wusste nicht, ob Googles Blogger System jemals wieder ins Netz gehen würde. Stimmte das, was sie schrieben?What a frustrating day. We’re very sorry that you’ve been unable to publish to Blogger for the past 20.5 hours. We’re nearly back to normal — you can publish again, and in the coming hours posts and comments that were temporarily removed should be restored. Thank you for your patience while we fix this situation. We use Blogger for our own blogs, so we’ve also felt your pain. Da rettete ich erst einmal das, was ich gerade geschrieben hatte, in einen Blog der Konkurrenz. So wurde ich Blogger bei WordPress. Nach zehn Jahren war bei denen allerdings für mich Schluss.

Ich habe gerade eine E-Mail von WordPress bekommen. Damit hatte ich nicht gerechnet, dass die mich noch kennen. In dem Post WSoD habe ich beschrieben, dass ich nicht mehr in meine WordPress Blogs hineinkomme. Nichts zu machen. Kein Zugang für mich zu Silverscreen | Cinemabilia, nixwiekunst, The Simple Art of Murder, Kleiderschrank und Tickendes Teufelsherz. Und nun diese Mail. Ich dachte erst, die wollen sich entschuldigen und mir mitteilen, dass ich jetzt jederzeit in die Blogs käme. Aber nichts davon. Es ging zwar um die Blogs, aber Wordpress hatte tolle Ideen, wie ich noch mehr Leser bekomme: Your site already has traffic, but have you optimized to get the most you possibly can? Und da hätten sie etwas für mich: Automatic XML sitemaps Free SSL certificates On-page SEO tools (like page slugs and alt text for images) Google Analytics integration. Und noch viel mehr von diesen Dingen, von denen ich keine Ahnung habe. Die Verbesserung meiner Leserzahlen sollte allerdings 99 Euro im Jahr kosten. Ich verzichtete auf den Premium support - tailored 24/7 support from Yoast team, as well as access to Yoast SEO academy training courses und all das. Aber ich klickte doch einmal die Adresse unten auf der Mail an, wo man das Ganze bestellen konnte. Und was passierte? Sie ahnen das schon: weißer Bildschirm. Da war er wieder, der White Screen of Death. Den sollte sich WordPress mal als Markenzeichen eintragen lassen.

Ich machte noch einen Versuch, in einen meiner Blogs zu kommen. Nahm mir den Kunst Blog vor, sah aber statt John Constables Wolken, die den Blog zieren, nur den weißen Bildschirm. Ich wollte schon alles aufgeben und die WordPress Mail löschen. Da probierte ich das Ganze noch einmal mit Googles Browser Chrome. Vor einem Jahr hatte mir der Computerguru, den ich um Hilfe gebeten hatte und der mit dem Team Viewer in meinen Computer kam, gesagt: Vielleicht liegt es an Safari. Ich probiere mal Chrome. Hatte auch nichts gebracht. Doch in diesem Jahr war alles anders, ich kam plötzlich mit Chrome auf die Anmeldeseite von WordPress. Gab meine E-Mail Adresse und das Passwort ein. Das Passwort kannte WordPress nicht. Ich dachte mir ein neues aus. Auf der Mail, die mir nach einer Minute mein neues Passwort bestätigte, stand auch das alte Passwort. Das war genau das, das WordPress angeblich nicht kannte. Bei denen weiß die linke Hand auch nicht, was die rechte tut.

Mit meinem neuen Passwort war ich nach einem Jahr wieder in meinen WordPress Blogs. Ich musste mich erst ein wenig orientieren. Ich benutze Chrome nie und weiß nicht, wie der Browser funktioniert. Er ist übrigens sehr langsam. Bei WordPress hatte sich auch einiges geändert. Da gibt es jetzt WordPress 6.1, ich weiß nicht, ob mein Computer das schon weiß. Aber dann bin ich beigegangen und habe peu à peu die Themenblogs mit all den Posts gefüllt, die ich normalerweise in den letzten zwölf Monaten in sie hineingetan hätte. WordPress ist ein Open Source Content-Management-System (kurz: CMS) mit dem man theoretisch ohne Programmierkenntnisse eine Website erstellen und pflegen kann. Aber das ist noch längst nicht alles! WordPress kann so viel mehr… lese ich im Internet. Es stimmt, dass man ohne Programmierkenntnisse eine Website erstellen kann. Ich bin das lebende Beispiel für diesen Satz. Dass man diese Website auch pflegen kann, das stimmt in meinem Fall nicht. Die Seiten waren ein Jahr lang ungepflegt, jetzt sind sie wieder schön. Und das Yoast SEO Premium werde ich mir natürlich nicht kaufen. Brauche ich nicht. Da sind schon genug Leser. Ich habe mir mal die Zahlen angeguckt, diese Blogs haben zusammen auch ein paar hunderttausend Leser.

Für 99 Euro bekomme ich statt des Yoast SEO Premium bestimmt einen Stapel Luxushemden. Ich habe schon mit dem Kaufen angefangen. Das hier habe ich gestern für 33,27 € bei ebay ersteigert. Kein schlechter Preis für ein neues Hemd von Finamore. Es wird natürlich demnächst in der Fortsetzungsreihe Made in Italy einen Post über die 1925 gegründete italienische Hemdenfabrik Finamore geben. Und da ich gerade Leserzahlen erwähnt habe, möchte ich noch ein paar Worte zu Googles Blogger sagen. Die haben nämlich die ganze Woche mir wieder Zahlen zugeschaufelt, die ich gewohnt bin. Also täglich mehr als 1.200, damit kann ich leben. Ich weiß aber schon, in ein paar Tagen sind es wieder dreihundert.


Mittwoch, 9. November 2022

9. November

Ein Tag der ewigen Schande für Deutschland. Der Begriff der Reichskristallnacht ist wahrscheinlich zuerst eher ein ironischer Ausdruck des Zorns gegen den barbarischen Terror gewesen, bevor die Nazis diesen Euphemismus zynisch für sich vereinnahmten. Mit dem Zerwerfen der Schaufensterscheiben kam die sogenannte Arisierung der Geschäfte, Enteignung, Vertreibung, Ermordung der Geschäftsinhaber.

Ich möchte heute eine kleine, leider wahre Geschichte erzählen, die mich seit Jahrzehnten verfolgt. In Bremen lebt man ja gerne mit der Vorstellung, dass wir Bremer alle immer vornehm und hanseatisch gewesen seien. Und wer hanseatisch ist, ist natürlich immun gegen den Nationalsozialismus. Es ist leider keineswegs so gewesen. Die Zahlen und Statistiken in dem hervorragenden Buch von Inge Marssolek und René Ott Bremen im Dritten Reich sprechen da eine ganz andere Sprache. Nein, die Bremer können nicht sagen, sie seien nicht dabei gewesen. Und die Flaggen auf der Obernstraße im Jahre 1938 auf diesem Photo sind auch nicht wegzuleugnen.

In meinem Heimatort Vegesack erhielt die NSDAP bei der Reichstagswahl vom 6. November 1932 30,8 Prozent der Stimmen. In keinem Bremer Wahlbezirk hat sie mehr Prozente erreicht. Im feinen Schwachhausen sind es immerhin 21,7 Prozent, das zweithöchste Ergebnis. Nur die Arbeiterstadtteile haben die Nazis nicht gewählt. Doch es sind diese Stadtteile, die von den Alliierten bombardiert werden. Sie werden die schlimmsten Verluste haben, darin liegt eine Tragik. Meine Geschichte heute kommt wieder einmal, wie die Geschichte über meinen Freund Peter Gutkind oder die über die Bremer Revolution 1968, aus meinen unfertigen Bremensien. Und sie beginnt mit meinem Schulweg. Springen Sie mit mir für einen Augenblick zurück in die Kindheit. Aber wir werden in dieser Zeit der Unschuld nicht verweilen können.

Wenn ich die Weserstraße mit meinem Ranzen entlanggehe, treffe ich morgens Mitschüler wie Roder oder Gabi, und wir gehen gemeinsam zur Schule. Zwischen der Kimmstraße und der Breiten Straße kennen wir jede Gehwegplatte, weil wir hier Hüpfspiele wie Himmel und Hölle spielen oder die Platten einmal im Jahr hochnehmen, um nach Maikäfern zu suchen. In der Breiten Straße begegnen uns einmal in der Woche Kälber und quiekende Schweine, die zur Schlachterei Pohl in der Bahnhofstraße getrieben werden. Danach gehen wir bei Többens über den Zebrastreifen. Es ist der einzige Zebrastreifen über die Bundestraße 75, den wir im Ort haben. Deshalb soll ich diesen Weg nehmen, sonst könnte ich auch die Kimmstraße entlang gehen und dann bei Viole durch den Gang flitzen. Aber bei Viole, wo immer ein Fass mit Heringen vor der Ladentür steht, ist leider kein Zebrastreifen, und so muss ich bei Többens vorbei.

Neben Többens ist früher ein Schuhgeschäft gewesen. Da hat ein Verwandter meiner Großeltern in der sogenannten Reichskristallnacht ein Paar Schuhe geklaut. Um dann morgens festzustellen, dass er zwei linke Schuhe erwischt hatte. Die Familie lacht immer noch über diese Geschichte, obgleich der Verwandte ansonsten ungern erwähnt wird. Der hatte nämlich in Osnabrück eine kriminelle Pleite hingelegt und war im Gefängnis gewesen, danach war er bei den Bremer Verwandten abgetaucht. Im Osnabrücker Land wollte er sich erstmal nicht mehr sehen lassen.

Wenn wir beim Zebrastreifen sind, macht Herr Többens seinen Laden gerade auf. Das ist ein Herrenmodegeschäft der armseligen Sorte. Ich grüße den Herrn Többens nie. Meine Eltern auch nicht. Wir kaufen da auch nicht, ich war nie in meinem Leben in dem Laden. Walter Caspar Többens ist ein Nazi gewesen und ein Kriegsverbrecher. Das mit dem Kriegsverbrecher habe ich lange nicht gewusst. Dass beinahe alle Vegesacker Geschäftsleute Nazis waren und viele in der SS waren, kommt eines Tages dank unserer Schulzeitung Das Echo heraus, die zum Entsetzen der Schulleitung einen gut recherchierten Artikel aus dem Neuen Deutschland über die Nazis in Vegesack nachdruckt. Dass die Ausgabe des Echo überhaupt erschien, war damals in der Adenauerrepublik immerhin ein kleiner Sieg der Pressefreiheit. Dass Többens ein Kriegsverbrecher war, erfahre ich erst durch einen photokopierten Artikel, den mir mein Freund Gert Börnsen Jahrzehnte nach Többens’ Tod gegeben hat. Ich hatte den Artikel einer Freundin geliehen, die auch aus dem Ort kommt, habe ihn aber nie wiederbekommen. Manche Leute sind ein Bermuda Dreieck für Leihgaben. Aber ich bekomme eines Tages heraus, wer den Artikel geschrieben hat, auch wenn ich die Photokopie von Gert niemals wiedersehe.

Der Verfasser heißt Günther Schwarberg, er schreibt für den Stern. Er ist in Vegesack geboren. Sein Vater war Lehrer an Opas Volksschule. Opa und Schwarberg Senior haben sich nicht ausstehen können, denn Schwarbergs Vater war ein Sozialdemokrat. Das ist für meinen kaisertreuen Opa ja das Schlimmste auf der Welt. Über die Többens dieser Welt macht Opa sich weniger Gedanken. Walter Caspar Többens ist 1954 gestorben, mit seiner Geliebten im Auto verunglückt. Zu dem Zeitpunkt ermittelt die Staatsanwaltschaft nicht mehr gegen das CDU-Miglied, den gläubigen Katholiken und erfolgreichen Geschäftsmann. Aber 1949, da war er von einer Bremer Spruchkammer als Kriegsverbrecher verurteilt worden, zehn Jahre Arbeitslager, Einziehung des Vermögens, Verlust aller bürgerlichen Rechte und jedes Anspruchs auf Rente und Unterstützung. In Polen gab es ein Todesurteil gegen ihn, aber er ist der Auslieferung durch die Amerikaner zweimal durch Flucht entkommen. Und auch das Bremer Urteil wird nicht vollstreckt, nach 1950 wird in Bremen niemand mehr verfolgt. Das Vermögen bleibt nicht eingezogen. Többens wird 1952 als Mitläufer eingestuft und wohnt dann im feinen Schwachhausen. Vom Kriegsverbrecher zum Mitläufer in drei Jahren, auch das ist Bremer Wirklichkeit. Auf die wir nicht stolz sein können.

Günther Schwarberg, der auch die Geschichte der Kinder vom Bullenhuser Damm öffentlich gemacht hat, hat Walter Caspar Többens’ Geschichte in seinem Buch Das Getto: Spaziergang in die Hölle aufgeschrieben. Eine Musterkarriere im Dritten Reich: Arisierung der Firma von Adolf Herz in Vegesack, die fortan Többens heißt, dann Großunternehmer und Wehrmachtslieferant für Uniformen in Warschau. Millionengewinne. In Warschau kann man viel Geld machen, auch Oskar Schindler war ja ursprünglich nicht dahin gegangen, um gute Werke zu tun.

Die Deutschen haben sich nach dem Überfall auf Polen hier sozusagen wohnlich eingerichtet. Das kleine, sorgfältig gedruckte Büchlein Soldatenführer durch Warschau, das ich unter Vatis Unterlagen gefunden habe, vermittelt einem den Eindruck einer deutschen Mustersiedlung. Die Soldatengaststätte am Adolf Hitler Platz ist täglich von 7 bis 22 Uhr geöffnet, Uniformen (wahrscheinlich bei Többens genäht) kann man im Deutschen Uniformhaus im Hotel Bristol (Bild) kaufen. Das Heft ist voller Anzeigen deutscher Firmen, von Thonet Möbeln (Slotnastraße 9) bis Telefunken Radios. In dem Soldatenführer liegt auch eine Quittung des Geschäftes von Julius Meinl, wonach Vati (der damals als junger Leutnant durch einen Irrtum einen halben Tag vor der offiziellen Einnahme Warschaus als erster deutscher Soldat mit dem Jeep durch die menschenleere Stadt gefahren ist) für sechzig Gramm Butter und ein Pfund Keks eine Mark dreiundzwanzig bezahlt hat. Die Firma Julius Meinl hat nach 1939 über tausend Filialen in Europa, jetzt auch in Warschau. Der Soldatenführer durch Warschau (gekauft bei der Deutschen Buchhandlung, der Heim- und Pflegestätte deutschen Schrifttums) weist, ähnlich wie ein Baedeker, auch auf die architektonischen und landschaftlichen Schönheiten hin.

Die interessieren Walter Többens weniger. Er wäre ja aus dem Getto davongelaufen, wenn er nicht so gut verdient hätte, sagt er im Prozess. Und gut verdienen tut er. Für 1,4 Millionen Reichsmark kann er plötzlich das Bambergerhaus in Bremen kaufen. In den zwanziger Jahren im expressionistischen Backsteinstil erbaut, war es das erste Hochhaus in Bremen, hatte die ersten Rolltreppen. Und im Erdgeschoss kann man von einem Photomaton in acht Minuten acht Portraitphotos bekommen. Von den Bremern wurde das Kaufhaus liebevoll Bambüddel genannt. Es besaß sogar eine Armenküche. Julius Bamberger tat nicht nur gute Werke, er kämpfte auch zusammen mit dem Bremer Pastor Emil Felden gegen den grassierenden Antisemitismus. 1933 wird Bamberger vorübergehend verhaftet, flieht 1937 in die Schweiz. Baut sich in Paris eine neue Existenz auf. Als die Deutschen kommen, landet er im KZ. Kann wieder fliehen, diesmal in die USA. Er bekommt nach dem Kriege gerade mal 50.000 Mark für das, was man ihm weggenommen hat.

Walter Többens, der ehemalige mittellose Angestellte bei der Firma Leffers in Vegesack, der den Nazis und seiner kriminellen Energie sein Geld verdankt, ist zu dem Zeitpunkt schon wieder im Besitz seines ganzen Vermögens. Er hat kurz vor Kriegsende dank geschmierter Helfer in Berlin auch alles aus seinen Többens-Werken von Warschau und Poniatowa nach Delmenhorst verlagern können. Zu diesem Zeitpunkt kriegen kein Soldat und kein Flüchtling mehr einen Platz in einem Zug nach Westen, Többens kriegt ganze Eisenbahnzüge von seinem Kumpel Dr Heinrich Lauts im Berliner Reichwirtschaftsministerium zur Verfügung gestellt. Das 1944 zerstörte Bambergerhaus ist 1955 wieder aufgebaut worden. Auch der Schriftzug Bamberger steht heute wieder am Haus, in dem jetzt die Volkshochschule residiert. Im Treppenhaus gibt es eine Dauerausstellung über das Leben und Wirken Julius Bambergers.

Zehntausende von jüdischen Arbeitern, die für Többens in Warschau und Umgebung Uniformen nähen, wandern ins KZ. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Többens, der mit einer Peitsche in der Hand durch seine Fabriken geht (sie aber natürlich nie benutzt hat, wie er im Prozeß sagt), ist Großunternehmer, der größte Arbeitgeber im Getto. Ein Oskar Schindler mit umgekehrten Vorzeichen. In dem Bremer Spruchkammerverfahren hatte der Verteidiger von Többens ihn in einem fünfstündigen Plädoyer als einen Wohltäter darzustellen versucht. Und sich zu der Behauptung verstiegen: Lebten die Juden aus dem Warschauer Getto noch, so stünde Többens nicht vor einem Gericht, sondern im Goldenen Buch von Palästina. 1988 legen die Nachkommen von Walter Többens eine kriminelle Millionenpleite hin.

Vor Jahrzehnten ist ein Bundestagspräsident nach dem 9. November zurückgetreten, weil er ein schlechter Redner war. Denn wäre der Philipp Jenninger am fünfzigsten Jahrestag des 9. Novemer 1938 rhetorisch versierter gewesen, und wären die Zuhörer bereit gewesen, ein rhetorisches Mittel wie das der erlebten Rede als ein rhetorische Mittel zu erkennen und nicht als eine Meinung des Redners, nichts wäre geschehen. Vielleicht wäre Jenninger besser beraten gewesen, wenn er einen kurzen Text von Erich Kästner vorgelesen hätte:

In jener Nacht fuhr ich, im Taxi auf dem Heimweg, den Tauentzien und den Kurfürstendamm entlang. Auf beiden Straßenseiten standen Männer und schlugen mit Eisenstangen Schaufenster ein. Überall krachte und splitterte Glas. Es waren SS-Leute, in schwarzen Breeches und hohen Stiefeln, aber in Ziviljacken und mit Hüten. Sie gingen gelassen und systematisch zu Werke. Jedem schienen vier, fünf Häuserfronten zugeteilt. Sie hoben die Stangen, schlugen mehrmals zu und rückten dann zum nächsten Schaufenster vor. Passanten waren nicht zu sehen. (Erst später, hörte ich am folgenden Tag, seien Barfrauen, Nachtkellner und Straßenmädchen aufgetaucht und hätten die Auslagen geplündert). Dreimal ließ ich das Taxi anhalten. Dreimal wollte ich aussteigen. Dreimal trat ein Kriminalbeamter hinter einem der Bäume hervor und forderte mich energisch auf, im Auto zu bleiben und weiterzufahren. [. . .] In der gleichen Nacht wurden von den gleichen Verbrechern, von der gleichen Polizei beschützt, die Synagogen in Brand gesteckt. Und am nächsten Morgen meldete die gesamte deutsche Presse, die Bevölkerung sei es gewesen, die ihrem Unmut spontan Luft gemacht habe. Zur selben Stunde in ganz Deutschland - das nannte man Spontaneität. Ignatz Bubis hat übrigens ein Jahr nach Jenninger Teile aus Jennigers Rede vorgetragen. Es gab keine nationale Entrüstung.

Das Buch von Günther Schwarberg Das Getto: Spaziergang in die Hölle ist noch antiquarisch zu bekommen. Das Buch von Inge Marssolek und René Ott Bremen im Dritten Reich ist nach einem Vierteljahrhundert leider vergriffen (lässt sich aber noch finden). Man sollte sich bei Carl Schünemann und beim Senator für Kultur wirklich mal überlegen, ob man das nicht wieder auflegt oder online stellt. Der Kriegsverbrecher Walter Többens, den die historische Forschung jahrzehntelang unbeachtet gelassen hat, besitzt inzwischen einen Wikipedia Artikel und hier beim Weser Kurier eine informative Seite.

Dieser Text stand hier seit 2010 schon mehrfach. Ich stelle ihn an diesem 9. November noch einmal hier hin, genügend Brandstifter haben wir in Deutschland ja wieder. Und jetzt sitzen sie auch schon im Bundestag und wollen sich ihr Land und ihr Volk zurückholen. Der Antisemitismus ist auch wieder da, nicht nur die Hetze im Netz, auch die Gewalttaten nehmen zu. Werfen Sie doch mal einen Blick in den Lagebericht des Bundesamts für Verfassungsschutz. Es ist schrecklich, aber es hört nie auf.

Lesen Sie auch: Schicksalstag

Freitag, 4. November 2022

Kanonengedröhn


Stendhal war nicht bei der Schlacht von Waterloo dabei, aber er hat die Schlacht in seinen Roman Die Kartause von Parma hineingeschrieben. Die Waterloo Szene des Romans (hier eine Leseprobe der neuesten Übersetzung von Elisabeth Edl) ist am 17. Mai 1839 im Constitutionnel sozusagen als Kostprobe des Romans veröffentlicht worden, am selben Tag erschien der Roman. Stendhals Militärkarriere war kurz, bei der Wiedereroberung Italiens durch Napoleon im Jahre 1800 war er als junger Kavallerieoffizier in der Reservearmee dabei. Damals war er genauso alt wie sein Held Fabrizio del Dongo in der Schlacht von Waterloo. Beim Russlandfeldzug 1812 war er als Kriegskommissar wieder bei der Armee. Wie der Krieg aussieht, das wusste er. Das Schlachtfeld von Waterloo hatte er sich ein Jahr, bevor er den Roman schrieb, sorgfältig angeschaut. Tolstoi hat sich das Schlachtfeld von Borodino noch gründlicher angeschaut, bevor er Krieg und Frieden schrieb. Er ritt viele Tage mit der Generalstabskarte in der Hand über die Gräber der russischen Armee.

Die Waterloo Episode in den ersten Kapiteln des Romans macht nur einen ganz geringen Teil des Romans aus (es gibt sie auch als kleines Büchlein), aber sie hat für die Literatur ungeahnte Auswirkungen. Sicherlich wird es weiterhin romantische Literatur geben, in der junge Kavallerieoffiziere mit dem Säbel in der Hand über das Feld sprengen, ohne dass sich ein blutüberströmtes Pferd auf dem Acker wälzt und sich mit den Beinen in seine eigenen Gedärme verwickelt. Wir haben da im 19. Jahrhundert riesige Mengen Literatur, die vom Heldentum handeln, mit Liedern wie Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod, Heute noch auf stolzen Rossen, morgen durch die Brust geschossen. 

Aber wir lassen den vaterländischen Kitsch mal beiseite, die wirkliche Literatur wird die Botschaft von Stendhal verstehen. Die Einflüsse auf Tolstois Krieg und Frieden sind evident, und Tolstoi war der erste, der das zugab: Ich bin Stendhal wie kaum irgendwem verpflichtet: ich verdanke ihm die Kenntnis des Krieges. Wer vor ihm hat den Krieg auf diese Weise geschildert, das heißt so, wie er wirklich ist? Man erinnere sich, wie Fabrizzio mitten durch die Schlacht von Waterloo reitet und nicht das geringste davon merkt und wie ihn die Husaren unversehens rückwärts über die Kruppe seines Pferdes, seines schönen Generalspferdes, herunterholen. Später, im Kaukasus, hat mir mein Bruder, der eher Offizier wurde als ich, den Realismus der Stendhalschen Schilderung bestätigt. Er schwärmte für den Krieg, wenn er auch nicht so naiv war, an die Szene auf der Brücke von Arcole zu glauben. Alles das, sagte er mir, ist buntes Beiwerk; im Kriege gibt es derlei nicht! Bald darauf, in der Krim, habe ich das mit eigenen Augen beobachtet. Und ich wiederhole es: in allem, was ich vom Kriege weiß, war mein erster Lehrer Stendhal. Es ist nicht nur Tolstoi, auf den Stendhal wirkt. Auch die Beschreibungen der ersten Schlacht, durch die Henry Fleming in Stephen Cranes Roman Red Badge of Courage taumelt, verdanken Stendhal viel.

Wir sind wieder einmal bei Stendhal. In dem Post Paul Hazard, immortel habe ich geschrieben: Ich bin dabei, über Stendhal zu schreiben, das habe ich schon am 3. Oktober gesagt. Ich will über die Übersetzungen von Elisabeth Edl von Rot und Schwarz und Die Kartause von Parma schreiben, ich habe auch schon eine Menge als Entwurf stehen. Aber dann musste ich erst einmal die Posts Paul Hazard und Stendhal Biographien schreiben. Die erstaunlicherweise viele Leser fanden, das freut mich natürlich. Ich möchte heute einmal zwei Übersetzungen des Waterloo Textes miteinander vergleichen, die hundert Jahre auseinanderliegen. Die erste Übersetzung ist von Arthur Schurig, die zweite von Elisabeth Edl. Schurigs Übertragung von Die Kartause von Parma ist 1906 in zwei Bänden veröffentlicht worden. Das war die erste deutsche Übersetzung des Romans, wenn man eine sehr freie Übertragung aus dem Jahre 1845 nicht mitzählt. Die war bei der Arnoldschen Buchhandlung in Dresden unter dem Titel Kerker und Kirche: Ein Roman. Frei nach H. von Stendahl's Chartreuse de Parme in drei Bänden erschienen. Kostete drei Thaler. Elisabeth Edl sagt in ihrer Übersetzung der Kartause im Nachwort, dass dieses Buch nicht auffindbar sei. Ist es aber doch: Google hat das Buch hier im Volltext und für 25 Euro bekommt man in Antiquariaten einen Reprint des Romans. 

Arthur Schurig hat seinen Text für die Propylaen Ausgabe der zwanziger Jahre noch einmal überatbeitet, dieser Text findet sich beim Projekt Gutenberg im Internet. Der Dresdner Arthur Schurig hatte ein erstaunliches Leben. Als er 1906 seine Übersetzung der Kartause fertig hatte, quittierte der Hauptmann Schurig seinen Dienst in dem Dresdner Artilleriebataillon und begann zu studieren. Von 1914-1918 war der Dr Schurig natürlich wieder bei seinem Regiment. Er hat Stendhal, Flaubert und Mérimée übersetzt, eine Mozart Biographie geschrieben undundund. Im Katalog der deutschen Nationalbibliothek steht er mit 212 Einträgen. Schurigs Übersetzung von der Kartause, war die erste, die ich gelesen habe. Ich besitze noch eine interessante Übersetzung von Walter Widmer (dem Vater des Schriftstellers Urs Widmer) und natürlich die Übersetzung von Elisabeth Eidl. Die sogar in Hardcover. Werfen wir einmal einen Blick auf Schurigs Übersetzung:

Mit einem Male erblickte Fabrizzio vier Reiter, die von der feindlichen Seite her in voller Karriere heranjagten. ›Ah, wir werden attackiert!‹ sagte er bei sich. Da sah er, wie zwei der Reiter mit dem Marschall sprachen. Einer der Generale galoppierte mit zwei Husaren des Gefolges und den vier soeben eingetroffenen Reitern in der Richtung auf den Feind hinweg.
Der Stab überquerte einen kleinen Graben. Fabrizzio fand sich neben einem Wachtmeister, der treuherzig dreinschaute. ›Den muß ich anreden‹, sagte er sich. ›Vielleicht sieht mich dann keiner mehr so an.‹ Lange ging er mit sich zu Rate.
»Herr Wachtmeister,« begann er endlich, »ich bin zum ersten Male in einer Schlacht. Das ist doch eine richtige Schlacht?«
»Sozusagen ja! Wer bist du denn eigentlich?«
»Ich, ich bin der Bruder der Frau eines Rittmeisters...«
»Von welchem Rittmeister? Wie heißt er?«
Unser Held war in furchtbarer Verlegenheit. Auf eine solche Frage war er ganz und gar nicht gefaßt. Zum Glück galoppierten der Marschall und der Stab wieder an. ›Was für einen französischen Namen soll ich sagen?‹ dachte er bei sich. Da fiel ihm der Name des Gasthofsbesitzers ein, bei dem er in Paris gewohnt hatte. Er brachte sein Pferd an das des Wachtmeisters heran und rief ihm mit voller Lunge zu: »Rittmeister Meunier!«
Der Wachtmeister, der Fabrizzio bei dem Kanonendonner nicht deutlich verstand, gab ihm zur Antwort: »Ach, der Rittmeister Teulier! Ja, der ist gefallen.«
›Ausgezeichnet!‹ sagte Fabrizzio bei sich. ›Also Rittmeister Teulier! Ich muß Trauer heucheln.‹
»O du mein Gott!« rief er laut und steckte eine gottserbärmliche Miene auf.
Man war aus dem Hohlweg heraus und ritt quer über eine kleine Wiese. Es ging in Karriere. Wieder schlugen Geschosse ein. Der Marschall ritt auf eine Kavalleriebrigade zu. Der Stab befand sich mitten unter Toten und Verwundeten, aber ihr Anblick machte auf unseren Helden bereits keinen so starken Eindruck mehr. Er hatte an andere Dinge zu denken.
Man hielt. Fabrizzio bemerkte den kleinen Wagen einer Marketenderin. Seine Zärtlichkeit für diese schätzenswerten Personen riß ihn fort. Er jagte darauflos.
»Potzdonnerwetter, so bleib doch hier!« schrie ihm der Wachtmeister nach.

Das kann man nach hundert Jahren immer noch lesen. Ist die neue Übersetzung aus dem Jahre 2007 wirklich so viel besser? Urs Widmer schrieb in seiner Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Anlass zu diesen Überlegungen gibt mir die neue Übersetzung der "Kartause" von Elisabeth Edl. Sie ist die erste seit 1958. Ich hatte mir fest vorgenommen, kein Wort zu ihr zu sagen, wenn ich sie nicht sehr gut finde. Der Grund dieser Zurückhaltung ist, dass die bisherige Referenz-Übersetzung, die nun diesen Rang verliert, just von meinem Vater stammt, Walter Widmer. Es ist in der Tat faszinierend und lehrreich zu sehen, wie eine Übersetzung, die einmal die Leser und Leserinnen durchaus entzückt hat, alt werden kann. Denn Elisabeth Edl tut eigentlich nichts anderes, als Stendhal unvoreingenommen und genau zu lesen. Sie hat ein wunderbar sicheres Gespür für seine Lakonie und gerät nie in Versuchung - wie dies meinem Vater immer wieder geschah -, Stendhal sozusagen nach oben zu schreiben. Ihn "besser" zu machen, "schöner", oder scheinbar unvollständige Satztrümmer stillschweigend zu ergänzen. Ich weiß nicht, ob das so ist, ich fand die Übersetzung von Walter Widmer immer ganz charmant. Blicken wir einmal auf die Übersetzung von Elisabeth Edl und fragen uns, ob das wirklich revolutionär neu ist:

Plötzlich sah Fabrizio aus feindlicher Richtung vier Männer in gestrecktem Galopp herankommen. Ah! wir werden angegriffen, sagte er sich; dann sah er zwei dieser Männer mit dem Marschall sprechen. Einer der Generäle aus dem Gefolge des Marschalls galoppierte in feindliche Richtung, hinter ihm zwei Husaren der Eskorte und die vier eben erst eingetroffenen Männer. Nachdem alle über einen kleinen Kanal gesetzt hatten, fand sich Fabrizio neben einem sehr gutmütig aussehenden Wachtmeister. Mit dem muß ich reden, sagte er sich, vielleicht hören sie dann auf, mich anzustarren. Er überlegte lange.
»Monsieur, ich nehme zum ersten Mal an einer Schlacht teil«, sagte er endlich zu dem Wachtmeister; »ist das auch eine richtige Schlacht?«
»Das will ich meinen. Aber wer sind Sie überhaupt?«
»Ich bin der Bruder der Frau eines Rittmeisters.«
»Und wie heißt dieser Rittmeister?«
Unser Held kam in schreckliche Verlegenheit; diese Frage hatte er nicht erwartet. Zum Glück galoppierten der Marschall und die Eskorte weiter. Was für einen französischen Namen soll ich sagen? dachte er. Endlich fiel ihm der Name des Hotelwirts ein, bei dem er in Paris logiert hatte; er ritt nahe an den Wachtmeister heran und schrie aus Leibeskräften:
»Rittmeister Meunier!« Der andere hörte wegen des Kanonengedröhns schlecht und antwortete: »So! Rittmeister Teulier? Na, der ist gefallen.« Bravo! sagte sich Fabrizio. Rittmeister Teulier; ich muß bestürzt wirken. »Oh, mein Gott!« rief er und setzte eine Leidensmiene auf. Sie hatten den tiefer liegenden Weg verlassen und ritten in gestrecktem Galopp über eine kleine Wiese, wieder sausten Kanonenkugeln, der Marschall wandte sich zu einer Kavalleriedivision. Die Eskorte stand zwischen Leichen und Verwundeten; aber dieses Schauspiel machte schon nicht mehr so viel Eindruck auf unseren Helden; seine Gedanken waren anderswo. Während die Eskorte hielt, entdeckte er den kleinen Wagen einer Marketenderin, und da seine Zuneigung zu diesem ehrenwerten Berufsstand stärker war als alles andere, ritt er hinüber. »Hiergeblieben, Himmelherrgotts...!« schrie ihm der Wachtmeister nach.

Die Reiter kommen hier in gestrecktem Galopp, bei Schurig war es in voller Karriere (in dem Text von 1845 war es gestreckte Carrière). Das sagte man um 1900 so, und in Reiterkreisen gebraucht man das heute immer noch. Es gibt keine großen Unterschiede zwischen den Texten, abgesehen davon, dass das Potzdonnerwetter, so bleib doch hier am Schluß besser klingt als das schwache Hiergeblieben, Himmelherrgotts. An zwei Stellen muss man sich bei Edls Übersetzung fragen, ob das wirklich so richtig ist. Bei ihr setzt eine Gruppe von Reitern über einen kleinen Kanal, bei Schurig überqueren die Reiter einen kleinen Graben. Stendhal spricht zwar im Text von un petit canal, aber muss das nun ein Kanal sein? Der gute alte Sachs-Villatte meines Opas aus dem Jahre 1909 versichert mir, das mit dem Wort auch kleine Rinnen gemeint sein können. Widmer übersetzt den petit canal mit einem schmalen Wasserlauf. Was ein Kanal ist, weiß ich seit Kindertagen. Von Tante Margrets Haus in Bad Essen konnte man den Mittellandkanal sehen, das war ein Kanal, über den keine Reitereskorte springen kann. Auf dem Schlachtfeld von Waterloo gab es Gräben und schmale Wasserläufe, aber wohl kaum Kanäle.

Und es gibt das noch etwas, an dem ich mich stoße. Das ist der Satz der Marschall wandte sich zu einer Kavalleriedivision. Eine ganze Division? Wirklich so viele? Das ist nach einem Korps die größte militärische Einheit einer Armee. Arthur Schurig, Hauptmann a.D., der das Militär kennt, hat hier eine Kavalleriebrigade, Widmer eine Kavallerieabteilung. Beide liegen richtig, die Division ist an dieser Stelle viel zu viel. Man kann das Spiel jetzt Seite für Seite betreiben und wird feststellen, dass die Übersetzungen von Schurig und Widmer durchaus ihre Verdienste haben. Und dass Frau Edl Fehler macht. 

Ich finde auch Schurigs Kanonendonner (Widmer hat Geschützdonner) viel besser als Edls Kanonengedröhn. Bei Stendhal heißt es roulement du canon, welche Geräusche Kanonen machen, das weiß der Artillerieoffizier Schurig besser als Frau Edl. Und deshalb schreibt er Kanonendonner und nicht Kanonengedröhn. Über den Kanonendonner können wir bei Stendahl einiges in dem Tagebuch lesen, das er am 21. Mai 1813 während der Schlacht von Bautzen geschrieben hat: Von Mittag bis drei Uhr nachmittags sahen wir alles, was man von einer Schlacht sehen kann, das heißt: nichts. Der Genuß liegt in der Aufregung, die einem das Bewußtsein erweckt, daß sich um uns etwas abspielt, von dem man weiß, es ist schrecklich. Der majestätische Kanonendonner verstärkt die Wirkung. Er paßt vortrefflich zum ganzen Eindruck. Wenn die Geschütze ein scharfes, pfeifendes Geräusch hervorbrächten, so würde es einen wohl nicht so ergreifen. Ich habe das Gefühl, ein pfeifendes Geräusch wäre grausig, aber niemals so schön wie der rollende Kanonendonner.

Der amerikanische Romanist Victor Brombert hat in Stendhal: Fiction and the Themes of Freedom dazu gesagt: Stendhal himself, after the Battle of Bautzen (probably the only battle he saw, and at some range at that), remembered that he had glimpsed all there is to be seen of a battle — that is, little, or nothing. Man sieht nichts von der Schlacht, wenn man inmitten der Schlacht ist. Historiker haben das das Stendhal Paradox genannt. Der englische Historiker John Keegan hat in seinem Buch The Face of Battle: A Study of Agincourt, Waterloo and the Somme hunderte von Zeugen einer Schlacht zu Wort kommen lassen, die über das Schlachtfeld irren und sich wie Fabrizio fragen: Herr Wachtmeister, ich bin zum ersten Male in einer Schlacht. Das ist doch eine richtige Schlacht? Militärgeschichte einmal nicht von oben, sondern von unten. Es ist sicherlich kein Zufall, dass in meinem Post John Keegan Stendhal (hier ein Jugendbild) und Tolstoi ztiert werden.

Andreas Isenschmid hat bei der Verleihung des Johann Heinrich Voß Preises an die Übersetzerin Elisabeth Edl schöne Worte für ihre Übersetzung von Le Rouge et le Noir gefunden und wenig Schönes über ihre Vorgänger wie Arthur Schurig und Otto Flake gesagt. Aber truth is the daughter of time, im Augenblick ist es angesagt, Frau Edl in den Himmel heben. Doch das ganze 20. Jahrhundert sind Leser mit den Übersetzungen von Schurig und Widmer ausgekommen; das war ihr Stendhal, den sie mit ihrer Seele lasen, wie es in La vie de Henri Brulard so schön heißt: Un roman est un archet. La caisse du violon qui rend les sons, c'est l'âme du lecteur. 

Wenn Sie die Chartreuse de Parme im Original lesen, können Sie das hier tun. Und dann hätte ich an Filmen noch den Klassiker mit Gérard Philipe für Sie. Und einen zehn Jahre alten Fernsehfilm. Bunt und kitschig. Muss auch mal sein.

Sonntag, 30. Oktober 2022

Louis Malle


Der französische Filmregisseur Louis Malle wurde heute vor neunzig Jahren geboren. Er war schon häufig in diesem Blog, testen Sie einmal das kleine Suchfeld. Er war mal mit Gila von Weitershausen liiert, aber 1980 hat er in zweiter Ehe Candice Bergen geheiratet. Louis Malle hat viele schöne Filme gedreht, den Film Eine Komödie im Mai (Milou en Mai) habe ich in dem Post Mai-Unruhen erwähnt. Der Brigitte Bardot Film Privatleben wird in Et Dieu… créa la femme erwähnt, Viva Maria findet sich in dem Post Gregor von Rezzori

Louis Malle hatte immer schöne Frauen in seinen Filmen, den Satz von Truffaut Le cinéma c'est l'art de faire de jolies choses à de jolies femmes hat er gekannt und beherzigt. Den beherzigen ja alle französischen Regisseure. ✺Herzflimmern habe ich vor fünfzig Jahren zweimal gesehen, weil ich damals für Lea Massari schwärmte. Das erste, was mir bei Louis Malle einfällt, sind nicht seine Filme, sondern der wunderbare Satz: Wenn man in einem Bentley fahren gelernt hat, tritt der Wunsch nach einem Rolls-Royce etwas in den Hintergrund. Er kam aus einer reichen Familie. Die Frage eines Reporters: Was würden Sie tun, wenn Sie hundert Millionen Francs hätten? beantwortete er gelassen mit: Aber ich habe hundert Millionen. Den Film Herzflimmern haben sie letztens auch auf dem Festival Lumière 2022 gezeigt, wo es eine kleine Hommage für Louis Malle gab.

Er gehörte nie so richtig zu den Regisseuren der Nouvelle Vague. Nicht nur, weil er so reich war, sondern auch, weil seine filmische Karriere mit Unterwasserfilmen für Jacques Cousteau begann. Wahrscheinlich hat er damals auch eine Doxa mit dem orangenen Zifferblatt am Arm gehabt. Er mochte Paris nicht, wo seine Kollegen lebten, und schrieb sich seine Drehbücher selbst. Oder schrieb sie zusammen mit einem Drehbuchautor. Zazie (Zazie dans le métro) und  Privatleben (La vie privée) hat er mit Jean-Paul Rappeneau geschrieben, dessen ersten Film er sehr gelobt hat. Grâce et précision hat Louis Malle sein Vorwort zu dem Drehbuch des Films La vie de chateau in der Reihe L'Avant Scène betitelt, und grâce et précision zeichneten auch seine Filme aus.

Wenn Louis Malle auch keinen eigenen Post in diesem Blog hat, einer seiner Filme hat hier seit zehn Jahren einen Post, und das ist Fahrstuhl zum Schafott. der auch in Lyon bei dem Festival Lumière 2022 gezeigt wurde. Die Firma Malavida bringt im November eine Retrospektive Louis Malle, gentleman provocateur in die Kinos. Ich stelle den Post Fahrstuhl zum Schafott heute noch einmal, leicht überarbeitet, hier hin. Den Film und den Soundtrack von Miles Davis gibt es auch zum Anklicken. 

Es wäre beinahe ein perfekter Mord geworden. Was das Töten bedeutet, das weiß der Julien Tavernier, der von Maurice Ronet gespielt wird, der ehemalige Fallschirmjäger ist gerade aus Indochina zurück. Den ungeliebten Ehemann von Jeanne Moreau umzubringen, ist keine große Sache. Und alles wäre perfekt gelaufen, wenn nicht ein Kleinkrimineller mit einer schwarzen Lederjacke Juliens Wagen geklaut und einen Mord begangen hätte. Und wenn der Hausmeister nicht den Fahrstuhl abgeschaltet hätte. So wird der zu einem Fahrstuhl zum Schafott. Wir sind in einem Film von Louis Malle.

Schwarz-Weiß, düster, ein wenig Film Noir, eine wenig Neue Welle. Und ein unvergesslicher Soundtrack, wenn Jeanne Moreau nachts im Regen durch die Straßen von Paris irrt. Und tolle Autos, ein Flügeltüren Mercedes kommt auch drin vor. Der Kleinkriminelle klaut das Auto von Maurice Ronet ja auch nur, weil das ein Cabriodach hat, das sich selbst versenkt. Das sieht man 1958 nicht so häufig. Einen Mercedes 300 SL natürlich auch nicht, das kleine 190er Modell schon. Sogar in unserem Kaff gab es einen, den ein Werftbesitzer seiner blonden Tochter geschenkt hatte. Die Gattin vom Chefarzt des Krankenhauses hatte nur einen NSU Spider, der im Volksmund Facharbeiter-Porsche hieß. Der 190 SL galt immer als ein bisschen prollig, zumal Rosemarie Nitribitt einen hatte. Weshalb die Werbung der Firma Regent damals das Modell verwendete, weiß ich nicht.

Louis Malle liebt Autos, er hat auch einmal einen Dokumentarfilm über Citroen gedreht. Und er hat einmal gesagt: Wenn man in einem Bentley fahren gelernt hat, tritt der Wunsch nach einem Rolls-Royce etwas in den Hintergrund. Er kommt aus einer sehr reichen Familie, er kennt die Bourgeoisie, die er in seinen Filmen beschreibt. Alte französische Filme sind ja eine Fundgrube für Nebensächlichkeiten. Also für Cinéasten, die den Film schon x-mal gesehen haben und nicht mehr auf die Handlung achten.

Die achten jetzt auf die kleinsten Details: Klamotten, Autos, Werbung im Hintergrund, wie die flackernde Kronenbourg Lichtreklame. Ich habe die Szene nie vergessen, wie Maurice Ronet in Feu Follet im Vorbeigehen dem Zimmermädchen des Hotels, wo er die Nacht mit Lydia (Léna Skerla) verbracht hat, statt eines Trinkgelds seine Armbanduhr schenkt. Er braucht sie eh nicht mehr, er weiß, dass er Selbstmord begehen wird. Es sind diese kleinen Gesten, die große Filme machen.

Und natürlich die eleganten Klamotten. Den dunklen Anzug von Félix Marten oder den Regenmantel von Lino Ventura hätte man damals schon gerne gehabt. Natürlich ging man damals nicht nur wegen der Herrenmode und der Autos in französische Filme, obgleich das schon ein starker Anreiz war. Denn von der Mode und den Automobilen her gesehen gaben deutsche Filme wie Immer diese Radfahrer oder Wehe, wenn sie losgelassen (die gleichzeitig mit Fahrstuhl zum Schafott erschienen) ja nicht so viel her. Da boten französische Filme natürlich mehr; der Facel Vega, den Yves Montand in Aimez-Vous Brahms? fährt, war doch schon das Geld der Kinokarte wert. Ein Facel Vega war schon etwas Besonderes, es gab in Bremen einen einzigen, der immer am Osterdeich gegenüber vom Weserstadion stand. Es war übrigens auch ein Facel Vega, in dem Albert Camus zu Tode kam.

Film ist, mit schönen Frauen schöne Sachen anzufangen, hat Truffaut gesagt. Und in diesem Punkt hatte Fahrstuhl zum Schafott auch etwas zu bieten, denn dieser Film bedeutete für Jeanne Moreau den Durchbruch zum internationalen Star. Sie wird in diesem Film hervorragend in Szene gesetzt von dem Kameramann Henri Decaë. Der hat ja auch viele coole Jean-Pierre Melville Filme photographiert, das kann er nicht nur in Schwarzweiß, wie er zehn Jahre später in Der eiskalte Engel beweist. Die Photographie hat sicher viel dazu beigetragen, dass der Film den begehrten Prix Louis Delluc gewonnen hat.

Und last but not least hat dieser Film diesen wunderbaren Soundtrack, der Jazz Geschichte gemacht hat. Der Jazzfan Louis Malle hatte Miles Davis dazu überreden können, die Musik für den Film einzuspielen. Eine Studio Session, eine Nacht, völlig improvisiert: Was er machte, war einfach verblüffend. Er verwandelte den Film. Ich erinnere mich, wie er ohne Musik wirkte; als wir die Tonmischung fertig hatten und die Musik hinzufügten, schien der Film plötzlich brillant. Es war nicht so, dass die Musik (…) die Emotionen vertiefte, die die Bilder und der Dialog vermittelten. Sie wirkte kontrapunktisch, elegisch und irgendwie losgelöst. Das Album Ascenseur pour l’échafaud ist zu einer der berühmtesten Miles Davis Platten geworden.

Fahrstuhl zum Schafott ist ein Film, in dem alles stimmt: Darsteller, Photographie und Musik. Dazu die Reste des amerikanischen Film Noir, gewürzt mit einer Prise vom französischen Existentialismus. Die eleganten Klamotten und die Autos nicht zu vergessen. Setzen Sie sich vor den Bildschirm Ihres Computers, klicken Sie hier und zünden Sie sich eine Gauloise an.