Da liegt er nun der Michel Ney. Marschall von Frankreich, Herzog von Elchingen, Fürst von der Moskwa. Ein halbes Jahr zuvor hatte er in der Schlacht von Waterloo die Engländer beinahe angebettelt, dass sie ihn erschießen mögen. Fünf Pferde haben sie unter ihm weggeschossen, ihn haben sie leben lassen. Erschießen tun ihn jetzt seine Landsleute, nachdem ihn die Pairskammer in der Nacht zum Tode wegen Hochverrat verurteilt hat. Den Feuerbefehl hat er heute vor 195 Jahren selbst gegeben: Soldaten, wenn ich den Feuerbefehl gebe, schießt auf mein Herz. Wartet auf den Befehl. Es wird der Letzte sein, den ich euch gebe. Ich protestiere gegen meine Verurteilung. Ich habe in hundert Schlachten für Frankreich gekämpft, aber nicht eine gegen es […] Soldaten schießt! Nach anderen Quellen hat der Kommandeur des Pelotons, der Major St. Bias, in die Rede von Ney hinein das Kommando Feu! gegeben.
Ney war nach Napoleons Niederlage bei Waterloo nicht zu den Bourbonen übergelaufen, war nicht außer Landes gegangen, hatte sich nicht versteckt. Offensichtlich galt die Amnestie, die Davoût (an den man sich in Hamburg wegen der Plünderungen ungern erinnert) Blücher und Wellington abgehandelt hatte, nicht für den Marschall Ney. Gnadengesuche an Wellington und den Zaren sind vergeblich, man hält sich persönlich bedeckt, das ist jetzt eine Sache der Franzosen. Auch sein ehemaliger Kriegskamerad Bernadotte, der jetzt Kronprinz von Schweden ist, rührt keinen Finger für ihn.
Der Einzige, der sich wie ein Ehrenmann verhält, ist der Marschall Bon-Adrien-Jeannot de Moncey, der nach dem Willen des Königs dem Kriegsgericht vorsitzen soll. Er weigert sich und schreibt dem König einen Brief, in dem er den Satz eines Vorfahren des Königs Tout est perdu, fors l'honneur zitiert. Und den König fragt, wie der denn als Richter den Helden von der Beresina in den Tod schicken soll, der so vielen französischen Soldaten das Leben gerettet hat. Moncey verliert seine Pairswürde und landet im Gefängnis. In wetterwendischen Zeiten wie diesen lohnt es sich nicht, ehrlich und anständig zu sein. Leute wie Marmont, Herzog von Ragusa, der seinen Kaiser verraten hatte, sind jetzt obenauf. Er hat der französischen Sprache das Verb raguser für verraten hinterlassen.
Vor Michel Ney sind in dem terreur blanche schon andere Marschälle und Generäle umgekommen. Berthier war unter ungeklärten Umständen in Bamberg aus dem Fenster gefallen. Brune wurde in Avignon von einem royalistischen Mob aus der Kutsche gezerrt, zu Tode getrampelt und in die Rhône geworfen worden. Jean-Piere Ramel wurde in Toulouse ermordet. Joachim Murat, der König von Neapel, wurde in Kalabrien standrechtlich erschossen. Ebenso wird der General Charles Angélique François Huchet de La Bédoyère im August in Paris erschossen. Marschall Soult kann nach einer Warnung durch den englischen General Robert Wilson in das Herzogtum Berg entkommen, da wo einst Napoleons Schwager Murat Großherzog von Berg war. Obgleich Wilson in Spanien gegen Soult gekämpft hat, fände er es jetzt nicht gentlemanlike, seinen einstigen Gegner der Rachsucht der Bourbonen ausgeliefert sein zu lassen. Dem Comte Lavalette gelingt eine Nacht vor seiner Hinrichtung die Flucht in den Kleidern seiner Frau. Über England gelangt er zu seinem Schwiegervater Maximilian Joseph von Bayern. Seine Frau, die mit ihm die Kleider getauscht hat, behält man aber noch ein Jahr im Gefängnis. Als Lavalette 1820 nach Frankreich zurückkehren darf, ist seine Emilie wahnsinnig geworden und erkennt ihn nicht mehr.
Das Bild von der Erschießung des Marschall Ney im Jardin de Luxembourg stammt von dem französischen Maler Jean-Léon Gérôme. Der war zum Zeitpunkt des Ereignisses noch gar nicht geboren. Sein Bild ist nicht so spektakulär wie die Szene, die Goya malt oder voll von einer eingefrorenen, stillen Dramatik wie Manets Bild von der Erschießung Kaiser Maximilians. Obgleich es im gleichen Jahr gemalt ist, wie Manets Bild, ist es doch stilistisch völlig anders. Gérôme sieht sich in seinem Bild mit dem Titel 7. Dezember 1815, neun Uhr morgens - Die Hinrichtung des Marschall Ney einem Realismus verpflichtet, der die historischen Details sorgfältig rekonstruiert. Und er ist von der Komposition seiner Bilder besessen. Als ihn ein Bekannter in seinem Studio fragt, ob er an dem Bild, das er gerade malt, immer noch an der Komposition arbeitet, antwortet er: Oui, il n'y a que ça. Es gibt für ihn nichts anderes. Und so ist auch dieses Bild sorgfältig durchkomponiert. Eine beinahe photographisch wiedergegebene Szene. Gérôme wird das Aufkommen der Photographie als Kunstform begrüßen, die Impressionisten sind für ihn Vaterlandsverräter. Wir werden als Betrachter zu Augenzeugen: der trübe Dezembermorgen (das Gaslicht in der Straßenlaterne brennt noch), das abrückende Peloton, der Offizier (wahrscheinlich Major St. Bias), der sich noch einmal umdreht und der tote Marschall auf dem Erdboden. Sein Zylinder scheint noch in der Bewegung zu sein. Und dann ist da bildbeherrschend diese lange Mauer. In der wir, wenn wir genau hinschauen (und wenn ich eine bessere Abbildung hätte), sechs Einschusslöcher erkennen können. Die Spuren der Kugeln, die den Marschall nicht getroffen haben - so können wir rekonstruieren, wo er gestanden haben muss. In diesem Punkte ist Gérômes Bild historisch nicht korrekt, es dürften nicht soviel Kugeln in der Mauer sein. Die meisten Soldaten haben ihr Ziel getroffen. Nur eine Kugel riss den Putz aus der Mauer.
Ob aber wirklich der Graffito Vive l'Empereur an der Mauer des Observatoriums gewesen ist, das mag bezweifelt werden. Diese Schrift ist verwischt und von diagonalen Strichen beinahe unkenntlich gemacht, hebt aber rechts davon noch einmal mit einem Vive an. Warum diese lange Mauer im Bild? Sie hat durchaus ihre Bedeutung, und diese Bedeutung wird durch die kaum leserlichen Graffiti angedeutet. Denn wenn das Bild den Augenblick nach der Erschießung Neys zeigt - und das so, als ob dies etwas gerade eben Geschehenes ist - verweisen das Vive l'Empereur und das zusätzliche Vive in die Zukunft. Kurz nach dem Tod Neys wird diese Mauer zu einer Art Schreibtafel für den Hass auf die Bourbonen. Die Stadtverwaltung muss die politischen Graffiti immer wieder übertünchen und die Mauer neu verputzen lassen, aber die Getreuen ließen sich nicht entmutigen (schreibt Neys Biograph Jean Lucas-Dubreton).
Als das Bild mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Tod Neys im Pariser Salon gezeigt wird, ist das Menetekel auf der Mauer immer noch ein Politikum. Der Kritiker Théophile Gautier (der Gérôme bewundert) wird von einer blutenden Wunde der Geschichte sprechen (dem Sujet fehlt noch der Abstand zur Vergangenheit, es zuckt und blutet noch sozusagen). Die Ausstellungsleitung hatte im Vorfeld versucht, den Maler davon abzubringen sein Bild im Salon auszustellen, vergeblich. Man verbannte es in einen kleinen Nebenraum. Es half nichts. Die Besucher konnten die Botschaft lesen, so wie die Graffiti an der Mauer des Observatoriums nicht zu übertünchen waren.
Die Betrachter verstanden damals auch ein zweites Element des Bildes als Kritik im Umgang mit dem Mann, den Napoleon als le brave des braves bezeichnet hatte. Warum lässt man den Toten so auf der Erde liegen? Die Antwort liegt in einem französischen Gesetz der Zeit, wonach jeder hingerichtete Kriminelle fünfzehn Minuten an der Stelle seines Todes zu liegen habe, bevor man ihn fortschaffen kann. Man behandelt den Marschall Ney, den Herzog von Elchingen und Fürsten von der Moskwa wie einen gewöhnlichen Kriminellen. Das ist ein zusätzlicher Tort, den man ihm antut. Man möchte zynisch sagen, dass er ja noch glücklich sein kann, dass man ihn nicht zur Guillotine geschleppt hat. Dafür hatte ein gewisser Graf Lynch gestimmt. Der war erst seit kurzem vom Bourbonenkönig geadelt, weil er die Stadt Bordeaux 1814 kampflos übergeben hatte. Der britische General William Beresford hat den Opportunisten sehr kühl behandelt. Dass man ihn überhaupt noch kennt, verdankt er Victor Hugo, der ihn in Les Misérables hineingeschrieben hat.
Aber so genau das Bild von Gérôme zu sein scheint, es gibt nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit wieder. In Wirklichkeit war der Ort nicht so verlassen an diesem Dezembermorgen, als der Schnee in Regen übergegangen war. Zum einen gibt es wesentlich mehr Truppen (und Polizei), auch Generäle zu Pferde, auch ein Geistlicher ist anwesend. Und Zuschauer, die von der Polizei zurückgehalten werden. Unter ihnen ein russischer General zu Pferde. Als der Zar davon hört, wird er ihn aus der Liste der russischen Armee streichen lassen. Aber die meisten Zuschauer sind nicht im Jardin du Luxembourg, sie warten an der Barrière de Grenelles auf die Hinrichtung. Da hatte man drei Monate zuvor den General La Bédoyère erschossen. Und seit 1797 jeden Feind des jeweiligen Regimes. Hier hat Napoleon Chateaubriands Cousin Armand füsilieren lassen, und Ney glaubt bis zu diesem Morgen auch, dass er dort sterben wird. Aber dann gibt es eine Änderung des Plans. Man will die vielen Zuschauer vermeiden, und Palais und Park sind seit Tagen von der Polizei abgesperrt. Die einfachste Lösung ist es, ihn gleich im Garten des Palastes zu erschießen, in dem man sechzehn Stunden getagt hat.
Morgens um zwei waren die Pairs von Frankreich mit dem Unterzeichnen des Urteils fertig. Als letzter unterschrieb der Graf Lynch. Für die Herren hatte es noch ein kaltes Büfett gegeben, die Geschichte, dass sie nach dem Urteil ein rauschendes Fest gefeiert hätten, ist wohl nicht wahr. Obgleich vielen der frischgebackenen Bourbonenanhängern vielleicht danach war. Um drei Uhr in der bitterkalten Nacht hat man Ney das Urteil verlesen. Kalte Nächte kümmern ihn nicht. Wenn man die Beresina hinter sich hat, ist man anderes gewohnt. Er sitzt vor dem Kamin und verbrennt Unterlagen, seine finanziellen Verhältnisse hat er mit seinem Anwalt geregelt. Er wird noch zwei Stunden schlafen. Dann kleidet er sich um. Er zieht einen dunkelblauen Gehrock an, schwarze Reithosen und Seidenstrümpfe. Ab sechs Uhr darf er noch Besuch von seiner Familie empfangen. Der Abbé de St. Pierre (nicht der gleichnamiger Philosoph, aber ein grundehrlicher Mann) verspricht ihm, bis zu seinem Ende bei ihm zu sein. Das kommt, wie der Bildtitel von Gérôme sagt, neun Uhr morgens. Um drei Uhr das Urteil vorgelesen, um neun Uhr tot. Das geht jetzt eben so schnell wie in den Tagen Robespierres.
Aber kein Tod ohne Verschwörungstheorien. In Wirklichkeit ist Ney gar nicht tot, liegt nicht auf dem Friedhof Père Lachaise begraben. Alles ist nur eine Inszenierung. Denn warum fällt er im Kugelhagel nach vorn und nicht nach hinten? Im Januar 1816 taucht er ja bekanntlich als Peter Stuart Ney in Charleston, South Carolina auf. Rosenkreuzer und Freimaurer (es sind ja immer die usual suspects) haben ihn gerettet. Französische Emigranten erkennen ihn, er zieht weiter. Wird Dorfschullehrer auf dem Lande in North Carolina. Als er von Napoleons Tod hört, versucht er, sich das Leben und nehmen. Und so weiter, und so fort. Und auf dem Sterbebett sagt der 77-jährige seinem Arzt: I will not die with a lie on my lips. By all that is holy, I am Marshal Ney of France. So nachzulesen bei James A. Weston in seinen Historic Doubts as to the Execution of Marshal Ney (1895) Verschwörungstheorien kommen immer wie seriöse historische Forschung daher, es gibt natürlich immer Zeugen (die man leider gerade nicht befragen kann). Und im Zweifelsfall steckt natürlich Talleyrand dahinter. Der war ja auch Freimaurer.
So wie der Kürassier auf dem Bild von Gericault wäre der rothaarige Feuerkopf wahrscheinlich lieber gestorben, der Tapferste der Tapferen. Aber ein solches Bild will Gérôme nicht malen. Er will ein halbes Jahrhundert nach der Erschießung durch seinen kalten Realismus Schmach und Schande des Vorgangs betonen. Und das gelingt ihm mit diesem erstaunlichen Bild sicherlich. Ich möchte bei all dem nicht den Eindruck erwecken, dass Gérôme ein großer Maler ist. Das ist er nicht, er ist malerisch nicht auf dem Niveau, auf dem sich Goya und Manet befinden. Er hat auch das Motiv des auf dem Boden liegenden toten Helden nicht erfunden. Das hatte schon Jahrhunderte vorher Vélazquez getan (den Manet mit seinem L'Homme Mort ziemlich schamlos kopiert hat).
Aber indem er den Leichnam umdreht, nimmt er ihm alles Heroische, das der Krieger bei Vélazquez noch hat. Wenn man die Schrift an der Wand als eine zu aufdringliche Symbolik bei Gérôme kritisiert (Manet hat es nicht nötig, auf seiner mexikanischen Mauer noch irgendwelche Botschaften unterzubringen), müsste man natürlich auch den Totenkopf als Vanitas-Symbol bei Vélazquez als eine unnötige Zutat kritisieren.
Wenige Jahre nach Gérôme Bild von der Hinrichtung des Marschall Ney malt Jean Paul Laurens ein Bild von der Erschießung des Herzogs von Enghien. Auch in einem Scheinprozess in der Nacht verurteilt und in der Dämmerung erschossen. Politische Bilder aus der napoleonischen Zeit scheinen jetzt Konjunktur zu haben, vielleicht ist Laurens mit seiner atmosphärisch aufgeladenen Szene auch nur ein Trittbrettfahrer eines Trends der französischen Historienmalerei. Benjamin West hatte mit seinem Tod des General Wolfe die französische Historienmalerei auf die Idee gebracht, Tagesereignisse zu malen (obgleich immer noch genügend antike Szenen gemalt werden). Doch jetzt sind die heroischen Zeiten der Begeisterung für Napoleon vorbei.
Ein solches Bild wird jetzt niemand mehr malen. Und es gibt auch keinen größeren Gegensatz als dieses Bild von David (an dem alles, aber auch alles historisch falsch ist) und Gérômes 7. Dezember 1815, neun Uhr morgens - Die Hinrichtung des Marschall Ney. So historisch falsch Davids Bild ist (Napoleon ritt mit der Nachhut auf einem Maulesel über die Alpen), so sehr hätte es doch Sir Joshua Reynolds gefallen, der in seinen Discourses den grand style der Historienmalerei definierte: The great end of the art is to strike the imagination. The painter is, therefore, to make no ostentation of the means by which this is done; the spectator is only to feel the result in his bosom. An inferior artist is unwilling that any part of his industry should be lost upon the spectator. He takes as much pains to discover, as the greater artist does to conceal, the marks of his subordinate assiduity. In works of the lower kind everything appears studied and encumbered; it is all boastful art and open affectation. The ignorant often part from such pictures with wonder in their mouths, and indifference in their hearts. But it is not enough in invention that the artist should restrain and keep under all the inferior parts of his subject; he must sometimes deviate from vulgar and strict historical truth in pursuing the grandeur of his design.
Und genau das tut Gérôme nicht. Und dafür sollten wir ihm dankbar sein.
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