Sie hätten Napoleons Armee ganz vernichten können, aber Russlands Generäle Wittgenstein und Tschitschagow sind wieder einmal unter einander zerstritten, und der cunctator Kutusow zögert wieder einmal. So entkommt Napoleon über die Beresina. Aber er lässt die Hälfte seines restlichen Heeres, das sich von Moskau bis hierhin geschleppt hat, in Russland zurück. Und dennoch bewundert man ihn, obgleich er immer seine Armee opfert, nicht sich selbst. In Ägypten hatte er schon das gleiche Spiel gespielt und den armen Kléber mit den Resten der Armee dem sicheren Tod geweiht. Sie fliehen nicht, ach wo, lässt Stendhal eine Romanfigur in der Kartause von Parma sagen. Und daneben steht eine süffisante Bemerkung über den Hang der Franzosen zur Lüge. Stendhal (damals noch Henri Beyle) weiß, worüber er redet. Er ist mit Napoleon in Russland gewesen. Und wenn er seinen jungen Helden auf dem Schlachtfeld von Waterloo herumirren lässt und der Krieg nichts Romantisches und Heroisches mehr hat, dann schreibt hier ein Mann, dem nach dem Russlandabenteuer die letzten Illusionen verlorengegangen sind. Stendhal war nicht bei Waterloo dabei, aber er schreibt hier alles hinein, was er von Wagram bis Moskau gesehen hat.
Sein Ruhm gleicht einer Rakete, die in die Höhe steigt, dort einen Augenblick durch ihren Glanz blendet und dann verschwindet, notiert der junge baltische Baron Boris (von) Uxkull, Offizier in russischen Diensten nach der Schlacht an der Beresina. Napoleon reist zwei Wochen später aus Warschau ab, nachdem er Murat das Kommando übergeben hat und alle seine Generale umarmt hat. Macht er im Zweifelsfall immer. Vorher hat er, wie der Gesandte Dominique Dufour de Pradt aufgezeichnet hat, eine Rede gehalten, die eine reine Größenwahnphantasie war. Klaus Theweleit hätte seine Freude daran gehabt. Mit 300.000 Mann wolle er aus Paris zurückkommen, in einem halben Jahr wolle er wieder am Njemen sein: Ha, ha, das ist ein großes politisches Schauspiel, wer nichts wagt, hat auch nichts. Am 6. November war ich noch Herr von Europa, am 14. war ich es nicht mehr, ich erkannte meine Armee nicht wieder. So grenzt das Erhabene ans Lächerliche. Nun ist dem Diplomaten (und Erzbischof) de Pradt nicht so ganz zu trauen, er ist auch Schriftsteller, und die übertreiben manchmal. Und er schreibt dies, nachdem ihn Napoleon seiner Ämter enthoben hat und er zum grössten Feind seines ehemaligen Kaisers geworden ist. Der junge Baron Uxkull hat in seinem Tagebuch, dem man nachträglich den Titel Armeen und Armouren gegeben hat, detaillierter bei der Beschreibung von Tod und Vernichtung an der Beresina: diese Scenen werden nie aus meinem Gedächtnis verschwinden, schreibt er. Da hat sie Napoleon in seinem Wagen auf dem Rückweg nach Paris wahrscheinlich schon vergessen und träumt von neuen Schlachten, die glücklicher für ihn ausgehen. Seinen Übergang über die Beresina sollen die Schweizergarden gesichert haben, mit ihrem heldenhaften Opfermut das Beresinalied singend:
Unser Leben gleicht der Reise
eines Wandrers in die Nacht.
Jeder hat auf seinem Gleise
Vieles, das ihm Kummer macht.
Nach dem Schweizer Selbstverständnis ist dieses Lied, das eine zweite Nationalhymne geworden ist, ein Symbol für den sich selbst verleugnenden Opfermut der Schweizer. Und so stehen dann die Soldaten des 1. Schweizerregiments, das Napoleon schon nach Korsika und Elba gefolgt war, am Ufer der Beresina und singen den ganzen Tag das Beresinalied. So wie in der Welt der Operette ein Soldat am Wolgastrand steht und immer wieder Hast Du dort droben vergessen auf mich singt. Sie singen es so lange, bis nur noch 300 von 1300 übrig sind. So, oder so ähnlich steht es in literarischen Machwerken, die nach dem Ereignis geschrieben wurden. 1999 hat der Schweizer Regisseur Daniel Schmid diesen ganzen Beresinakult mit seiner wunderbaren schwarzen Komödie Beresina, oder die letzten Tage der Schweiz lächerlich gemacht. Aber darüber konnten nicht viele Schweizer lachen.
Haben die Schweizer Soldaten damals das Beresinalied gesungen? Wir wissen, dass ein Schweizer Berufsoffizier, der Oberleutnant Thomas Legler, auf Bitten seines Kommandeurs am Tage der Schlacht beim Morgenappell die letzten vier Strophen eines Liedes gesungen hatte, das 1792 von Ludwig Gisecke geschrieben wurde und das Die Nachtreise hieß. Es war später von Friedrich Wilke vertont worden. Dies hat Thomas Legler in seinen Denkwürdigkeiten aus dem russischen Feldzug berichtet, die sein Sohn 1868 im Jahrbuch des Historischen Vereins des Kantons Glarus abdrucken ließ. Die Melodie, zu der patriotische Schweizer das Lied (das erst seit dem Ersten Weltkrieg Beresinalied heißt) singen, ist nicht die Melodie, die Legler gesungen hat. Die heutige Melodie wurde von dem deutschen Kirchenmusiker Johann Immanuel Müller komponiert. Der Leutnant Boris Uxkull führt nach dem Krieg das Leben eines reichen Adligen, er reist durch Europa, er hat überall Liebschaften. Aber er hat noch andere Seiten: er studiert Philosophie. Teile von Hegels Vorlesungen sind nur durch Uxkulls Nachschriften erhalten. Thomas Legler lernt nichts dazu, nach der endgültigen Niederlage Napoleons wird er sich als Berufsoffizier bei verschiedenen europäischen Armeen verdingen.
Caspar David Friedrich, dessen Bilder in der Zeit der Befreiungskriege ja häufig kleine Allegorien sind, hat zwei Jahre nach der Schlacht an der Beresina ein Bild gemalt, das Der Chasseur im Walde heißt. Ein Mann in grüner Uniform auf einem schneebedeckten Weg steht hier beinahe zögernd vor einem Waldeingang, das ganze Bild scheint nur aus Winterwald zu bestehen. Ein Chasseur sollte eigentlich ein chasseur-à-cheval sein, dieser ist definitiv sans cheval. Im Katalog der Bilder des Fürsten Malte von Putbus, der das Bild erwarb, findet sich folgende Eintragung: Das Bild wurde vom Meister gekauft, nachdem es auf einer Ausstellung in Dresden allgemeinen Beifall gefunden und vortheilhaft recensiert war. Es ist eine Winterlandschaft; der Reiter, dessen Pferd schon verlorenging, eilt dem Tod in die Arme, ein Rabe krächzt ihm das Todtenlied nach. Auch dies Bild ist, wie fast alle des Meisters, mystisch, schauerlich und trübe. Der Fichtenwald, soll, so Helmut Börsch-Supan (der sich auf der Jagd nach Symbolen nochmal den Hals bricht), das geschlossene Zusammenstehen der Patrioten bedeuten. Und der Schnee soll dann auch kein Todessymbol sein - an der Beresina haben es viele so gesehen - sondern die deutschen Zustände vor der Befreiung symbolisieren. Macht nicht soviel Sinn, aber Kunsthistoriker schreiben sowas gerne mal schnell dahin, kost'nix. Es sind solche Formulierungen, die die Geisteswissenschaften zu den Schwafelwissenschaften haben verkommen lassen.
Der Schnee spielt auch eine Rolle in Theodor Fontanes Roman aus der Franzosenzeit Vor dem Sturm. Lange Zeit ist der Romanerstling von der Literaturkritik nicht beachtet worden, inzwischen gönnt man ihm doch schon einen wirklichen Status im erzählerischen Werk Fontanes. Und der Roman ist wirklich gut, nicht nur wegen des Schnees und wegen skuriler Figuren wie Hoppenmarieken oder General Bamme. Wenn man den Roman vor dem Hintergrund von Krieg und Frieden liest (wo es zugegeben noch mehr Schnee und die Beresinaschlacht gibt), dann kann er durchaus gegenüber dem russischen Meisterwerk des historischen Romans bestehen. Tolstoi hat einmal gesagt, dass er vieles von seinen Schlachtbeschreibungen Stendhal verdankt: Ich bin Stendhal wie kaum irgendwem verpflichtet: ich verdanke ihm die Kenntnis des Krieges. Wer vor ihm hat den Krieg auf diese Weise geschildert, das heisst so, wie er wirklich ist? Alle Verfilmungen von Krieg und Frieden haben den Übergang über die Beresina ins Bild gesetzt, am opulententesten Sergei Bondartschuk 1968. Aber niemals singen die Schweizergarden.
Die russische Armee wird sich an ihren berühmten General, den Fürsten Bagration (der einzige, den Napoleon wirklich fürchtete) erinnern, wenn sie ihrer Sommeroffensive von 1944 den Namen Operation Bagration geben. Unweit der Beresina, in Minsk, wo der Generalquartiermeister Henri Beyle einen Wintermantel weggibt, ohne zu bedenken, dass seine Schwester darin Goldstücke eingenäht hat, werden sie die ganze vierte deutsche Armee vernichten.
Lesen Sie auch: Beresina 1812, Ney, Caulaincourt, Sir Archibald Alison, William Hazlitt, Briefwechsel, Ferdinand von Rayski
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